82. Kapitel

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Erschöpft lehnte ich mich an einen Türrahmen und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Noch immer waren die Kämpfe in vollem Gange, wobei die Tatsache, dass mindestens die Hälfte unserer Gegner mit übernatürlichen Kräften ausgestattet war, nicht gerade zu unserem Gunsten beitrug. Zum wiederholten Mal dankte ich Damon innerlich, dass er so einen Spaß daran hatte, seine Fähigkeiten im Training gegen mich einzusetzen. Ohne diese Vorbereitung wäre ich schon gefühlte zehn Mal getötet worden, doch so konnte ich immerhin einigermaßen einschätzen, wie sich meine Gegner verhalten würden. Der Fairness halber musste ich auch zugeben, dass es wirklich sinnvoll gewesen war zu lernen, wie man am besten reagierte, wenn man durch die Luft geschleudert wurde.
"Wa -", mein erschrockener Ausruf wurde im selben Moment als ich nach hinten gezogen wurde von einer Hand erstickt. Instinktiv wehrte ich mich gegen den festen Griff des Mannes, bis ich ruckartig umgedreht und gegen die Wand gepresst wurde.
"Colin?", fragte ich verwirrt und entspannte mich erleichtert. "Musstest du mich so erschrecken?"
"Hatte ich nie vor, Schätzchen. Musstest du gleich so um dich schlagen?" Er bedachte mich mit einem missbilligendem Blick und rieb sich unbewusst die schmerzenden Rippen. "Schön, dass du noch am Leben bist."
"Gleichfalls", murmelte ich und erschauderte unwillkürlich bei dem Gedanken, wie viele Menschen die ich kannte bereits tot waren. Es war erschreckend, mit welcher Brutalität und Freude die gegnerischen Kämpfer nacheinander ihre auserkorenen Opfer abschlachteten. Vielleicht war es gerade diese Tatsache, die mich die etwa dreißig im Gang versammelten Männer und Frauen verwirrt anstarren ließ. "Sollten wir nicht lieber den anderen helfen, anstatt hier herumzustehen?"
"Und genau das werden wir jetzt tun - indem wir ihre Auftraggeber ausschalten", antwortete Colin grimmig. Er vergewisserte sich mit einem letzten Blick zurück in die Halle, dass uns niemand bemerkt hatte oder folgte, und wandte sich entschlossen in die entgegengesetzte Richtung. Nach kurzem Zögern schloss ich zu ihm auf, verdrängte das Bedürfnis, mich in irgendeiner unscheinbaren Ecke zu verstecken. Mit jedem Schritt näherten wir uns mehr den Machthabern dieses Landes, während sich im selben Maß meine Unsicherheit bezüglich dem, was passieren würde, wenn wir tatsächlich Erfolg hatten, verstärkte. Zweifel, ob es wirklich richtig war, was wir taten, ob wir nicht im Endeffekt der Regierung sehr ähnlich waren, schossen mir erneut durch den Kopf, doch ich schob sie zur Seite. Alles war besser als eine Eliteeinheit, deren Mitglieder Spaß am Töten hatten.
"Bist du dir sicher, dass wir mit nicht einmal drei dutzend Mann überhaupt in die Nähe von Stewart und den anderen kommen?", zweifelnd sah ich Colin an. Insbesondere nach dem gerade Erlebten konnte ich mir nicht vorstellen, dass wir Erfolg haben könnten.
"Etwas weniger pessimistisch, wenn ich bitten darf. Immerhin sind wir noch am Leben, ich hatte schon vor Stunden damit gerechnet tot zu sein." Ununterbrochen seine Waffe, die außerhalb der letzten Halle hoffentlich wieder funktionierte, im Anschlag haltend spähte er um die nächste Ecke. Auf zwei kurze Handbewegungen hin lösten sich drei Männer aus unserer Gruppe und liefen zur gegenüberliegenden Seite. Erst nachdem sie auch den nächsten Gang als gesichert erklärten, folgten wir anderen.
"Ich bin nicht pessimistisch, ich bin realisti -", murmelte ich leise und blieb abrupt vor einem der vergitterten Fenster stehen. "Was zum Teufel geht dort draußen vor?" Der Anblick, der sich mir bot, ließ mich erzittern. Im ersten Moment könnte man den rötlichen Schein, der über der Stadt lag der einsetzenden Abenddämmerung zuschreiben, doch jegliche nähere Betrachtung bewies das Gegenteil. An den äußeren Teilen New Yorks tauchten alle paar Sekunden die charakteristischen Feuerbälle explodierender Bomben auf, während sich weiter im Zentrum ein regelrechtes Flammenmeer gebildet hatte. Ohne Vorwarnung kippte ein Wolkenkratzer wie ein Streichholz um, krachte in einen anderen und verursachte einen weit in den Himmel reichenden Funkensturm. Tief unter uns liefen unzählige Menschen verzweifelt auf den wenigen passierbaren Straßen hin und her, suchten Schutz in scheinbar sicheren Häusern, nur um sofort wieder aus diesen vertrieben zu werden. Vor dem Tower lieferten sich zwei bewaffnete Gruppen ein erbittertes Gefecht, nicht zu erkennen, wer zu wem gehörte oder die Oberhand hatte. Wie um das ganze noch zu krönen, kreisten einzelne Hubschrauber über der Stadt, umflogen die aufsteigenden Rauchsäulen und feuerten abwechselnd scheinbar willkürliche Salven auf die Truppen unter ihnen und schließlich, nachdem sie offenbar verstanden, dass sie zu gegnerischen Seiten gehörten, auf die jeweils anderen Hubschrauber ab. Gedämpft, aber dennoch hörbar drang nun auch der Lärm von außerhalb an mein Ohr. Das beständige Knacken der Flammen, die durch die Luft peitschenden Schüsse, das schrille Zischen der fallenden Bomben, die Schreie der Menschen. All das vermischte sich zu einer Geräuschkulisse, die mich noch in meinen Albträumen verfolgen würde.
"Das, Lola, ist der Krieg von seiner grausamsten Seite", antwortete Colin düster. "Ich hatte nicht erwartet, dass es so schlimm werden würde. Ein Grund mehr, unser Vorhaben möglichst schnell hinter uns zu bringen."
Ich nickte abwesend, versuchte die Bilder, die sich scheinbar in meine Netzhaut eingebrannt hatten wieder loszuwerden. Selbst wenn wir wider Erwarten Erfolg haben sollten, war der Preis, den wir dafür zahlen mussten möglicherweise zu hoch.
Begleitet von dem Schrecken, der sich vor dem Gebäude abspielte, legten wir schweigend den weiteren Weg zurück. Jeder tief in seinen eigenen Gedanken und dennoch wachsam passierten wir nacheinander die wenigen Etagen, die uns noch von der Spitze des Towers trennten. Hin und wieder sah ich verängstigte Menschen hinter angelehnten Türen hervorspähen, unsicher, was sie erwarten würde. Gern hätte ich ihnen zumindest einen Teil der Furcht genommen, doch ich wusste nicht wie. War die Zukunft doch für mich selbst so ungewiss, dass ich mir nicht einmal vorstellen konnte, wie der nächste Tag verlaufen würde.
"Findest du es nicht merkwürdig, dass uns niemand aufhält, nicht einmal über den Weg läuft?" Angespannt musterte ich unsere Umgebung zum wiederholten Mal, doch noch immer zeigte sich kein Hinweis auf eine Falle oder gegnerische Soldaten. Es war regelrecht unheimlich, besonders wenn man bedachte, wo wir uns gerade befanden. Geschätzte dreißig Meter trennten uns noch von der Kongresshalle, in der die Regierungsmitglieder ... nun, ehrlich gesagt hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was genau sie dort gerade taten, aber es fiel mir schwer, mir vorzustellen, dass sie tatsächlich in aller Ruhe ein neues Gesetz besprechen würden, während um sie herum Krieg herrschte.
"Doch, aber im Gegensatz zu dir bin ich einfach nur froh darüber und beunruhige mich nicht noch zusätzlich durch düstere Vermutungen", er warf mir einen kurzen Blick zu, ehe er noch einmal jeden der kleinen Gruppe prüfend ansah. "Wir sind kurz vor unserem Ziel, auch wenn wir nicht wissen, was uns erwartet. In den letzten Stunden sind unzählige Menschen gestorben. Bekannte, Freunde, Familie, Geliebte. Sie alle ließen ihr Leben, um die Rebellion zu ermöglichen, also sollten wir unser Bestes geben, um diesen Willen fortzuführen. Der Tod soll nicht umsonst hier gewesen sein."
Zustimmendes Gemurmel erhob sich, während wir auf die kunstvoll verzierte Tür zuschritten. Es hätte mich interessiert, an was die anderen in diesem Moment dachten. Nur noch diese eine Tür trennte uns von dem endgültigen Sieg über die Regierung, doch genauso gut konnte uns dahinter der Tod erwarten.
Mit einer ruhigen und doch dramatischen Geste stieß Colin die schweren Flügeltüren auf. Der Anblick der sich uns bot war beinahe lachhaft. Keine Bewaffneten, keine Bodyguards, keine abgerichteten Kampfmaschinen. Lediglich 49 verblüfft aussehende Männer in maßgeschneiderten Anzügen und polierten Lederschuhen sowie ein weiterer, der statt Überraschung ein zufriedenes Grinsen zur Schau trug. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich tatsächlich annehmen, dass diese Ignoranten bis gerade eben gemütlich über unwichtige politische Dinge gesprochen hatten. Das nächste, was mir auffiel war die Abwesenheit Newtons. Ich vermutete, dass Stewart den ehemaligen Innenminister durch einen fähigeren Mann ersetzt hatte, dennoch hatte ich irgendwie erwartet, ihn hier anzutreffen.
Ohne ein Wort zu verlieren, verteilten wir uns im Raum, richteten die Waffen auf die Regierungsmitglieder. Auch sie blieben erstaunlicherweise ruhig, zeigten keine weitere Gefühlsregung. Einige sahen abwechselnd zwischen Anthony Stewart und Colin hin und her, doch abgesehen davon bewegte sich niemand. Unschlüssig, was nach dieser viel zu leichten Geiselnahme als nächstes zu tun sei, schloss ich mich dem Blickwechsel an und beobachtete misstrauisch, wie Stewart elegant aufstand. Sein gemächliches Klatschen hallte durch den Raum, ließ mich unwillkürlich erschaudern.
"Ich bin ehrlich gesagt wirklich beeindruckt. Ich wusste zwar, dass man Sie nicht unterschätzen sollte, dennoch hatte ich nicht ernsthaft damit gerechnet, dass Sie so weit kommen würden. Trotz der Tatsache, dass ich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil Schuld an Ihrem scheinbaren Erfolg trage, kommt Ihr Erscheinen überraschend. Wobei - eigentlich hatte ich zumindest jemand anderen erwartet. Es wundert mich, dass weder Ihre Anführerin selbst noch ihr Stellvertreter Sie begleitet haben. Ihnen wird doch wohl nichts zugestoßen sein?" Aus seiner Stimme sprach Besorgnis, doch sein spöttisches Lächeln strafte diese Lügen.
Verunsichert von dieser Ansprache wanderte mein Blick wieder zu Colin, der jedoch lediglich Stewart aus zusammengekniffenen Augen beobachtete und keine Anstalten machte etwas zu sagen. Stattdessen ergriff ich die Gelegenheit, die Frage die mir auf der Seele brannte, zu stellen. "Was meinen Sie damit, dass Sie einen Anteil daran haben, dass wir hier sind?"
"Ist das nicht offensichtlich?", erwiderte er mit einem zynischen Lächeln. "Was ist die einfachste und effektivste Art, eine Gruppe Rebellen unschädlich zu machen?" Er musterte mich abwartend und fuhr fort, als ich keine Antwort gab. "Zulassen, dass sie aus ihren Löchern kriechen und sich auf einem Haufen versammeln, um sie dann gezielt zu töten. Der einzige Nachteil ist, dass New York stark in Mitleidenschaft gezogen wird, aber das ist nicht das erste Mal in der Geschichte. Wenn ich eine Stadt für die Vernichtung lästiger Menschen opfern muss, tue ich das mit Freuden."
Also war tatsächlich alles geplant gewesen. Stewart hatte gewusst, dass wir heute angreifen würden und sich dementsprechend vorbereitet. Und wir? Wir waren mit geschlossenen Augen in die Falle gelaufen, ohne zu realisieren was passierte. Hätten Damon und seine Gruppe es nicht geschafft, einige der Hubschrauber zu erbeuten, wären wir spätestens auf dieser verhängnisvollen Kreuzung ausgelöscht wurden und ich bezweifelte, dass es den anderen Gruppen besser ergangen war. Diese Erkenntnis schnürte mir die Kehle zu. Stewart machte nicht gerade den Eindruck, als würde er sich in irgendeiner Weise fürchten, im Gegenteil, er wirkte genauso selbstsicher wie ich ihn kennengelernt hatte.
"Ordnen Sie an, dass das Militär auf der Stelle jegliche kämpferische Handlung einstellt. Ihr Krieg ist hier zu Ende." Colin schien sich wieder an sein eigentliches Vorhaben zu erinnern und sah die Regierungsmitglieder nacheinander auffordernd an, bis er bei Stewart stoppte.
Dieser grinste, setzte sich wieder und lehnte sich demonstrativ zurück. "Und was, wenn nicht?"
"Dann sterben Sie alle hier noch vor Ablauf einer Stunde, jede Minute einer", antwortete Colin. Die Kälte in seiner Stimme bereitet mir Gänsehaut, doch noch mehr erschreckte mich, dass er seine Drohung innerhalb von wenigen Sekunden wahr machte. Der Schuss durchbrach die angespannte Stille und der ältere Mann direkt links neben Stewart rutschte mit noch im Tod überrascht geweiteten Augen zu Boden.
"Eins", er lud seelenruhig sein Gewehr nach, ehe er lauernd durch die Reihen schritt. "Wer ist der nächste? Mir ist es ziemlich egal, Sie haben noch fünfundvierzig Sekunden, um sich zu entscheiden."
Ebenso wie ich begriffen die übrigen Geiseln plötzlich, dass Colin nicht nur bluffte, sondern sie notfalls wirklich einen nach dem anderen töten würde. Waren sie gerade noch äußerlich völlig ruhig, so brachen sie nun in Panik aus. Hektisches Geschrei erfüllte den Raum, mehrere Männer sprangen von ihren Stühlen auf und liefen wild durcheinander, bis der nächste Schuss erneut für Stille sorgte.
"Ich glaube ich habe vergessen zu erwähnen, dass ich es hasse, wenn jemand während ich mit ihm rede durch die Gegend rennt oder mich durch sinnloses Gebrüll unterbricht." Kaum dass Colin die Worte ausgesprochen hatte, erstarrten die Männer wieder. "Also? Erfüllen Sie jetzt meine Bitte oder wollen Sie noch eine Weile darüber nachdenken?" Die Frage triefte geradezu vor Ironie, wusste doch jeder hier, dass mit jeder vergangenen Minute ein weiterer Mann sterben würde. Und obwohl mich Colins plötzliche Kaltherzigkeit erschreckte, musste ich zugeben, dass diese Methode effektiv war. Nun wartete nicht mehr jeder ängstlich auf Stewarts Reaktion, sie schienen verstanden zu haben, wer hier momentan die größere Bedrohung darstellte. Anstatt zu hören, was er dazu sagte, ergriff der Großteil der Ratsmitglieder selbst die Initiative und stellte unter dem scharfen Blick Colins eine Verbindung zum Militärstab her.
Kaum, dass auf dem großen Bildschirm an der hinteren Wand des Konferenzraums die verkniffenen Gesichter einiger hochrangiger Offiziere auftauchten, ahnte ich, dass diese Verhandlung nicht so einfach ablaufen würde wie Colin hoffte. Im Gegenteil, diese Männer machten nicht gerade den Eindruck, als wollten sie uns auch nur einen Schritt entgegenkommen. Und so wie ich die Lage einschätzte, würden die übrigen Regierungsmitglieder für diesen Starrsinn mit dem Leben bezahlen. Ähnliche Gedanken schienen einem jungen Mann mit grau gefärbten Haaren durch den Kopf zu gehen. Er wischte sich nervös die Hände an seinem farblich zu den Haaren passendem Sakko ab, trat gut sichtbar vor den Bildschirm und räusperte sich.
"Ordnen Sie unverzüglich den Rückzug aller Truppen an, wir werden uns friedlich mit den Angreifern einigen."
"Ach ja?", antwortete einer der Offiziere, wenn ich mich nicht täuschte der ranghöchste, skeptisch, verschränkte die Arme und sah fragend Stewart an. Dieser wiederum hatte noch immer das nicht zu deutende Lächeln auf den Lippen und schüttelte den Kopf. "Wir verhandeln nicht mit Terroristen."
"Wenn Sie an Ihrem Leben hängen, würde ich Ihnen aber dringend dazu raten", schaltete sich Colin in das Gespräch ein.

Caeth-Die Rebellen || #Wattys2015Where stories live. Discover now