65. Kapitel

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Ich wusste nicht, wie lange ich so da lag. Es könnten Minuten gewesen sein, oder Stunden. Ich wusste es nicht und irgendwie war es mir auch egal.
Egal, dass der Boden unter mir gefroren war und die Kälte bis in den kleinsten Winkel meines Körpers drang. Es störte mich nicht, im Gegenteil. Die Kälte war mir willkommen, verdrängte sie doch den anderen, so viel grausameren Schmerz.
Eine einzelne Schneeflocke fand ihren Weg zu mir, gefolgt von tausenden anderen. In großen, lockeren Flocken fielen sie vom Himmel, bedeckten den Boden mit einer dünnen, stetig wachsenden Schicht.
Fasziniert beobachtete ich das ruhige Treiben, spürte wie die winzigen Eiskristalle auf meiner Haut schmolzen und verdrängte alles andere. Hier, inmitten der ansteigenden Schneedecke könnte ich endlich Frieden finden.
"Lola." Wie gesagt, ich könnte. "Lola, du musst aufstehen."
Widerwillig löste ich meinen Blick kurz von der weißen Pracht und sah Damon an. Er kniete in einem viel zu kleinen Abstand neben mir, wirkte unsicher, als wüsste er nicht so recht, was er nun tun sollte.
Ich überlegte kurz wie lange er schon dort war. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn kommen gehört zu haben. "Verschwinde", nuschelte ich und widmete meine Aufmerksamkeit wieder dem fallenden Schnee. Vielleicht würde ich ja erfrieren, wenn er mich ließ. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass Erfrieren ein schöner Tod sein sollte, fast wie einschlafen.
Der Gedanke gefiel mir; ich könnte den Schnee betrachten, bis ich schließlich sterben würde. So leise wie die Flocken fielen, würde ich diese Welt verlassen, sanft, ohne Schmerzen.
Das Einzige, was ich dafür tun musste, war liegen bleiben. Einfach hier bleiben und abwarten. Es erschien mir wie das Logischste der Welt, als müsste jeder meine Entscheidung verstehen. Selbst Damon müsste einsehen, dass es das Beste wäre, mich hier zurückzulassen.
Ich hörte ihn kaum merklich seufzen, ehe ich die Erschütterung sich entfernender Schritte spürte. Er ging tatsächlich, erfüllte meinen Wunsch. Ein winziges Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich eine Autotür zuschlagen hörte. Vielleicht noch eine Stunde oder zwei trennten mich von meinem Ziel.
"Traust du mir wirklich zu, dich hier einfach sterben zu lassen?", murmelte eine raue Stimme dicht an meinem Ohr. Im selben Moment wurde ich hochgehoben, spürte, wie ich in etwas Weiches gewickelt wurde.
Warum? Warum musste er das tun? Schon zum zweiten Mal bewahrte er mich vor dem sicheren Tod. Begriff er denn nicht, dass ich nicht gerettet werden wollte? Dass ich sterben wollte? Erneut traten Tränen in meine Augen, als ich verstand, dass Damon mich wirklich nicht zurücklassen würde. Er würde nicht zulassen, dass ich mich umbrachte, nicht einmal das gestand er mir zu.
Mein anfänglicher Widerstand war erloschen, schweigend ließ ich zu, dass Damon mich vorsichtig in das Auto setzte. Ich protestierte nicht, obwohl er sich für den vorderen Platz entschieden hatte. Neben ihm, und doch wehrte ich mich nicht. Irgendwo dort draußen inmitten der schneebedeckten Landschaft war meine Kraft dafür verloren gegangen.
Ich begnügte mich damit, die Decke fester um mich zu ziehen, zumindest einen kleinen Schutz um mich herum zu schaffen.
"Lola?"
Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, dass Damon immer wieder zu mir sah, doch ich reagierte nicht. Ich starrte aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen, ignorierte Damon hartnäckig.
"Lola, wir müssen reden. Ich weiß, dass du das für unnötig und sinnlos hälst, aber das ist es nicht. Wirklich, ich will dir alles erklären, aber", er stoppte, machte eine hilflose Handbewegung, "ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll."
Er sah wieder kurz zu mir. Die Frage, warum er überhaupt selbst fuhr und nicht den Autopilot aktivierte, schob sich in meine Überlegungen. Wahrscheinlich gab es einen nachvollziehbaren Grund, vielleicht wollte er sich aber auch nur ablenken.
So wie ich, nur dass meine einzige Möglichkeit der Ablenkung das Fenster bildete, was jedoch nicht meine volle Konzentration erforderte und so immer wieder Raum für ungefragte Gedankengänge ließ.
Ich wollte durchaus wissen, wie Damons Erklärungsversuche aussehen würden, doch auf der anderen Seite wusste ich, dass es Zeitverschwendung wäre. Er würde mich sowieso nur anlügen oder den wirklich wichtigen Fragen ausweichen.
"Du glaubst mir nicht", stellte er nach weiteren Minuten des Schweigens fest. Und er hatte Recht. Ich glaubte ihm nicht, dass er mir die Wahrheit erzählen wollte und selbst wenn er es tun würde, würde ich diese für eine Lüge halten.
"Nehmen wir mal an, ich hätte etwas von Claras Wahrheitsserum hier und würde es nehmen; würdest du dann mit mir reden? Mir zuhören und dich darüber aufregen, was für ein Idiot ich bin?"
Trotz meines Vorsatzes, ihn zu ignorieren, musste ich unwillkürlich grinsen, ehe ich mich wieder besann und eine neutrale Miene aufsetzte. Ich würde ihn auch so als Idiot  und noch einiges mehr beschimpfen, wenn ich die Energie dazu hätte, Wahrheitsserum hin oder her.
Doch der Gedanke, auf diese Weise hundertprozentig die Wahrheit zu erfahren, war verlockend. Umso erstaunter war ich, dass er mir dieses Angebot überhaupt gemacht hatte. Er müsste jeder meiner noch so unangenehmen Fragen beantworten, ob er nun wollte oder nicht, egal welches Geheimnis dabei ans Licht kam.
Wahrscheinlich hatte er das nur erwähnt, weil er sowieso kein Wahrheitsserum dabei hatte und mir lediglich eine Reaktion entlocken wollte. Woher sollte er das Zeug auch haben? Von seiner Zeit bei den Rebellen konnte er es nicht aufgehoben haben, dann hätte er es schon längst der Regierung übergeben, und Clara konnte er auch nicht noch einmal getroffen haben.
"Ja, würde ich", murmelte ich schließlich leise, ohne ihn anzusehen. Ich wollte wissen, was er nun tun würde.
Erneut erfüllte die Stille den Wagen, ließ mich befürchten, dass Damon mir wirklich nur ein Zeichen, dass ich noch anwesend war, entlocken wollte. Ich hätte es wissen müssen.
"Rechts neben deinem Fuß ist ein Geheimfach in der Tür. Öffne es", durchbrach Damon das Schweigen.
Überrascht tatsächlich eine Antwort erhalten zu haben, starrte ich ihn zum ersten Mal seit wir wieder losgefahren waren an. Hatte er wirklich...?
Ehe er es sich anders überlegen konnte, suchte ich schnell nach besagten Geheimfach. Kurz bevor ich fluchend aufgeben und Damon für diese weitere Lüge endgültig ignorieren wollte, ertasteten meine Finger einen winzigen Knopf. Aufgeregt drückte ich darauf und beobachtete ungläubig, wie ein Stück der Innenseite der Tür aufklappte und einen Hohlraum, nicht größer als meine Hand, offenbarte.
Noch immer erstaunt, dass Damon offenbar diesmal die Wahrheit gesagt hatte, zog ich ein kleines Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit heraus. Sollte das das Wahrheitsserum sein, würde ich endlich Antworten auf all meine Fragen bekommen.
Zögerlich drehte ich das Fläschchen in meiner Hand. So gern ich jetzt gleich sehen würde, wie Damon das Zeug trank, wagte ich es dennoch nicht, es ihm sofort zu geben. "Woher weiß ich, dass das wirklich das Wahrheitsserum ist und nicht irgendetwas anderes?" Zumal ich mich erinnern konnte, dass Clara mir damals eine Spritze verabreicht hatte und ich es nicht trinken musste.
"Wirklich sicher kannst du eigentlich nur sein, wenn du selbst etwas davon nimmst", antwortete er. Bildete ich mir das ein oder war er noch unsicherer als ich? Nein, das musste ich mir definitiv einbilden.
Dummerweise war ich bereits zu dem selben Ergebnis gekommen. An sich wäre es kein Problem, doch die Tatsache, dass es vielleicht doch nicht das Wahrheitsserum sondern irgendeine andere Chemikalie war, beunruhigte mich. Am Ende würde ich noch freiwillig etwas schlucken, dass mir meinen freien Willen vollständig nahm oder etwas anderes Unangenehmes mit mir anstellte.
Andererseits hätte Damon mir dafür nicht erst die Geschichte mit dem Wahrheitsserum auftischen müssen.
Ich atmete tief ein, ehe ich meine Entscheidung traf und betete, dass ich sie nicht bereuen würde. "Gut, du aber zuerst", sagte ich entschlossen und öffnete das Fläschchen, ehe ich es Damon hin hielt.
Er warf mir einen undefinierbaren Blick zu, ließ mich kurz glauben, dass er doch noch einen Rückzieher machen würde. Doch er tat es nicht. Als seine Hand meine berührte, zuckte ich unwillkürlich zusammen, riss mich jedoch zusammen und beobachtete angespannt, wie er die Hälfte der Flüssigkeit in einem Zug runterkippte. Seinem Gesichtsausdruck nach schien es nicht sonderlich gut zu schmecken, wäre auch zu schön gewesen.
Unsicher nahm ich das Fläschchen wieder entgegen und versuchte irgendeine Veränderung an Damon festzustellen. Er sah jedoch lediglich weiterhin konzentriert auf die Straße, um in dem dichter werdenden Schneetreiben nicht die Kontrolle zu verlieren.
Sollte ich das Zeug wirklich trinken? Was, wenn Damon irgendwie immun gegen es war und es deswegen nur bei mir wirkte? Aber ich konnte nur wissen, ob er mir tatsächlich die Wahrheit sagte, wenn ich selbst den unaufhaltsamen Drang, auf jede Frage absolut ehrlich zu antworten, spürte.
Bevor ich doch noch meinem Zögern nachgeben konnte, schluckte ich den Rest der Flüssigkeit mit der selben Technik wie Damon. Der bittere Geschmack brachte mich beinahe zum Würgen; angewidert schüttelte ich mich, um das Gefühl loszuwerden und wartete.
Wie lange hatte es das letzte Mal gedauert, bis das Serum gewirkt hatte? Eine Minute? Zwei? Ich wusste es nicht mehr.
"Frag mich etwas", flüsterte ich. Die Angst, dass es nicht funktionieren würde, schnürte mir die Kehle zu, doch ich musste es wissen, ganz gleich, dass eigentlich ich diejenige war, die die Fragen stellen sollte.
Damon zögerte, schien nach etwas Unverfänglichen zu suchen, als fürchtete er meine Antwort. "Hasst du mich?", fragte er schließlich, wagte es nicht, mich anzusehen.
Hätte ich eine Wahl gehabt, hätte ich wohl geschwiegen oder ein wages 'vielleicht' von mir gegeben, doch ich hatte keine Wahl. "Nein", antwortete ich gegen meinen Willen. "Ich versuche es, aber es klappt nicht."
Also stimmte es, das, was wir genommen hatten, war das Wahrheitsserum. Damon würde mir die Wahrheit sagen müssen, egal was ich fragte. Doch ich musste vorsichtig sein, meine Fragen mit Bedacht wählen, um zu verhindern, dass er sie doch umgehen konnte.
Während ich überlegte, schielte ich unauffällig zu ihm hinüber. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als hätte er gerade eine positive Nachricht erhalten. Freute er sich etwa, dass ich ihn nicht hassen konnte? Ich hatte erwartet, dass er mich dafür verspotten würde, doch es wirkte, als wäre er glücklich über meine Antwort.
"Hast du mich jemals geliebt?" Im selben Moment als die Worte meinen Mund verließen, bereute ich sie. Ich sollte wichtigere Dinge fragen, nicht so etwas. Und doch war es diese Antwort, auf die ich am meisten wartete - und die ich am stärksten fürchtete. Egal wie sie ausfallen würde, ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte.
"Ja. Und ich tue es immer noch, auch wenn du mir das nicht glauben willst", antwortete er seufzend.
Fassungslos versuchte ich zu begreifen, was das bedeutete. Unter dem Einfluss des Wahrheitsserums konnte man nicht lügen, das wusste ich selbst nur zu gut. Also...liebte er mich wirklich? Ich konnte es nicht glauben, trotz der Tatsache, dass es die Wahrheit sein musste. Wie sollte ich es auch glauben können, nach all dem, was er mir angetan hatte? Das ergab keinen Sinn, man folterte doch nicht ohne zu zögern einen Menschen, den man liebte. Nichts davon ergab Sinn, absolut nichts.
Aber es musste einen Sinn geben, oder? Ich verstand es nicht, versuchte zu verstehen und scheiterte kläglich.
"Wie-wieso hast du mich dann bei Newton jeden Tag aufs Neue gequält?", murmelte ich verzweifelt, während ich versuchte den Sturm, der in mir tobte, irgendwie zu besänftigen. Die eine Seite in mir wollte Damon am liebsten um den Hals fallen, vergessen was passiert war und sich einfach über die Tatsache freuen, dass er mich liebte. Doch die andere Seite kämpfte dagegen an, beschwor mich, auf keinen Fall nachzugeben oder ihm gar zu verzeihen, rief mir die Schmerzen und die Angst ins Gedächtnis; es konnte nie wieder so werden wie vorher, egal was er sagte oder tat.
Und genau zwischen den beiden Seiten stand ich, zutiefst verunsichert was ich tun, wem ich glauben sollte.
"Weil...ich...ich wollte das nie, Lola. Sie haben irgendetwas mit meinen Erinnerungen gemacht, mich vergessen lassen, was ich für dich empfinde und mich stattdessen glauben lassen, ich hätte seit Monaten für die Regierung gearbeitet und nur dein Vertrauen gewinnen wollen. Ich weiß nicht, wie sie das geschafft haben, aber es war mir ziemlich egal, wie es dir ging. Mich hat nur mein eigenes Wohlergehen interessiert. Ich habe Befehle ausgeführt, ohne darüber nachzudenken, was ich eigentlich tue.
Nicht einmal als du aus dem Fenster gesprungen bist, habe ich daran gezweifelt, was ich getan habe. Ich wollte nicht, dass du stirbst, soweit hat der Teil von mir, den sie nicht manipuliert haben, noch mitgedacht, doch sobald du wieder in Sicherheit warst, hat der andere Teil wieder die Oberhand gewonnen.
Und ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich das alles bereue. Wenn ich nicht so dämlich gewesen wäre, zu glauben mich ungesehen der Militärbasis nähern zu können, wäre das alles nicht passiert."
Ich ließ ihn während seiner Erklärung nicht aus den Augen, versuchte die zwiegespaltenen Gefühle in mir irgendwie zu verdrängen und zumindest einigermaßen rational der Erklärung folgen zu können.
Schweigend saß ich da, versuchte das Gehörte zu verarbeiten. Es klang alles so unwahrscheinlich, dass es schon wieder logisch war, wie der Plan eines Genies, der jeden noch so winzigen Zweifel bereits im Vornherein beseitigte. Zum zweiten Mal innerhalb von ein paar Wochen wurde meine gesamte Welt auf den Kopf gestellt. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte oder wem. Ob ich überhaupt jemandem glauben konnte.
Sollte wirklich das die Erklärung gewesen sein? Eine perfekte Manipulation durch die Regierung? War ich die Einzige, der das zu einfach erschien? Oder war es so einfach, dass es schon wieder schwierig war? Meine Verwirrung steigerte sich von Sekunde zu Sekunde.
"Könntest du mir bitte den Gefallen tun und irgendetwas sagen, anstatt mich nur anzusehen als hätte ich dir gerade gesagt, dass alles nur ein Traum war und du in Wirklichkeit noch in dem Kinderheim bist?", murmelte Damon angespannt. Ich wusste nicht, was er erwartete. Dass ich lachen würde? Oder weinen? Oder ihn anschreien? Oder vielleicht doch sagen, dass jetzt ja alles gut ist?
Ich wusste ja nicht einmal selbst, was ich tun wollte.

Tadaaaa, ich habe meinen Schwur erfüllt und das Rätsel gelöst (oder vielleicht auch nicht?). Für einige von euch mag das jetzt vielleicht etwas unkreativ erscheinen, aber so war  es schon lange geplant :).
Übrigens habe ich gerade einen halben Herzinfarkt bekommen, weil Wattpad behauptet hat, ich hätte noch keine Geschichte geschrieben. Gott sei dank war das offenbar nur ein kurzzeitiges Problem ._.

Caeth-Die Rebellen || #Wattys2015Where stories live. Discover now