Kapitel 61

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Länger verweilte ich nicht an den Treppen und rannte nach draußen. Ich sah mich nach Liam um, den ich vor seiner Haustür fand. Mit aufgerissenen Augen starrte er zum brennenden Anwesen und schien so, als ob er nicht wüsste, was er tun sollte, bis er plötzlich laut nach seinem Bruder schrie. Das ließ mich aus meiner eigenen Starre erwachen und ich lief auf ihn zu. Einige Nachbarn versammelten sich, um das Geschehen und blickten erschrocken zum Feuer. Sie waren mir im Weg, weshalb ich mich an ihnen vorbei drängelte, damit ich meinen Freund erreichte. Einer von ihnen tat etwas Hilfreiches, indem er die Feuerwehr anrief. Wenigstens schaffte es jetzt jemand einen klaren Gedanken zu behalten.

Mein Blick wanderte wieder zu Liam, der panisch da stand und so ausschaute, als ob er jeden Moment durchdrehte. Von Levin kam nämlich noch immer keine Antwort oder gar ein Lebenszeichen. Mein Freund schüttelte fassungslos den Kopf und konnte nicht realisieren, dass das gerade wirklich geschah.

"Levin!", brüllte er ein weiteres Mal, aber nichts kam zurück und Liam verlor fast den Verstand neben mir.

Verzweifelt stand ich neben ihm, da ich nichts für ihn tun konnte. Innerlich hoffte ich, dass es Levin gut ging und er vielleicht nicht im Haus steckte. Diese Möglichkeit zerplatzte, als ein Husten vom Inneren ertönte. Der Schwarzhaarige wurde auch darauf aufmerksam, denn er näherte sich zur Tür und blickte hinein. Zuerst erkannte man nichts, da nichts zu sehen war, aber das Husten wurde stärker, weshalb ich genauer hinsah und durch die Flammen eine Gestalt entdeckte. An der Treppe.

Er versuchte die Stufen runter zu gehen, doch der Rauch nahm ihm die Kraft. Im selben Augenblick verlor er das Gleichgewicht und fiel Treppe runter. Erschrocken riss ich die Augen auf, denn er hätte ebenso in die Flammen hineinfallen können, aber zum Glück hatte er sie verfehlt und lag hilflos da.

Liam blieb keine Sekunde länger stehen und rannte ins Haus. Ängstlich und entgeistert schrie ich ihm nach und blieb neben der Tür stehen, um ihn zu beobachten. Die Kommode brannte im Flur, sowie der Bilderrahmen und die Dekorationen darauf. Das Feuer ragte sogar in meine Nähe und breitete sich zum Garderobenständer aus. Es wurde von den Flammen verschluckt, bis es umfiel und somit den Weg nach draußen versperrte. Panisch schüttelte ich den Kopf und versuchte zu ihnen zu blicken. Mein Freund warf gerade seinen Bruder über seine Schulter und wollte zurückkommen, doch es war zu spät. Planlos blieb er mitten im Gang stehen und schaute kurz in meine Augen, bis mir etwas einfiel.

"Die Küche! Von der Gartentür raus!", schrie ich ihm zu und sofort eilte er, worauf ich zum Garten rannte.

Mit seinem Bruder schaffte er aus dem brennenden Haus und legte ihn vorsichtig ins Gras. Levin seine Augenlieder waren geschlossen und er bewegte sich nicht, was mir auf einer Weise Angst machte. Liam ebenfalls, denn er sprach zu ihm und schlug ihm leicht gegen die Wangen, damit er zu sich kam, aber wir erhielten keine Reaktion von ihm zurück. Daher fühlte sein kleiner Bruder nach der Pulsader und ich hielt angespannt die Luft neben ihnen an.

Liam schloss seine Augen und atmete erleichtert aus, bis er am Ende glücklich auflachte, weil er noch bei uns war. Levin atmete noch. Bei seinem Anblick lächelte ich leicht und war selbst beruhigt.

"So einfach ist das nicht", murmelte er.

"Das ist gar nichts", redete er weiter und blickte zu seinem Bruder hinunter, der bewusstlos vor ihm lag.

"Wir haben Schlimmeres überstanden, Bruder. Das ist nichts. Niemand kann uns trennen", flüsterte er.

"Niemand kann dich mir wegnehmen", sagte er am Ende verzweifelt, da ihn die Angst seinen Bruder zu verlieren wortwörtlich wahnsinnig gemacht hatte.

In der nächsten Minute hörten wir die Feuerwehr und den Krankenwagen. Die Nachbarn zeigten in unsere Richtung, worauf zwei Sanitäter auf uns zu kamen. Sie nahmen Levin von Liam und brachten ihn schleunigst in den Wagen hinein. Wir liefen ihnen etwas benommen von der Situation hinterher. Sofort fuhren sie zum Krankenhaus los, worauf wir beide in Levin's Auto einstiegen, da seiner direkt in der Einfahrt stand. Die Nachbarn gingen auf die Seite, sodass Liam raus fahren konnte. Nebenbei nahm ich mein Handy raus und wollte Katy anrufen, aber ich traute mich zuerst nicht. Wie erklärte man sowas? Deshalb entschied ich mich dagegen und wartete, bis wir erfuhren, dass es Levin gut ging.

Bei der Fahrt wurde mir etwas bewusst, weshalb ich vor mich erstarrte und regungslos sitzen blieb. Das Feuer. Mein Puls beschleunigte sich und ich krallte meine rechte Hand, um die Kette an meinem Hals. Ein Satz ging mir durch den Kopf, der mich innerlich zerfraß und komplett zum Schweigen veranlasste.

Diesmal werde ich gewinnen.

"Nein", murmelte ich fassungslos.

Diesmal werde ich gewinnen.

"Was?", wurde Liam auf mich aufmerksam.

Diesmal werde ich gewinnen.

"N-Nein", flüsterte ich erneut und wollte diese vier Wörter aus meinem Kopf verdrängen, aber es gelang mir nicht und es wiederholte sich ständig.

"Aria was ist los?", fragte er verwirrt.

"Er war es", sagte ich starr.

"Liam er war es. E-Er war es. Er war es", redete ich mit mir selbst, vorbei dieser immer verwirrter wurde.

"Aria was redest du da? Bitte, beruhige dich und sag mir was los ist", verlangte er verzweifelt von mir.

"Aria?", hakte er besorgt nach.

Wie aus einer Trance erwacht, blickte ich zu ihm und schwieg. Er warf mir einen fraglichen Blick zu und erwartete ein Antwort, jedoch kam kein Ton über meine Lippen. Ich schüttelte den Kopf über mich selbst und versuchte mich zu beruhigen. Ich durfte jetzt nicht zusammenfallen, sonst würde es schlimmer werden, obwohl es längst zerstört war.

Ich schaute geradeaus zur Straße und bemerkte erst jetzt, dass wir uns an einem Waldweg befanden und es mittlerweile dunkel war. Darüber runzelte ich die Stirn und sah zu ihm rüber. Er blieb auch still.

"Warum fährst du von hier?", wollte ich wissen.

"Abkürzung", antwortete er und wirkte wütend.

"D-Der Brand...es hat mich erschrocken, deshalb-", wollte ich ihm erklären, doch er unterbrach mich.

"Ich verkrafte jetzt nicht eine Lüge von dir zu hören und darum streiten wir später darüber", befahl er.

"Kannst du wenigstens etwas langsamer fahren?", fragte ich, da er mit hoher Geschwindigkeit fuhr.

Als wir noch immer nicht langsam wurden, sondern sogar schneller schaute ich zu Liam dessen Augen auf die Straße gerichtet waren. Seine Augenbrauen hatte er zusammengezogen und dabei krallte er auf einmal seine Hände fest ans Lenkrad. Irgendwas stimmte mit ihm nicht, denn er sah plötzlich blass im Gesicht aus, was mich noch mehr beunruhigte und die Schnelligkeit machte es nicht wirklich besser.

"Liam fahr endlich langsamer", verlangte ich.

"Ich kann nicht", meinte er.

"Wie du kannst du nicht?", hakte ich nach.

"Aria", begann er und machte mir Angst.

"Die Bremsen funktionieren nicht", erklärte er und ich starrte ihn stumm an, bis ich ungläubig lachte.

"Wie die Bremsen funktionieren nicht?!", schrie ich am Ende fassungslos über seine Erklärung auf.

"Ich weiß es nicht!", sagte er angespannt.

"Liam-", wollte ich weiter reden, aber verstummte, als ein anderes Auto direkt in unsere Richtung kam.

"Liam pass auf!", rief ich erschrocken.

Er drückte immer wieder auf die Hupe, damit der fremde Wagen auf die Seite fuhr, aber es reagierte nicht darauf und schließlich war es doch zu spät.

"Liam!", war das letzte, was ich schrie, bevor wir in das Auto hineinfuhren und ich bewusstlos wurde.

Der VerstandWhere stories live. Discover now