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„Gerne mit Milch", sagte ich zu Jason, nachdem er heißen Kaffee in zwei große Tassen gegossen hatte.

Eine meiner letzten Nachtschichten als Krankenpflegerin war gerade angebrochen.

Glücklicherweise schien es heute - im Gegensatz zu gestern - recht ruhig zu sein.
Bisher gab es keine außergewöhnlichen Vorkommnisse.

Ich fand heraus, dass mein Kollege auch nur über das Internet von dem Raubüberfall erfahren hatte und merkwürdigerweise nicht wie sonst - von der Polizei direkt.

Einen Polizisten, der nach einer Operation auf unserer Intensivstation noch nicht ansprechbar war, hatte Jason bereits versorgt.

Der Patient, den wir gestern reanimiert hatten, war bisher ebenfalls noch nicht aufgewacht.

Sobald ich an ihn dachte, ertappte ich mich wieder dabei, etwas nervös zu werden.
Heute musste ich definitiv nach ihm sehen.
Nicht nur aus reinem Interesse heraus, sondern auch, weil ich ihn behandeln musste.

„Frohes Schaffen wünsche ich dir Lynn ... und ... ", Jason zog eine Augenbraue in die Höhe „ ... grübel nicht so viel. Du bist keine Ermittlerin, sondern Krankenpflegerin." Er zog sich seine Jacke über, lachte und verschwand durch die Tür, nachdem ich ihm mit verkniffenen Lippen gewunken hatte.

Nicht zu grübeln, mir keinen Kopf zu machen, die Seele baumeln zu lassen und einfach mal die Kontrolle abzugeben, fiel mir unheimlich schwer.
Und das schon mein Leben lang.
So eine Situation machte das natürlich nicht besser.

-

Als ich wenig später nach allen Patienten auf meiner Liste gesehen und sie versorgt hatte, blieb nur noch die Behandlung hinter der letzten Tür übrig.
Die in Zimmer Nummer 12.

Wie gestern stand ich mit der Hand an der Klinke vor dem Raum und spürte, wie sich mein Puls beschleunigte und sich meine Finger auf dem Metall plötzlich feucht anfühlten.

Ich hatte keine Ahnung was mich gleich erwarten würde. Wie er wohl aussah, wie es ihm ging oder was seine Werte über seinen Gesundheitszustand aussagten.


Obwohl ich wusste, dass er nicht antworten würde, klopfte ich vorsichtig - so hatte ich es in der Ausbildung gelernt.

Nachdem es wie erwartet still blieb, trat ich leise und mit kleinen Schritten ein.
Meine Augen scannten innerhalb weniger Sekunden jeden Winkel des Zimmers, während mein Blut viel zu schnell durch meinen Körper schoss.

Mein Blick fiel auf ihn.

Starr lag er im Krankenbett.
Seine Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen und wurde dabei von den lauten Geräuschen des Monitors begleitet, der seine Werte kontrollierte.
Dutzende Kabel und Schläuche waren an ihn angeschlossen um ihn am Leben zu halten.

Vorsichtig näherte ich mich ihm und konnte zum ersten Mal sein Äußeres wahrnehmen.
Obwohl ich es bereits zuvor gesehen hatte, hatte ich es weder bewertet noch gespeichert.

Seine Körpergröße füllte beinah die gesamte Länge des Bettes aus.
Seine freie Brust zierten einige Tattoos. Darunter traten definierte Muskeln und herausstechende Sehnen hervor.
Er schien sehr sportlich und trainiert zu sein, ohne dabei „aufgepumpt" zu wirken.

Als meine Blicke sein Gesicht trafen fielen mir zu erst seine Lippen ins Auge.
Trotz des Risses auf der linken Seite der Unterlippe wirkten sie weich und voll.
Daneben zeichnete sich ein Leberfleck ab, der fast so aussah wie ein kleines Grübchen.
Eine schmale Narbe zierte seine rechte Wange.
Sie schien bereits etwas älter und nicht in der geistigen Nacht entstanden zu sein.
Auf seinem Jochbein erblickte ich abgeschürfte Haut, unter der das Blut bereits zu trocknen begonnen hatte.

In leichten Wellen hingen ihm seine braunen Haare in die Stirn, die fast seine Augen berühren konnten.
Sie wirkten feucht. Hatte er geschwitzt?

Als ich nervös und immer noch nachdenklich meine Blicke von seinem Gesicht abwandern ließ, mich zu ihm herunterbeugte um nach der Wunde im Bereich seiner Hüfte zu sehen und dabei tief einatmete, strömte mir ein berauschender Geruch in die Nase, der mich beinah in eine andere Welt katapultierte.

Ich bewertete ihn als eine Art Mischung aus den Resten seines Parfüms, seines körpereigenen Duftes und der Wärme seiner Haut.
Ihn als angenehm zu bezeichnen wäre absolut untertrieben gewesen. Er fesselte mich komplett.

Ich schluckte.

Ich durfte mich nicht schon wieder durch ihn von meiner Arbeit ablenken lassen.
Einen weiteren Ausfall meiner Sinne konnte ich mir keinesfalls erlauben.

Ein paar Mal hintereinander blinzelte ich mit den Augen um mich wieder zu besinnen und schob dann mit kalten Fingern behutsam ein kleines Stück der Bettdecke zur Seite, damit ich seine Wunde unter dem Verband begutachten konnte.

Ich ließ meine Augen bewertend über sie wandern und nickte. Gut sah sie aus, stellte ich fest, bevor ich die Decke wieder über den Verband legte und langsam ausatmete.

Scheinbar hatte ich - ohne es zu bemerken - die Luft angehalten.

Obwohl sich meine Blicke nur schwer von seinem Körper lösen konnten, schaffte ich es dann doch noch, sie auf dem Monitor zu platzieren.

Die Werte sahen stabil aus. Also alles in Ordnung.

Trotzdem spürte ich unglaubliche Angespanntheit in meinem Körper, deren Ursache ich mir nicht erklären konnte.

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Criminal tension - Wie ich einem Straftäter verfielWhere stories live. Discover now