Kapitel 3

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Ich löste mich langsam von Liam, dabei legte ich vorsichtig meine Hand an seine Wange. Sofort schmiegte er sich dagegen und blickte mir tief in die Augen. Gedankenverloren schaute ich sie für einige Sekunden an bis ich meine Stirn gegen seine lehnte und somit mein Herz schneller zum Schlagen begann.

"Ich verdiene dich gar nicht", murmelte er und ich konnte die Verzweiflung aus seiner Stimme heraushören.

Mit der Zeit wurde mir bewusst, dass er niemals aufhören würde sich für den Tod meines Vaters zu beschuldigen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, das ich alles verschlimmerte, denn ich erinnerte Liam an ihn. Mich von ihm deshalb fern zu halten, konnte ich nicht. Ich wusste nicht, ob man das als egoistisch bezeichnete, aber es würde keinen Sinn ergeben, denn er war in meinen Augen kein Schuldiger. Das sagte ich nicht, weil ich ihn liebte, sondern weil es die Wahrheit war.

Liam besaß nämlich ein Herz und zwar ein wunderschönes.

Mit Worten konnte ich ihn nicht erklären, denn ich war noch nie einen solchen besonderen Jungen begegnet. Für mich war er perfekt, doch für alle anderen war er gefährlich, schlecht, bösartig, kaltherzig und vieles mehr. Man konnte einen Menschen mit vielen Worten beschreiben und höchstwahrscheinlich hätte ein Fremder ihn allein eines Blickes negativ eingeschätzt. Von Anfang an konnte ich aber nichts genaues über ihn sagen, denn ich versuchte ihn kennenzulernen. Nicht sein äußeres machte mich neugierig, sondern sein inneres interessierte mich.

Aria Evans hatte sich nicht in Liam Black, dem gefürchtetsten Jungen der Schule verliebt. Aria hatte sich in den kleinen verletzlichen Jungen, der in Liam tief versteckt war, verliebt.

"Ich verdiene dich gar nicht", wiederholte ich seine Worte, wofür er mich leicht verwirrt anschaute.

"Verstehst du jetzt wie komisch für mich dieser Satz klingt, wenn du es mir sagst", fragte ich und er schwieg.

"Liam", begann ich, doch im selben Augenblick begann die Haustür zu klingeln.

"Ist Levin nicht in der Arbeit?", wollte ich wissen.

"Ja, außerdem klingelt er nie, weil er immer seine Schlüssel mitnimmt. Vielleicht sind es die Jungs", antwortete er nachdenklich und verließ somit den Raum.

Derweil ließ ich mich auf den leeren Stuhl fallen, wo er vorher saß. Meine Augen wanderten zur Zeichnung und es fehlte noch die andere Hälfte der Engelsflügel. Ich legte den Kopf leicht schief und beobachtete jede einzelne Linie genauestens, dabei musste ich an seine Mutter denken. Automatisch fasste ich mir an meine Halskette, die mir Liam geschenkt hatte. Noch immer nahm ich es nie runter, denn es war wie ein Teil von mir geworden.

Manchmal wünschte ich mir, dass sie noch am Leben wäre, denn ich hätte sie gerne kennengelernt. Liam sprach nie über seine Mutter, aber eigentlich gab es nicht viel zu erzählen, denn das letzte Mal als er sie gesehen hatte, war er fünf gewesen und da hing sie von einer Decke runter.

Bei diesem Gedanken bekam ich ein schmerzhaftes Gefühl, was ich ausblenden wollte, aber irgendwie funktionierte es nicht. Wie konnte er nur damit leben? Er war noch ein kleiner Junge, als sich seine Mutter vor seinen Augen umbrachte. Allein diese Vorstellung brachte mein Herz beinahe zum Stehen, denn das war viel zu viel. Liam verdiente sowas nicht. Diese Last war zu groß auf seinen Schultern und am liebsten würde ich ihm all das abnehmen, aber er ließ es nicht zu und sperrte es in sich hinein.

"Verschwinde!", hörte ich plötzlich Liam von unten schreien, worauf ich keine Sekunde länger wartete und die Treppen nach unten rannte.

Wie ich es mir schon denken konnte, stand sein Vater an der Tür und diesmal war er ganz alleine gekommen. Seitdem Vorfall mit Ace, der Liam verletzt hatte, war Mr Black nicht mehr zu sehen. Er war nicht einmal mit Rose aufgetaucht, weshalb Levin jedesmal sie abholen gefahren war.

"Worauf wartest du denn noch?! Du sollst gehen!", wiederholte sich Liam und ich hatte Angst, das er die Kontrolle verlieren würde.

Sein Vater bewegte sich nicht von der Stelle und starrte seinen Sohn schweigend an, der bald seine Geduld verlieren würde. Somit näherte ich mich an Liam und blieb mit einem geringen Abstand von ihm entfernt, dabei bemerkte mich Mr Black. Zum ersten Mal konnte ich ihn mir genauer und von nahen anschauen. Jetzt fiel mir sogar etwas auf, was mir vorher gar nicht ins Auge stach.

Liam war wie die Kopie seines Vaters.

Vom Aussehen her waren sie sich exakt ähnlich, aber Mr Black schaute natürlich viel älter aus. Diese schwarzen Haare, wobei sein Vater schon einige graue Strähnen besaß. Diese Augen, die Liam genau von seinem Vater geerbt hatte, waren komplett gleich. Diesen eisigen Blick hatten sie beide drauf, wie die beängstigende Ausstrahlung. Einige Muttermale waren noch im Gesicht vom älteren Black zu erkennen, die bei Liam kaum zu übersehen waren. Allein die Haltung von den beiden war gleich und da konnte niemand etwas anderes behaupten. Von außen sahen sie wie Vater und Sohn aus, jedoch herrschte nicht in der Luft solch eine Verbindung zueinander.

"Aria, nicht wahr?", fragte er nun an mich gerichtet, dabei klang seine Stimme so sanft und ruhig, was mich verwunderte, aber irgendwie auch verunsicherte.

"Bleib fern von ihr", warnte Liam ihn.

"Ich habe nicht vor ihr irgendwas zu tun und das würde ich auch niemals. Siehst du denn nicht, dass ich mich verändert habe?", fragte er und die Verzweiflung war ihm ins Gesicht geschrieben.

Wenn ich ihn nicht kennen würde, dann hätte er mir wahrscheinlich Leid getan, aber ich verspürte ihm gegenüber nicht sowas. Was Liam mir alles über ihn erzählte, war so grauenhaft gewesen, dass eine Veränderung nichts brachte. Mr Black war es selber bewusst, dass seine Söhne ihm nicht mehr verzeihen würden. Er war nämlich der Grund, warum nun ich diese Kette an meinem Hals trug und nicht mehr Miranda Black, also Liam's Mutter.

"Verändert?", lachte Liam humorlos auf.

"Verändert?!", brüllte er nun aufgebracht und schlug Wut auf geladen gegen die Tür, wofür ich erschrocken zusammenzuckte, doch Mr Black blieb weiterhin ruhig, denn anscheinend hatte er so eine Reaktion erwartet.

"Sie sollten lieber gehen", kam ich dazwischen, da das ganze nicht gut enden würde und deshalb verstand ich nicht, warum er es noch versuchte.

"Verhalten Sie sich wenigstens jetzt annähernd wie ein Vater und gehen Sie für ihren Sohn", sprach ich in einem eisigen Ton, als er sich noch immer nicht von der Stelle rührte.

"Pass auf ihn auf", waren seine letzten Worte an mich bis er endlich verschwand und somit eine Stille in der Luft lag.

Da wir hier weiterhin standen, zog ich Liam langsam herein und schloss hinter mir die Haustür.

Mein Blick wanderte zu ihm und ein trauriger Ausdruck bildete sich in meinem Gesicht. Seine wunderschönen Augen waren geschlossen und somit war für mich die Sicht zum blauen Himmel geschlossen. Ich wusste nicht, an was er dachte oder fühlte, daher würde ich gerne in seine Gedanken hineinsehen wollen.

Als er mich plötzlich anschaute, entstand ein verzweifeltes Lächeln an seinen Lippen, was ich aber trotzdem erwiderte.

"Danke", sagte er.

"Du bist nicht mehr alleine", meinte ich daraufhin, worauf er nach meiner Hand griff und mich somit in seine Arme schloss.

Der VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt