39.Kapitel

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"Was ist los?" Bei Damons düsterem Gesichtsausdruck verschluckte ich mich beinahe an meinem Brötchen. Dass er schon so früh am Morgen eine dermaßen schlechte Laune hatte, war alles andere als beruhigend. Wortlos drehte er den Bildschirm seines Tablets zu mir; in letzter Zeit ging er so gut wie nirgendwo ohne das Teil hin, immer auf die nächsten Neuigkeiten wartend. Newton schien seine Drohung tatsächlich wahr gemacht und den anderen Regierungsmitgliedern erzählt zu haben, dass es eine Gruppe, die eine Rebellion plante, gab. Jeden Tag traffen neue Informationen über die Vorbereitung eines Angriffs ein. Wahrscheinlich waren wir bis jetzt nur verschont geblieben, weil niemand so richtig daran glaubte, dass wir überhaupt eine Chance hatten. Abgesehen davon sollte die restliche Bevölkerung sicher nichts von der ganzen Sache erfahren, sonst würden die sich am Ende noch auf unsere Seite stellen.
Teils neugierig, teils ängstlich starrte ich auf den Bildschirm und wartete, dass das Video anfing. Wenn etwas Damon Sorgen bereitete, hatten wir wirklich ein Problem. Er versuchte es vor mir und allen anderen zu verbergen, doch ohne Grund war er nicht pausenlos unterwegs, um die Sicherheitsvorkehrungen zu überprüfen oder sonstwas zu machen.
Die ersten paar Sekunden passierte nicht viel in dem Video. Einige Männer standen verstreut herum und schienen auf irgendetwas zu warten. Fragend sah ich Damon an, das war nicht gerade das, was ich erwartet hatte. Er schien meinen Blick jedoch nicht zu bemerken, weswegen ich mich wieder dem Video widmete. Gelangweilt beobachtete ich, wie sich alle Männer in eine Verteidigungsposition begaben; kam jetzt Graf Dracula persönlich oder warum guckten die alle so ängstlich?
Es war nicht Dracula, auch wenn man das im ersten Moment denken könnte. Drei einzelne Männer näherten sich der großen Gruppe. Sie alle sahen mehr oder weniger kränklich aus; von einer ungesunden Gesichtsfarbe und blutunterlaufen Augen bis zu abgemagerten Körpern deutete alles auf wenigsten eine Grippe, vielleicht auch Schlimmeres, hin.
An sich nichts besonderes, wäre da nicht der extreme Gegensatz zu ihren Bewegungen gewesen. Anstatt zu schlurfen oder zu humpeln, wie es sich für Kranke gehörte, gingen sie mit einer beeindruckenden Anmut. Es ähnelte schon fast einem Tanz. Dieser Eindruck ging auch nicht verloren, als sie die anderen Männer erreichten und mit eleganten Bewegungen mehrere Meter zur Seite schleuderten. Ich konnte keinerlei Zeichen von Anstrengung oder Erschöpfung in ihren Gesichtern erkennen, als sie erneut auf die am Boden Liegenden zuliefen.
Blitzschnell zog Damon das Tablet wieder von mir weg. "Ich denke, du hast genug gesehen." Ich fragte mich, was wohl noch kam, was so schlimm war, dass er verhindern wollte, dass ich es sah. Bedrückt schluckte ich den Rest meines Brötchens hinunter und schob das übrige Essen von mir; der Appetit war mir gründlich vergangen.
"Das...war nicht normal", brachte ich schließlich mühsam heraus. Unweigerlich wanderten meine Gedanken zu meinem Einzeltraining vor ein paar Monaten. Jetzt war Damons Vorausage also wirklich eingetreten, die Regierung entwickelte eine Art Supersoldaten. "Nein, war es nicht. Und so wie ich das einschätze, werden wir die Ersten sein, auf die Newton diese Typen hetzt. Der Informant, der mir das Video geschickt hat, hat zwar gesagt, dass es bis jetzt nur wenige Menschen mit diesen verbesserten Fähigkeiten gibt, aber sicher sein können wir nicht." Damon stand abrupt auf und zog mich mit sich.

Mehr oder weniger ratlos standen alle Rekruten neben den Trainingsmatten und warteten ab, was Damon vorhatte. Vor zwei Tagen war ihm eingefallen, dass es doch sinnvoller wäre sich wieder um unsere Ausbildung zu kümmern. Wir würden wahrscheinlich trotzdem keine sonderlich große Chance gegen erfahrene Soldaten haben; andererseits waren die gegnerischen Kämpfer vielleicht gar nicht so erfahren, immerhin hatte es bis jetzt noch nie kriegerische Auseinandersetzungen gegeben. Und sie würden unsere Fähigkeiten mit ein bisschen Glück unterschätzen. Wenn man aber dagegen bedenkt...
"Ich glaubs nicht. Bitte sag mir, dass das ein Scherz ist." Anne sah mich bettelnd an, während ich verwirrt versuchte herauszufinden, was sie so schockiert hatte. "Äh was?"
"Du solltest wirklich mal häufiger zuhören", mischte sich nun Sarah ein. "Damon hat uns gerade eröffnet, dass wir mit großer Wahrscheinlichkeit früher oder später auf noch mehr übernatürliche Menschen treffen werden. Und dass die uns umbringen werden, wenn wir nicht lernen gegen so etwas anzukommen." Zugegeben, das erklärte Annes Reaktion. Ich sollte wohl wirklich häufiger zuhören. Aber, um ehrlich zu sein, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wie wir uns gegen solche Supersoldaten verteidigen oder sie gar besiegen sollten. Wenn die auch nur halb so gefährlich waren wie Damon, konnten wir uns eigentlich gleich selbst erschießen.
Ein schmerzhafter Stoß in die Seite lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf Anne, die wiederum nach vorne nickte. Damon erklärte offenbar immer noch irgendetwas.
"....den größten Vorteil, den wir habe werden, ist, dass diese genmanipulierten Männer zwar sehr stark, aber relativ langsam sind. Solange ihr ihnen also ausweichen könnt, solltet ihr relativ sicher sein. Falls ihr aber einem von ihnen in die Finger fallt, wäre es von Vorteil, wenn ihr richtig auf das", ohne Vorwarnung hatte er einen Jungen aus der vorderen Reihe gepackt und gegen die Wand hinter sich geschleudert. Ich beglückwünschte mich erneut weiter hinten zu stehen. "... vermeiden könntet. Diese Typen werfen ihre Gegner mit Vorliebe irgendwo hin, wenn irgendwie möglich gegen eine Wand oder ähnliches. Fragt mich nicht warum, es ist einfach so", fuhr Damon ungerührt mit seiner Erklärung fort. Der Junge hinter ihm schaffte es inzwischen wieder langsam aufzustehen, bewegte sich aber immer noch leicht orientierungslos. Diesen Umstand nutzte unser Ausbilder ohne zu zögern aus und warf ihn erneut zu Boden. "Wenn ich gewollt hätte, hätte ich dich jetzt problemlos töten können." Kopfschüttelnd wandte er sich wieder uns zu. "Es lässt sich nur schwer vermeiden gegen die Wand zu fliegen, aber es besteht durchaus die Möglichkeit das zu überleben. Irgendjemand eine Idee, wie?" Und jetzt trat mal wieder das verblüffende Phänomen auf, dass jeder plötzlich hochkonzentriert auf den Boden starrte und so tat, als würde er beziehungsweise sie nachdenken, mich eingeschlossen. In Wirklichkeit hofften wir alle bloß, dass Damon sich jemand anderen aussuchen würde und nicht uns selbst.
"Lisa?" Ein beinahe lautloses erleichtertes Seufzen ging durch die Halle, was unser Ausbilder mit einem verärgerten Stirnrunzeln quittierte. Er war der Meinung, dass jeder, der irgendeine Idee hatte, sich sofort melden sollte, aber das tat eh niemals jemand. Mal ganz davon abgesehen, dass vermutlich niemand eine hatte.
"Ähm...also..ich denke...", stammelte die Angesprochene unsicher und sah sich hilfesuchend um. Erwartungsgemäß flüsterte ihr niemand eine geeignete Lösung zu. "Wegrennen?", versuchte sie schließlich selbst ihr Glück.
"Dann probier es doch mal." Auffordernd sah Damon sie an. Lisa hatte jetzt genau zwei Möglichkeiten: entweder sie machte freiwillig was er sagte oder sie tat es nicht. In beiden Fällen würde sie eine äußerst unangenehme Bekanntschaft mit der Wand machen. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich mich nicht insgeheim über die neue Situation freute. Immerhin hatte ich dieses Training schon hinter mir, also konnte mir genau genommen nichts passieren. Vielleicht durfte ich ja sogar irgendetwas anderes in der Zeit machen.
"Lola." "Was?" Überrascht sah ich wieder nach vorne; Lisa hatte es offenbar nicht geschafft wegzurennen und stand gerade mit schmerzverzerrten Gesicht wieder auf. "Komm her", beantwortete Damon genervt meine Frage. Hatte ich schon wieder irgendetwas verpasst? Zögerlich befolgte ich seinen Befehl und überlegte verzweifelt, was das jetzt schon wieder sollte. Grundlos zitierte er mich ja nicht zu sich.
"Lisa hat bei ihrem Versuch eine Sache nicht bedacht. Wenn du mal aufgepasst hättest, wäre dir das sicher aufgefallen", knurrte er mich an. "Ich habe doch aufgepasst", log ich, um die Sache noch irgendwie zu retten. Wenn Damon eines nicht leiden konnte, waren es Auszubildende, die während seines Trainings mit den Gedanken woanders waren. Warum fiel mir das eigentlich erst jetzt wieder ein?
"Na wenn das so ist", gar nicht gut, dieser Blick kam mir mehr als bekannt vor, "mach es besser." Und schon flog ich auf die Wand zu. Wie war das noch gleich mit 'ich habe das alles ja schon hinter mir'? Von wegen. Gekonnt fing ich den Aufprall ab und zog im selben Moment mein Messer aus dem Stiefel. Damon wollte, dass ich es besser als Lisa machte, also würde ich es zumindest versuchen. Das sinnvollste in einer solchen Situation wäre, den Angreifer auszuschalten ohne ihm zu nahe zu kommen.
"Du weißt aber schon, dass auch ein Mordversuch strafbar ist, oder?" Belustigt drehte Damon mein Messer in der rechten Hand. Hätte er es nicht rechtzeitig abgefangen, wäre das zumindest eine unschöne Wunde geworden. Aber vermutlich nicht tödlich.
"Du hast doch gesagt, ich soll es besser machen", antwortete ich unschuldig. "Und den übernatürlichen Angreifer zu verwunden oder gar zu töten ist immerhin die beste Technik, um nicht selbst umgebracht zu werden." Sinnvoller als Wegrennen war es allemal. Schulterzuckend wollte ich wieder zurück in die letzte Reihe verschwinden. Mein Ausbilder hatte aber offenbar andere Pläne und hielt mich zurück. Ich verkniff mir die Frage, was denn jetzt noch war und verschränkte lieber die Arme, um zu warten. Vermutlich sollte ich nochmal als Demonstrationsobjekt herhalten.
"Im Prinzip hat Lola recht; wenn ihr irgendwie die Möglichkeit besitzt euren Gegner stark zu verletzen, erhöhen sich eure Überlebenschancen deutlich. Was jetzt aber nicht heißt, dass ihr während des Trainings versuchen sollt mit einem Messer auf die anderen oder mich zu werfen", er sah mich einen Moment lang tadelnd an, ehe er sich wieder den anderen Rekruten zuwand. Da ich schräg hinter Damon stand, konnte ich es relativ gefahrlos wagen eine Grimasse zu ziehen. Es wäre wirklich schön zu wissen, ob ich mich nun anstrengen sollte oder nicht.
"Aber wie sollen wir denn jemanden verletzen oder zumindest weglaufen, wenn wir durch den Aufprall an der Wand völlig orientierungslos sind?", warf Tim ein. Wenn ich mich nicht täuschte, trat Zoey ihm dafür mit voller Kraft auf den Fuß. Sie wusste ziemlich genau, wie das funktionieren sollte und wollte garantiert verhindern, es selbst ausprobieren zu müssen. Zu spät.
"Gar nicht. Ihr müsst so landen, dass ihr nicht völlig orientierungslos seid. Und genau das werden wir die nächste Stunde lang in zwei Gruppen üben." Damons spöttischer Tonfall konnte auch nicht über den Ernst der Lage hinwegtäuschen. Jedem hier sollte inzwischen bewusst sein, dass das nicht sonderlich einfach werden würde. Wenn wir schon dabei waren, eigentlich konnte ich doch zuschauen, oder?
"2/3 der gesamten Gruppe üben mit mir, die anderen mit Lola..." "Was?", unterbrach ich ihn verblüfft. "Was glaubst du wohl, warum ich dir das als Erste beigebracht habe?" Na jedenfalls nicht, damit ich es anderen beibringen musste.
"Und bevor jetzt alle zu Lola rennen, solltet ihr zumindest eines bedenken: sie kann ihre Kräfte deutlich schlechter einschätzen als ich, möglicherweise bricht sie euch bei dieser ganzen Aktion sogar ein paar Knochen." Deutlich belustigt beobachtete Damon, wie einige von den bereits losgelaufenen abrupt innehielten. Während sie noch unentschlossen darüber nachzudenken schienen, ob das ein Scherz oder ernst gemeint war, schlenderten Anne und Zoey in meine Richtung. Um ehrlich zu sein, wusste ich selbst nicht, ob das so eine gute Idee war. Ganz unrecht hatte Damon ja nicht, bis jetzt hatte ich noch nicht sonderlich oft jemanden gegen eine Wand fliegen lassen. Mit ein bisschen Pech verletzte ich noch einen von den anderen ernsthaft.
"Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?", fragte ich meinen Freund leise. Abgesehen von Anne und Zoey verteilten sich nun auch die restlichen Rekruten." "Ja, bin ich." Er legte grinsend die Arme um mich und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. "Abgesehen davon, dass ich keine Lust habe das alles alleine zu machen, kann es nicht schaden, wenn du mal deine Superkräfte trainierst." Ich war mir da ja nicht so sicher.
"Seit wann habe ich denn noch eine Superkraft? Und was ist, wenn ich das überhaupt nicht hinbekomme?", murmelte ich skeptisch. Wenn ich mich ganz bescheuert anstellte, würde ich noch irgendjemandem versehentlich das Rückgrat brechen; konnte so etwas nicht sogar zum Tod führen? Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, die Möglichkeiten wurden ja immer schlimmer. Am besten, ich weigerte mich einfach. Ich setzte gerade zu einer Erklärung an, als Damon die Gruppe hinter uns barsch anfuhr, was mich wiederum leicht zusammenzucken ließ. "Könnt ihr zufällig auch zählen?! Ein drittel von 42 sind 14, ihr seid mehr als zwanzig." Kopfschüttelnd wandte er sich wieder mir zu. "Zumindest scheinen die sich sicher zu sein, dass es bei dir weniger schmerzhaft wird als bei mir."

Caeth-Die Rebellen || #Wattys2015Where stories live. Discover now