59. Kapitel

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Seufzend starrte ich in das gemächlich an mir vorbeifließende Wasser. Irgendjemand hatte mal gesagt, dass man sich theoretisch in jedem einigermaßen ruhigem Gewässer spiegeln konnte.
Nun, entweder hatte diese Person gelogen oder der kleine Fluss war nicht ruhig genug, jedenfalls konnte ich nichts erkennen. Meinen Schatten vielleicht, das könnte aber auch Einbildung sein. Somit musste ich wohl hoffen, dass ich nicht allzu schlimm aussah, überprüfen konnte ich es nicht.
Genauso wenig konnte ich wissen, ob es eine gute Idee war, das kleine Dorf zu besuchen. Ich hatte es zwar in den letzten drei Tagen beinahe ununterbrochen beobachtet, wusste aber trotzdem nicht mehr als vorher.
In regelmäßigen Abständen hatten sich unterschiedliche Gruppen für einige Stunden entfernt und waren gegen Abend wieder zurückgekehrt. Sie schienen nie irgendetwas mitzubringen, nur manchmal hatte ich das Gefühl, dass sich die Gruppe um zwei oder drei Menschen vergrößert, hin und wieder auch verringert hatte.
Aus diesem Verhalten würde ich wohl ohne nähere Informationen nie schlau werden. Einerseits war ich stark beunruhigt, andererseits musste ich feststellen, dass ich spätestens jetzt Hilfe brauchte.
Die Temperaturen sanken stetig weiter, während sich gewaltige Herbststürme anbahnten. Bis jetzt war ich größtenteils verschont geblieben, doch das konnte nicht ewig so weiter gehen. Früher oder später würde es wieder regnen oder gar schneien und ich bezweifelte, dass ich einen solchen Wetterumschwung ohne Schutz überleben würde.
Also hatte ich mich entschlossen, heute mein Glück herauszufordern. Seit Sonnenaufgang hatte ich versucht, mein Äußeres zumindest einigermaßen wieder herzurichten. Sehr viel gab es jedoch nicht mehr zu retten, den Eindruck, dass ich mehrere Tage lang im Wald gelebt hatte, konnte ich nicht leugnen. Ich verließ mich darauf, dass die Menschen hier Mitgefühl zeigten und mich nicht einfach auf der Straße stehen ließen.
Mit einem letzten hoffnungsvollen Blick, ob ich nicht vielleicht doch mein Spiegelbild erkennen konnte, entfernte ich mich von dem Fluss und schlug den, meiner Meinung nach, kürzesten Weg zum Dorf ein. Es war erstaunlich, wie schnell man sich in einem begrenzten Waldstück zurechtfand, wenn man mehr als ein paar Stunden darin verbracht hatte.
Nach einer gefühlten halben Stunde hatte ich den Waldrand erreicht. Zögernd blieb ich im Schatten der Bäume stehen und sah zu den Häusern herüber. Aus der Nähe sahen sie plötzlich nicht mehr ganz so einladend aus; sie standen nicht ungeordnet, wie man es erwarten würde, sondern dicht aneinander gedrängt, kreisförmig angeordnet. Um das gesamte Dorf zog sich ein kleiner Zaun, nur dort, wo die mit Schlaglöchern übersähte Straße begann, war ein geöffnetes Tor.
Mein Unbehagen wuchs weiter, irgendwie schienen die Menschen, die hier lebten, eine geschlossene Einheit zu bilden, unnahbar für jene, die nicht dazu gehörten.
Sollte ich wirklich hineingehen? Als Eindringling die Gemeinschaft stören? Oder doch lieber verschwinden und hoffen, dass ich bald einen anderen Zufluchtsort fand?
Vereinzelte Regentropfen, die schnell mehr wurden, nahmen mir schließlich die Entscheidung ab. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, ging ich mit entschlossenen Schritten zu dem Tor, wo ich einen Moment verweilte.
Ich wartete darauf, dass irgendjemand auftauchen und mich begrüßen beziehungsweise verjagen würde, doch ich blieb allein. Nichts rührte sich, die Straßen sahen verlassen aus. Hatte ich vielleicht einen allgemeinen Aufbruch verpasst? Aber dann würde das Tor doch nicht offen stehen, oder?
Hilflos drehte ich mich einmal im Kreis, ehe ich unsicher das Dorf betrat. Vielleicht hatten sie ja schon vor mir das drohende Unwetter bemerkt und sich in ihre Häuser zurückgezogen. Oder es war tatsächlich niemand da, doch dann könnte ich zumindest versuchen, in eines der Häuser einzubrechen.
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf schlich ich zitternd durch die Gassen und verdrängte das mulmige Gefühl in meinem Bauch. Es war überhaupt nicht ungewöhnlich, dass bei diesem Regen niemand vor die Tür ging oder das Tor bewachte. Wahrscheinlich waren diese Leute es nicht einmal gewöhnt, dass sich jemand hierher verirrte, so abgelegen wie das Dorf war.
Nach langem Überlegen brachte ich es endlich über mich, an die Tür des Hauses neben mir zu klopfen. Erst zögerlich, dann, mit wachsender Verzweiflung, immer lauter, bis es schon fast einem Hämmern glich.
Waren die alle schwerhörig oder ignorierten sie mich absichtlich?
"Wa-?", eine untersetzte Frau öffnete vorsichtig die Tür und riss die Augen auf, als mich sah. "Gute Güte, Kind, was machst du denn bei diesem Wetter hier draußen? Komm schnell rein, ehe du noch krank wirst."
Perplex über so viel unerwartete Freundlichkeit ließ ich zu, dass sie mich ins Innere zog. Eine wohlige Wärme empfing mich und ließ mich erleichtert seufzen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so gut gefühlt hatte. Schon allein deswegen war es die richtige Entscheidung gewesen, nicht im Wald zu bleiben.
"Setz dich erstmal hier hin und wärme dich ein bisschen auf, ich gehe schnell die anderen holen." Ohne meine Antwort abzuwarten verschwand die Frau durch eine weitere Tür und ließ mich allein.
Unsicher sah ich mich in dem großen Raum um, ehe ich mich dafür entschied, mich dicht neben dem Kamin auf einem weichen Teppich niederzulassen.
Während das prasselnde Feuer mich langsam trocknete, versuchte ich meine Neugierde zumindest halbwegs zu befriedigen. Das Zimmer, in dem ich mich befand, war offensichtlich eine Art Wohnzimmer. Abgesehen von dem großen Kamin befanden sich mehrere dunkelgrüne, sehr bequem aussehende Sessel, ein Sofa in der selben Farbe, ein, mit allen möglichen verschiedenen Dingen gefülltes Regal, ein moderner Fernseher sowie einige Landschaftsbilder an den Wänden in dem Raum. Abgerundet wurde der Eindruck von einem gemütlichen Familienhaus noch von den kuschligen, gemusterten Teppichen, die überall verteilt waren.
Ich hätte mich gerne intensiver mit dem Regal beschäftigt, wagte es jedoch nicht aufzustehen. Ich wollte die Freundlichkeit, die die Frau von vorhin mir entgegen brachte, nicht durch unpassendes Herumschnüffeln zerstören.
Stattdessen wartete ich angespannt, wen sie wohl holen wollte. Hoffentlich waren diejenigen genauso nett oder wenigstens höflich.
"Lola?"
Das war unmöglich. Ungläubig drehte ich mich herum - und wurde prompt in eine feste Umarmung gezogen. Völlig überrumpelt versteifte ich mich für eine Sekunde, ehe ich die Umarmung erwiderte. Wenn ich gewusst hätte, dass ich sie hier treffen würde, wäre ich schon viel eher hergekommen.
"Ich hätte nie gedacht, dass wir uns wiedersehen, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen", sagte sie strahlend und strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. "Aber was zum Teufel machst du hier?"
"Das selbe wollte ich dich auch gerade fragen, Haley." Ebenfalls grinsend musterte ich meine Freundin. Seit sie mich vor Newton versteckt hatte, waren acht Monate vergangenen, doch sie hatte sich kein bisschen verändert.
"Es freut mich, dass ihr beiden euch offenbar kennt, doch wir hätten auch gerne die Ehre zu erfahren, wer das mysteriöse Mädchen ist." Ein älterer Mann trat zu uns.
Sein durchdringender Blick erinnerte mich an eine gewisse Person und ließ mich unwillkürlich zurückweichen. Im selben Moment bereute ich es, mein Verhalten schien ihn nur noch misstrauischer zu machen.
Als ich weiterhin keine Anstalten machte zu antworten, sondern nur eingeschüchtert auf den Boden starrte, ging die freundliche Frau dazwischen. "Du verängstigst sie nur noch mehr, Holger", zischte sie den Mann an, ehe sie sich lächelnd mir zuwandte. "Ich bin Maria und das ist mein Mann Holger. Nimm's ihm nicht übel, er ist Fremden gegenüber immer so."
Wie beruhigend. Ich zwang mir ein winziges Lächeln auf die Lippen, konnte meine Unsicherheit jedoch nicht vollständig verstecken. "Ich heiße Lola, danke, dass du mich nicht vor der Tür stehen lassen hast."
"Was mich wiederum zu der Frage zurückbringt, was du zu dieser Jahreszeit mitten im Wald zu suchen hast", sagte Haley und zupfte mir kritisch ein Blatt aus den Haaren.
"Nun...also...", stammelte ich, bevor ich mich dazu entschied, die Wahrheit zu sagen. Eine andere Erklärung würde mir jetzt eh nicht auf die Schnelle einfallen. "Ich bin auf der Flucht."
"Was denn, immer noch?" Die Schwarzhaarige lachte kurz, offenbar dachte sie, ich hätte einen Scherz gemacht. Als sie bemerkte, dass niemand sonst lachte, verstummte sie und sah mich besorgt an. "Ich hatte gehofft, dass du irgendwo in Sicherheit wärst, nachdem du dich schon so unrühmlich von mir davon geschlichen hast."
"War ich auch", erwiderte ich leise.
"Und warum bist du jetzt nicht mehr dort?"
"Ist ne lange- " Ich wurde durch das Geräusch einer sich schließenden Tür unterbrochen. Keine Sekunde später spürte ich eine schwere Hand auf meiner Schulter. Reflexartig fuhr ich herum und griff im selben Moment nach dem Arm der Person. Noch in der Drehung ließ ich mich fallen. Mitgerissen von meinem Schwung flog der Mann über mich und knallte mit einem überraschten Laut mit dem Rücken auf den Boden. Gleichzeitig sprang ich wieder auf. Alle Muskeln bis zum Äußersten gespannt, bereit notfalls jeder Zeit wieder anzugreifen, wich ich panisch zurück.
"Hey, Lola, ganz ruhig. Das ist nur Toni, er tut dir nichts." Haley hatte sich als Erste aus der Schockstarre gelöst und versuchte mich zu beruhigen.
Ihr verunsicherter Tonfall brachte mich in die Realität zurück. Vor mir lag tatsächlich nur ein dunkelhaariger junger Mann, der mich noch immer mit großen Augen anstarrte und zu begreifen versuchte, wie er dorthin gekommen war.
Keine Spur von Damon, ich sah offenbar wirklich schon Gespenster.
"So eine Begrüßung erlebt man auch nicht alle Tage." Der junge Mann stand betont langsam auf und hielt mir mit einem schiefen Lächeln die Hand hin. "Toni. Wenn ich gewusst hätte, dass du ein Ninja bist, hätte ich nicht versucht dich zu erschrecken."
Ich biss mir auf die Lippe und rang mich dazu durch, seine Hand zu ergreifen. "Lola. Entschuldige, ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Ich wollte dich nicht verletzen."
Wann war ich so schreckhaft geworden? Ich konnte mir nicht erklären, warum ich so reagiert hatte. Früher wäre ich vielleicht zusammengezuckt, doch ich hätte niemals ohne mich bewusst dafür zu entscheiden jemanden angegriffen. So war ich doch sonst nie gewesen.
"Es ist kein Wunder, dass du so reagiert hast. Wer einmal die Erfahrung gemacht hat, mit Leikord gefoltert zu werden, wird nicht einfach so wieder normal", sagte Holger und kam stirnrunzelnd auf mich zu.
Leikord. Schon allein dieses Wort ließ mich erzittern.
"W-woher weißt du...?" Ich schaffte es nicht, den Satz zu beenden. Zu groß war die Erinnerung an die Schmerzen, zu stark das Bedürfnis, alles zu vergessen.
Ich zuckte erschrocken zusammen, als er plötzlich meinen rechten Arm ergriff. Der Pullover war etwas nach oben gerutscht und offenbarte mein Handgelenk. "Diese Farbe ist einzigartig. Ich gehörte zu den Wissenschaftlern, die das Gift entwickelten, ehe ich in den vorzeitigen Ruhestand ging", er schob vorsichtig meinen Ärmel weiter nach oben, bis das Ausmaß der dunkelblauen Zeichen auf meinem Arm vollständig sichtbar wurde. "Darf ich fragen, wen du so sehr verärgert hast, dass er oder sie der Meinung war, dass du solche Schmerzen verdient hast?"
Ich blinzelte die aufkommenden Tränen größtenteils weg und bemühte mich, nicht ununterbrochen auf meinen Arm zu starren. Die Erinnerungen an jeden einzelnen Schnitt waren noch immer lebendig, doch in den letzten Wochen hatte ich es geschafft sie einigermaßen zu verdrängen. Nun erneut die tattoo-ähnlichen Linien zu sehen, brachte alles mit voller Wucht zurück. Ein Grund mehr, warum ich den Ärmel immer so weit nach unten zog wie irgend möglich.
"Es ging mehr darum, dass ich ihm etwas nicht sagen wollte, aber im Endeffekt läuft es wohl aufs selbe hinaus", murmelte ich bedrückt. "Der Befehl ging von Cornelius Newton aus, ausgeführt hat ihn jemand anderes."

Und pünktlich Sonntag Abend ist ein neues Kapitel da ^^. Jetzt hat Lola also doch den Schritt zurück in die Zivilisation gewagt. Und Haley taucht auch endlich wieder auf :D.
Was haltet ihr von Maria, Holger und Toni? Glaubt ihr, dass sie Lola helfen werden? Oder hätte sie lieber nicht in das Dorf gehen dürfen? Und was wird als nächstes passieren? Hat jemand Vermutungen? ^^

Und noch eine Nachricht an alle 'stummen' Leser: auch euch scheint mein Buch ja zu gefallen, sonst würdet ihr es nicht bis hier hin lesen. Also macht mir doch eine Freude und votet oder kommentiert, gebt einfach mal ein Lebenszeichen von euch ;).

Caeth-Die Rebellen || #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt