(31) Noch eine Chance

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- Hermine -

Den nächsten Vormittag über kümmerte ich mich entweder um die sich über Kopfschmerzen beklagende Ginny, die nun wohl oder übel mit den Folgen ihres gestrigen Alkoholkonsums leben musste, oder stürzte mich in der Bibliothek in meine Lernbücher.

Nach dem Mittagessen stattete ich Petrichor einen Besuch ab. Der Vogel war schon wieder wie aus dem Nichts ein großes Stück gewachsen. Ich gab ihm die letzten Insekten aus den Gläsern und betrachtete ihn.

Er hatte sich eine Konstruktion aus ein paar kleinen Ästen und Blättern in dem Baum gebaut und machte es sich dort gemütlich, wenn er nicht gerade durch die Box flog.

Ich musste ihn rauslassen, das war mir bewusst. Und morgen in Pflege magischer Geschöpfe würde ich das auch tun, trotz einigen Sorgen um ihn. Je länger er hier drin war, desto schwerer würde es für ihn, sich draußen zurechtzufinden.

Ich setzte mich auf die Holzbank und sah ihn an. Aus irgendeinem Grund stand er aus seinem Nest auf, breitete seine Flügel aus und flog direkt auf meine Schulter. Seine Krallen lagen umklammernd auf dem Stoff meines Oberteils, doch es tat nicht weh.

Das Wesen machte es sich so gut es ging auf mir bequem. Die weichen Federn kitzelten meine Wange. Lächelnd schloss ich die Augen. Petrichor beruhigte mich und für wenige wundervolle Minuten waren meine Sorgen wie weggewischt.

  *

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen machte ich mich mit Ron auf den Weg zum Tierstall. Wir waren die ersten Schüler, was wohl daran lag, dass es noch ein paar Minuten bis zum Unterrichtsbeginn waren. So saßen wir dann wartend in Petrichors Box.

Der Augurey blieb diesmal auf dem Baum und ließ Ron nicht aus den Augen. „Irgendwie unheimlich", kommentierte er und starrte den Vogel ebenfalls an.

Mich durchschoss die Erinnerung daran, dass Petrichor Malfoy und mich beim Knutschen auch so unheimlich beobachtet hatte. Doch diesen Gedanken verschob ich ganz schnell ganz weit in die hintersten Ecken meines Bewusstseins. Das versuchte ich zumindest.

Als Hagrid und die meisten anderen Schüler die Scheune betraten, kam auch Malfoy in unsere Box geschlendert. „Morgen", sagte er mit rauer Stimme, als er seine Tasche in die Ecke legte. 

„Morgen", brummte ich zurück. Hätte ich ihn ignoriert, so wie Ron neben mir, wäre das wohl ein bisschen zu auffällig gewesen.

Ich stand auf und ging an ihm vorbei. Dabei atmete ich zwangsweise den kurz auftretenden Geruch nach Duschgel ein.

Zügig verließ ich die Box und suchte auf dem Gang nach Hagrid. Ich erzählte ihm von dem Vorhaben, Petrichor heute nach draußen zu lassen. Er willigte ein und somit kehrte ich zu meinen beiden Projektpartnern zurück.

„Okay, ich lasse ihn jetzt raus", teilte ich knapp mit. Ich stellte mich vor das Fenster und nahm Blickkontakt mit dem Augurey auf. Er machte einen kurzen, krächzenden Schrei und flog auf mich zu. Er landete auf meinem ausgestreckten Unterarm. „Wow", entfuhr es Ron, der einen großen Sicherheitsabstand eingerichtet hatte.

„Okay, Petrichor. Ich lasse dich jetzt raus. Aber du kommst zurück, hörst du? Und du passt auf dich auf. Und du fliegst nicht zu tief in den Wald..."

„Granger, übertreib nicht", unterbrach mich Malfoy mit amüsierter Stimme. Er trat neben mich und öffnete das Fenster.

Der Augurey zögerte nicht eine Sekunde und stieß sich von meinem Arm ab. Ehe ich mich versah flog er hinaus in die Lüfte, bis er nur noch als kleiner Punkt zu erkennen war. Ich fühlte mich einsam und verlassen, doch ich wusste, dass es das einzig Richtige war. Er bekam endlich die Freiheit, die er brauchte.

„Hermine, mach dir keine Sorgen. Er kommt wieder", tröstete Ron mich und legte einen Arm um meine Taille. 

„Ja, ist schon gut", entfuhr es mir kleinlaut.

  *

Malfoy und Ron beschäftigten sich, indem sie sich die anderen Wesen ansahen. Doch irgendwie fühlte ich mich einfach nicht gut. Ich sorgte mich um Petrichor, ich ärgerte mich für meine verwirrenden Gefühle gegenüber der Situation zwischen Malfoy und mir und Schuldgefühle gegenüber Ron hatte ich immer noch.

Am liebsten hätte ich mich bei irgendjemandem ausgeheult oder würde einfach nur gerne über alles mit jemandem reden. Doch das ging nicht und fraß mich fast von innen auf.

Es klingelte und die Doppelstunde war vorbei. Petrichor war noch nicht zurück, weshalb ich zumindest noch die Pause über auf ihn warten wollte. Die anderen Schüler verließen die Scheune und Ron kam zu mir, um mit mir zu warten.

Wir standen vor dem Fenster und starrten in den Himmel. „Wahrscheinlich verspeist er gerade ne richtig dicke Fee", vermutete Ron grinsend, während er mich von der Seite aus betrachtete. Ich murmelte nur zustimmend etwas. Meine Sorgen waren wahrscheinlich wirklich nur unbegründet.

„Hermine", meinte Ron dann nach wenigen Minuten Stille. 

„Ja?", machte ich und drehte mich zu ihm um. 

„Bist du sicher, dass du uns nicht noch eine Chance geben möchtest?" Ungläubig sah ich ihm dabei zu, wie er unsicher auf seinen Fuß hinabblickte, mit dem er über den Boden scharrte. Ich hatte natürlich verstanden, was er gesagt hatte. Mein Gehirn brauchte nur einige Sekunden, um die Worte richtig zu begreifen und einzuordnen.

Wie aus dem Nichts erschien das Bild von Luna vor meinem inneren Auge. Du hast seltsame Schwingungen um dich herum. Etwas liegt auf deinen Schultern. Ein Druck, als würdest du dich bald entscheiden müssen.

Bevor ich es realisieren konnte, trat Ron einen Schritt auf mich zu und strich mir die Haare hinter mein Ohr. Ich sah ihn an, überlegte fieberhaft, war unfähig, ein Wort heraus zu bringen.

Ron war Ron. Loyal, einfach, witzig, liebevoll, verpeilt und dennoch aufmerksam. Ron hatte immer zu mir gestanden und mich beschützt. Ron mochte mich.

Langsam beugte er sich zu mir hinunter und legte seine Lippen zögerlich auf meine. Unsicher umklammerte ich seinen Arm.

Ron war wunderbar. Ron mochte mich wirklich, sorgte sich um mich, brachte mich zum lachten, munterte mich auf. Ron war ein wunderbarer Freund, aber mehr auch nicht.

Die Gefühle gingen einfach nicht über Freundschaft hinaus. Ich fühlte nichts bei diesem Kuss. Nichts negatives, nichts positives. Ich fühlte mich innerlich leer und körperlich wie versteinert.

Ohne eine Vorwarnung wurde Ron von mir weggeschubst. Obwohl weggeschubst wohl das falsche Wort war. Irgendwas riss ihn gewaltsam von mir und er stieß mit einer Heftigkeit gegen die Wand, was ihn schmerzhaft aufstöhnen ließ.

Ich erschrak heftig und zuckte zusammen. Es ging alles so schnell. Malfoy stand plötzlich vor mir und drückte Ron brachial gegen die Wand neben uns. Der Slytherin packte ihn am Kragen seines Oberteils, baute sich vor ihm auf, während sich Ron geschockt und ängstlich klein machte.

„Was zur Hölle-", stieß Ron schwer unter ihm hervor.

„Lass deine dreckigen Finger von ihr!"

Petrichor | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt