Kapitel 35

2.5K 102 25
                                    

In meinen Gedanken versunken, saß ich am Frühstückstisch und rührte nichts an, denn ich empfand keinen Appetit. Nebenbei wanderte mein nachdenklicher Blick zu Jack, der ebenso gezwungenermaßen an dem Esstisch saß und rein gar nichts anrührte. Mit seiner Kabel erstach er die Gurkenscheiben vor sich und schaute unzufrieden aus. Eine Anspannung lag in der Luft, doch wegen Tante Amber mussten wir hier sitzen, denn es reichte ihr wie wir uns verhielten.

Was sollten wir aber tun? Es waren nämlich sechs Monate vergangen und seit dieser letzten Nachricht war nichts mehr geschehen. Wir wussten alle nicht wie wir damit umgehen mussten und lebten nun mit der Angst, das jeden Moment etwas passierte könnte, was einen natürlich beinahe wahnsinnig machte.

Diese Situation fühlte sich so an, als ob ich mir nur alles eingebildet hätte und manchmal fragte ich mich wirklich, ob ich nicht doch den Verstand verloren hatte. Das alles war nicht normal, aber wir alle taten so, als wäre nichts und machten weiter. Niemand verlor mehr ein Wort darüber und das Schweigen hatte uns alle gefangen genommen. Wir spielten uns gegenseitig etwas vor, obwohl die Unruhe in jedem herrschte, die nicht verschwinden wollte.

Mein müder Blick richtete sich auf die Wand, wo ein Kalender hing und als ich das Datum darauf erkannte, wurde mir augenblicklich unwohl.

Daher griff ich nach meinem Handy und wollte Liam anrufen, jedoch zögerte ich. Etwas nervös starrte ich auf den Bildschirm und begann letztendlich den Kopf zu schütteln. Entschlossen packte ich es weg und stand vom Tisch auf.

"Wohin willst du Aria?", ertönte die Stimme meiner Tante, die gerade in den Raum reinkam.

"Zu Liam", antwortete ich.

"Hast du etwas gegessen?", wollte sie daraufhin wissen und ich schwieg bei ihrer Frage.

"Du wirst zuerst essen und von mir aus kannst du dann zu ihm gehen", bestimmte sie und deutete mir mich wieder auf meinen Platz zu setzen.

"Ich habe keinen Hunger", meinte ich.

"Du hast keinen Hunger. Jack hat keinen Hunger. Ihr beide isst nichts mehr!", wurde sie lauter.

"Zwingen bringt auch nichts", murmelte Jack, dabei waren seine Augen auf den Teller gerichtet.

"Jack ich bin deine Mutter und mache mir Sorgen! Seit Monaten muss ich euch dazu zwingen, dass ihr einigermaßen etwas runterbekommt und seit Monaten redet ihr noch kaum. Ich habe Angst und weiß nicht, was ich tun muss", wurde sie immer verzweifelter und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Die Miene vom Lockenkopf änderte sich schlagartig und es strahlte Besorgnis für seine Mutter aus. Bei ihrem Anblick wurde ich genauso weicher, denn ich bemerkte erst jetzt wie fertig sie ausschaute und sich so sehr bemüht hatte, nur das es uns gut ging. Wir hatten sie kaum wahrgenommen und damit einen großen Fehler gemacht. Jack und ich waren so mit uns selbst beschäftigt, dass wir meine Tante vergessen hatten, sodass sie für uns und sich selbst kämpfen musste, denn sie war nun alleine.

In diesem Bild fehlte nämlich meine Oma, die es immer schaffte die Familie zusammenzuhalten. Wahrscheinlich wäre sie enttäuscht von uns, wenn sie uns gerade von irgendwo beobachten konnte.

"Es tut uns Leid", kam es leise über meine Lippen, dabei näherte ich mich zu ihr und umarmte sie.

"Ihr habt noch immer Angst, nicht wahr?", fragte sie nach, worauf ich mich von ihr löste.

Zuerst wollten wir es nicht bei ihr erwähnen, da sie sich noch mehr Sorgen machen würde, aber sie hatte uns regelrecht dazu gezwungen und ließ uns keine andere Wahl. Sie wusste über alles Bescheid und bestand darauf mit uns zur Polizei zu gehen, damit sie endlich etwas dagegen unternahmen, doch es hatte nicht viel gebracht.

Von Anfang an waren wir schon bei der Polizei gewesen, als diese Nachricht am Spiegel erschien. Wir hatten ihnen den Rest der Geschehnisse erzählt, aber entweder kam es ihnen nicht glaubhaft rüber oder sie konnten ebenso nicht dieses Rätsel lösen.

Somit war der Fall irgendwie abgeschlossen, da Monatelang nichts mehr passiert war und sie keine weiteren Fortschritte erlangen konnten.

"Es ist vorbei", sagte sie.

Am liebsten hätte ich geantwortet, dass nichts vorbei wäre und dieser Alptraum weiterging, jedoch schwieg ich und wollte nicht darüber reden. Jack erwiderte zu der Aussage seiner Mutter ebenfalls nichts und bevorzugte die Stille lieber, denn so fühlte es sich irgendwie einfacher für uns an, obwohl es eigentlich nicht so war.

Meine Augen richtete ich wieder auf meine Tante und rang mir ein kleines Lächeln auf die Lippen, was sie schwach zurück entgegnete.

Somit verließ ich stumm den Raum und zog mir in Ruhe meine Schuhe im Flur an, um anschließend das Haus zu verlassen und zu den Black's rüberzugehen, wo nur Liam sein Auto auf der Auffahrt stand. Levin war nämlich mit meiner Schwester für ein paar Tage weggefahren. Ich wusste nicht, wo sie sich befanden, aber sie wollten sich von all dem ein wenig erholen.

Vor der Tür blieb ich stehen und klingelte bis nach wenigen Sekunden mein Freund vor mir stand, der mich durch seinen kristallblauen Augen ansah.

"Hey", begrüßte ich ihn.

"Komm rein", meinte er schließlich und machte mir ein wenig Platz, sodass ich vorbei konnte.

Zusammen setzten wir uns ins Wohnzimmer und niemand sagte ein Wort, als ob wir untereinander ausgemacht hätten nicht zu sprechen. Diese Stille zwischen uns machte mich nur noch nervöser.

Ich senkte etwas meinen Kopf und starrte für einen Augenblick einfach meine Hände an bis ich erneut den Blick hob, nur um ihn anzusehen. Seine Augen schauten gedankenverloren zur Uhr an der Wand, dabei bewegte er sich kaum. Daher griff ich langsam nach seiner Hand, worauf er kurz zusammenzuckte, da er sich durch meine plötzliche Berührung ein wenig erschrocken hatte. Damit lag nun seine Aufmerksamkeit auf mir und schon an meiner Miene bemerkte er direkt, an was ich wohl gerade dachte.

"Es sind sechs Monate vergangen", begann ich, wobei dieser sich auf einmal anspannte.

"Wir müssen jetzt besser aufpassen", erwiderte er daraufhin und blickte ins Leere.

"Wir wissen beide, dass er mir nichts antun wird", erinnerte ich ihn, weswegen er zu mir sah.

"Trotzdem ist er eine Gefahr", erklärte er.

Mit Gefahr meinte er seinen ehemaligen besten Freund, denn heute war der Tag, an dem Ace vom Gefängnis entlassen wurde und nun frei war.

Der VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt