Kapitel 62

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Langsam öffnete ich die Augen, doch als das grelle Licht mich blendete, musste ich zuerst blinzeln, um ein klares Sichtfeld zu erlangen. Wenige Sekunden später bemerkte ich, dass ich in einem Bett lag. Ein Krankenhausbett. In meiner Hand steckte nämlich eine Infusionsnadel, worüber ich die Augenbrauen zusammenzog. Ich besaß keine Erinnerung daran, wann ich ins Krankenhaus kam und warum? Mein Kopf fühlte sich so an, als ob es gleich explodierte. Hilflos blickte ich mich im Raum um, bis ich an einer Person hängen blieb, die ich erst jetzt entdeckte.

Verwirrt weiteten sich meine Augen und ich begann den Kopf zu schütteln, denn ich realisierte es nicht. Träumte ich etwa? Rechts von mir saß er auf einem Stuhl, dabei hatte er den Kopf in den Nacken gelegt, als ob er sich damit entspannen wollte. Unmöglich.

"Jack", flüsterte ich kaum hörbar.

Er hörte mich, denn er richtete sich auf und schaute direkt zu mir. Als er sah, dass ich wach war, stand er sofort auf und kam auf mich zu, um sich neben mich zu setzen. Meine Hand umschloss er mit seiner und lächelte mich sanft an. Vor Freude und Sprachlosigkeit liefen mir Tränen über die Wange, die ich nicht unterdrücken konnte. Erneut schüttelte ich den Kopf und glaubte nicht, dass er hier war. Um mich zu vergewissern, dass ich nicht träumte, legte ich meine freie Hand an seine Wange und musste dann in Tränen lächeln. Mein Lockenkopf war da. Meine Finger fuhren über seine Wunde im Gesicht, die am heilen war, bis ich sie wieder zurückzog.

"Ich bin es wirklich", grinste er leicht.

"W-Wie?", wollte ich verwirrt wissen.

"Sie haben mich freigelassen", antwortete er, worauf ich ihm weiterhin einen verständnislosen Blick warf.

"Sie meinten, dass ich entlassen werde und mehr haben sie mir nicht mitgeteilt", erklärte er mir ruhig.

Ich schwieg, denn die Erinnerungen kamen zurück und alles wurde plötzlich klarer in meinem Kopf. Der Brand. Levin steckte drinnen im Haus und wäre fast ums Leben gekommen. Wir waren im Auto, um ins Krankenhaus zu fahren. Er nahm eine Abkürzung, damit wir schneller ankamen. Ich wollte dann, dass er langsamer fuhr, doch die Bremsen funktionierten nicht mehr und der Unfall passierte. Wo war er?

Liam.

Automatisch beschleunigte sich mein Puls und ich bekam Panik. Meine Finger krallten sich in die Decke und ich schloss für einige Sekunden die Augen. Im Hintergrund hörte ich, wie Jack mir etwas sagte, aber ich blendete ihn aus, da ich kaum noch ruhig nachdenken konnte. Am Ende machte ich die Augenlieder auf und riss mir die Infusionsnadel aus der Hand, wobei ich kurz das Gesicht verzog. Mein Cousin schaffte es mich nicht zu beruhigen, da ich ihn kaum wahrnahm. Die Bettdecke schlug ich weg und versuchte aufzustehen, was ich mit viel Kraft bewältigte. Der Lockenkopf wollte mich zurück aufs Bett setzen, doch ich wehrte mich und das machte ihn verzweifelter. Schlussendlich umarmte er mich ganz fest von hinten, sodass ich mich nicht von der Stelle rühren konnte und er mich gefangen hielt.

"J-Jack...Jack lebt er noch? Lebt er noch, Jack! Jack", weinte ich ängstlich und zitterte am Körper.

"Ihm geht es gut", versicherte er mir.

Er lebte. Mein Liam lebte.

Eine Last viel von meinen Schultern und ich ließ mich endgültig in seine Arme fallen. Tränen liefen noch über meine Wange, die ich nicht zurückhalten konnte. Jack strich mir beruhigend über die Haare und hielt mich einige Minuten in seiner Umarmung fest, bis er sich sicher war, dass es mir wieder gut ging. Er setzte mich vorsichtig aufs Bett und nahm neben mir Platz. Ich blickte zu ihm hoch und sagte nichts. Dieser blieb auch still und griff nach meiner Hand, um sie mit seiner zu umschließen. Meinen Kopf legte ich an seine Schulter und so verweilten wir für einen Moment, denn es beruhigte mich.

Schließlich erzählte er mir, dass sich Liam das Bein gebrochen hatte. Levin überstand es ebenso. Eine Rauchvergiftung. Katy bekam beinahe einen Nervenzusammenbruch, als sie erfuhr, dass wir alle im Krankenhaus waren. Gerade befand sie sich bei ihrem Freund. Die anderen waren hier gewesen und letztendlich hatte er sie weggeschickt, da nicht so viele im Zimmer blieben durften. Mehr gab es nicht.

"Was ist mit dem Auto in das wir reingefahren sind? Gibt es noch Verletzte?", wollte ich von ihm wissen.

"Nur eine Frau war im Wagen, aber sie hat keine Verletzungen. Ihr geht es gut", antwortete er mir.

Allen ging es gut, aber trotzdem war nichts vorbei. Es musste enden. Ich musste dafür ein Ende bringen. Entschlossen löste ich mich langsam von meinem Cousin, der seinen Blick auf mich richtete.

"Jack", begann ich.

"Ja?", fragte er nach.

"Bringst du mich zu ihm?", bat ich ihn.

Er machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber schloss ihn anschließend wieder und nickte stumm. Wir verließen das Krankenzimmer und da ich mich noch ein wenig schwach fühlte, stützte mich Jack. Sein Zimmer war nicht weit entfernt und als wir davor standen, nahm mich die Nervosität. Schließlich bedankte ich mich bei Jack und er ließ mich allein. Ich machte vorsichtig die Tür auf und betritt den Raum. Leise schloss ich sie hinter mir zu und lehnte mich dagegen, dabei blickte ich zu ihm.

Seelenruhig lag er mit geschlossenen Augen im Bett. Wahrscheinlich schlief er durch die schweren Medikamenten noch und das war gut. So würde es einfacher für mich werden. Ich tat das Richtige.

Ich näherte mich mit kleinen Schritten auf ihn zu und blieb direkt neben ihm stehen. Kleine Kratzer zierten sein Gesicht und sein rechtes Bein war in einem Gips verpackt. Seine wunderschönen Augen waren zu und ich sehnte mich jetzt schon nach ihnen. So unglaublich sehr. Meine Augen begannen zu brennen und Tränen liefen mir erneut über die Wange. Verzweifelt wischte ich sie mir weg, aber ständig kamen neue, weshalb ich einfach aufgab.

Die Schuldgefühle traten auf und ich ging auf die Knie und starrte auf den Boden, weil ich ihm nicht mehr ins Gesicht blicken konnte. Ich riss mir gerade selbst das Herz aus der Brust und es tat so sehr weh. Es fühlte sich so an, als ob ich mich selbst umbrachte, jedoch musste ich es tun. Ausweglos hob ich meinen Blick und sah auf seine Hand, die ich berühren wollte, aber es nicht schaffte. Ich hatte nicht mehr das Recht ihn zu berühren, denn ich konnte es nicht einmal tun. Wenn er wach wäre, hätte er es auch selbst nicht gewollt, dafür kannte ich ihn zu gut. Er wird mich nämlich für immer hassen. Ein anderes Gefühl wird er nie wieder für mich fühlen, denn ich existiere nicht mehr für ihn.

"Es tut mir leid", flüsterte ich quälend.

Kraftlos zwang ich mich auf die Beine und führte meine Finger zu meinem Hals. Sie suchten nach der Engelskette. Ich nahm sie mir ab und legte sie mit zitternden Händen auf den kleinen Tisch, der neben seinem Bett stand. Es zu tragen, verdiente ich nämlich nicht. Eine letzte Träne entglitt mir und mit einem gebrochenen Herzen verließ ich somit den Jungen mit den pechschwarzen Haaren.

Seine Zimmertür machte ich hinter mir zu und blieb mitten im Gang stehen. Ich fühlte mich im Moment unfassbar Leer an und als ich nach vorne blickte, verstärkte sich dieses Gefühl, denn er stand dort.

Die letzten Schritte wagte ich in seine Nähe und blieb vor ihm stehen. Emotionslos starrte er mir entgegen und schwieg. Allmählich begann sich bei mir alles zu drehen und ich krallte beide meiner Hände an sein Oberteil, damit ich einen Halt fand. Mein Sichtfeld verschwand und letztendlich verlor ich das Gleichgewicht, weshalb er mich rechtzeitig auffing und hoch hob, damit er mich in seinen Armen trug. Erneut packte ich ihn an seinem T-Shirt und zog ihn etwas zu mir herunter, sodass ich ihm etwas ins Ohr flüstern konnte, da ich nicht die Kraft dazu hatte laut zu reden und nur er sollte es hören.

"D-Du hast gewonnen", murmelte ich leise.

Mein Herz ließ ich endgültig einfrieren, denn jetzt war es an der Zeit mit dem Verstand zu handeln.

Der Verstand.

Unbegreiflich, aber voller Richtigkeit.

Ende

Der VerstandWhere stories live. Discover now