83 (Lesenacht: Kapitel 5/5)

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Nach dem Telefonat mit meiner Freundin hatte ich es tatsächlich geschafft, noch ein wenig zu schlafen.

Gegen halb sechs wachte ich auf, ohne von Cassie geweckt worden zu sein und zog mir ein paar frische Sachen an.

Kurz überlegte ich, ob ich sie nach etwas Mascara und Lippenstift fragen sollte, doch diesen Gedanken strich ich schnell wieder aus meinem Kopf.

Kieran hatte mich bloß in der Klinik dezent geschminkt erlebt und an allen anderen Tagen die ich mit ihm verbracht hatte, hatte ich mich weder großartig schön angezogen, noch Farbe aufgelegt.

Ich beschloss, dass ich das an diesem Tag auch nicht ändern wollte.

Wozu auch?

Mal abgesehen davon, dass man einen Mann nicht mit makellosem Teint und roten Lippen allein von sich überzeugen konnte, wollte ich das ja auch gar nicht.

Ich wollte ihn noch einmal sehen, ihn fragen wie es ihm ging, was er erlebt hatte und ihm dann alles Gute für seinen weiteren Weg wünschen, bevor ich morgen nach Hause fuhr.

Irgendwie hoffte ich, dieser Plan würde aufgehen.

-

Um kurz nach sechs saßen wir in Connors BMW und fuhren in Richtung JVA, während es langsam zu dämmern begann.

Die Stimmung im Auto war angespannt, aber positiv.

Wir redeten nicht viel, jedoch war deutlich zu spüren, dass Cassie, Connor und ich das keinesfalls unangenehm fanden, obwohl wir doch eigentlich Fremde waren und uns erst wenige Tage kannten.

Als wir 20 Minuten später auf das Gelände unseres Zielortes fuhren und vor dem riesigen Tor des Gefängnisses parkten, klopfte mein Herz wie verrückt.

In den vergangenen Wochen hatte ich meinem Körper und meinem Geist unglaublichen Strapazen ausgesetzt.

Immer wieder gab es Gefühlsachterbahnen, auf die sie reagieren mussten.

Freude, Trauer, Glück, Hass, Verzweiflung, Liebe, Freundschaft, Zusammenhalt, Nervosität, Wut...

Ich hoffte wirklich, ich würde mir genügend Ruhe gönnen können, sobald ich wieder zu Hause ankam und mich regenerieren, denn ich wusste als Krankenschwester nur zu gut, wie ungesund dieser Stress eigentlich war...

Dann zog Connor den Schlüssel aus der Zündung, holte mich damit aus meinen Gedanken und war der Erste, der ausstieg.

Cassie folgte ihm.

Mit kalten, zittrigen Fingern griff auch ich ebenfalls nach meiner Tür und öffnete sie.

Der frische Abendwind des Herbstes wehte mir sofort um die Ohren.

Mit Beinen, die sich anfühlten als wären sie aus Pudding, bewegte ich mich aus dem Auto heraus und kam auf dem Parkplatz zum stehen.

Die freundlichen Gesichter von Cassie und Connor forderten mich indirekt dazu auf, mich ihnen zu nähern.

Ich schmiss die Autotür zu und kam ihnen langsam entgegen.

Wortlos - und als wäre ich ihre kleine Schwester der sie Mut machen müssten - umarmten sie mich nacheinander.

„Er wird sich so sehr freuen dich zu sehen", flüsterte mir Connor in mein Ohr. „Da bin ich mir sicher."

Mit meinem Kopf an seinem Nacken schloss ich meine Augen, um den Stich in meinem Herzen besser verdrängen zu können, den mir seine Worte beschert hatten.

Ich blieb stumm, bis wir uns von einander lösten.

Während wir drei dann angespannt auf das Eingangstor mit dem Stacheldraht darüber starrten, das bestimmt noch zehn Meter von uns entfernt war, sprang mir mein Herz fast aus der Brust.

Criminal tension - Wie ich einem Straftäter verfielWhere stories live. Discover now