51. Bleibst du bei mir?

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Meine Hand erhob sich langsam aus seinem Schoß, hinauf in sein Gesicht. Dabei hatte ich die einzelne Träne im Blick, die seine Wange in Zeitlupe überfloss. Bis meine Finger seine abgekühlte Haut trafen und sich behutsam auf seiner Wange niederlegten. Ein kaum merkliches Kribbeln zog durch meine Fingerspitzen.

Mit einer zaghaften Streifbewegung wischte ich die Träne weg, die aus seiner flammenden Höllenqual hervorgetreten war. Mein Blick wich von seiner eiskalten Wange, auf der nun meine warmen Finger ruhten, zu seinen Augen, die noch immer schuldbewusst auf mich blickten. „Du warst sieben. Wie hättest du ihn denn retten sollen? Das Geländer wäre so oder so gebrochen, dafür muss sich der Eigentümer des Turms verantworten, nicht du. Hör auf dich mit diesen ganzen Selbstvorwürfen zu ersticken." Meine Finger strichen leicht über seine Wange.

„Bitte hör auf, dir Vorwürfe zu machen.", hauchte ich und begann ihn eindringlich anzusehen. Ich konnte einfach nicht mit ansehen, wie er sich damit selbst zerstörte. 

„Ich habe es versucht. Sehr sogar. Meine Eltern hatten mich sogar drei Jahre zu einem Therapeuten gesteckt. Aber wirklich geholfen hatte das nie.", erklärte er leise.

"Nur weil es damals nicht funktioniert hat, heißt es nicht, dass diese Selbstbeschuldigungen berechtigt sind. Du bist ein unfassbar starker Mensch. Vielleicht war die Therapie einfach der falsche Weg für dich, um das zu verarbeiten. Vielleicht gibt es für dich einen Weg, der besser funktioniert. Oder einen passenderen Zeitpunkt. Du musst dir selbst verzeihen und aufhören dich dafür verantwortlich zu machen.", brachte ich meine Gedanken zum Ausdruck. Es stimmte, nachdem ich wusste was Hunter im Leben bereits durchgemacht hatte, hielt ich ihn für die stärkste Person, die ich bisher getroffen hatte. Gestern hatte er aus eigener Kraft versucht seine Angst zu bekämpfen. Dafür bewunderte ich ihn sehr. Neben ihm kam ich mir gleich noch privilegierter vor als ohnehin schon. Und meine Probleme schienen mir auf einmal nichtig und klein. 

"Aber...", versuchte er einzuwenden. 

Doch ich unterbrach ihn: „Bitte, Hunter! Vielleicht brauchst du einfach einen Grund wieso du es machen musst. Einen, der dich glücklich macht, ablenkt und hilft die Geschehnisse zu verarbeiten und zu akzeptieren. Egal was es ist. Solang es dir gut tut, wenn du daran denkst, ist es einen Versuch wert.", bittend blinzelte ich die aufkommende Nässe in meinen Augen weg und konzentrierte mich auf Hunter.

Hilflos klammerte sich meine Hand, die nicht auf seinem Gesicht ruhte, an seinem Arm fest. 

Nach einer bedrückenden, gefühlten Unendlichkeit des Schweigens ließ er den Kopf sinken, um ein kaum merkliches Nicken zustande zu bringen. Erleichtert atmete ich auf. Ein riesiger Stein fiel mir gerade vom Herzen. 

„Hast du einen guten Grund gefunden?", wagte ich es zu fragen. 

Wieder nickte er nuschelnd: „Ich denke schon.", ein Lächeln umzog meine Mundwinkel. 

Ich hatte wenigstens einen kleinen Sieg errungen, indem ich Hunter dazu gebracht hatte die Selbstvorwürfe vorübergehend zu bekämpfen. Hoffte ich zumindest. Und das beruhigte mich ungemein. 

Wieder breitete sich Stille um uns herum aus. 

„Wol... wollen wir... äh vielleicht... eventuell wieder... naja rein gehen?", schlug ich zögerlich vor. Ich wusste nicht ob ich unser Gespräch damit zu plötzlich beendet hatte oder es jetzt unangebracht war rein gehen zu wollen. Aber ich fand er sollte sich nicht alles Vergangene auf einmal um die Ohren schlagen. Außerdem wurde es mit fortschreitender Uhrzeit immer kühler. 

Wieder brachte Hunter bloß ein Nicken zustande. Irgendwie war sein emotionaler Zustand mehr als kränkend. Für mich und für ihn. Es passt eigentlich nicht zu dem Hunter, der mich am Tag unseres Kennenlernens plump ins Bett schmeißen wollte. 

All we have is NowWhere stories live. Discover now