47 (Lesenacht: Kapitel 3/4)

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Nachdem wir uns für die Tour warm angezogen hatten und fertig zum Aufbruch im Flur standen, steckte ich meine Hände in die Jackentaschen und bemerkte, dass sich ein weicher Stoff in der linken Seite befand.
Und dann fiel es mir ein: Das Beautycase! Natürlich!
Millie hatte es mir hineingesteckt, kurz bevor sie mit Sue verschwunden war.

„Ich müsste nochmal kurz zur Toilette", sagte ich meinem Gast und verschwand nach seinem Nicken im Bad.
Dort legte ich schnell das Etui in den Schrank, schloss die Tür und dachte noch einmal darüber nach, weshalb meine Freundinnen anscheinend der Meinung waren, ich müsste mich mal wieder aufhübschen.

Ich ließ meinen Blick zum Spiegel wandern und sah direkt in meine Augen. Und ja, ich konnte Millie und Sue ein Bisschen verstehen.
Ich war blass, meine Augen wirkten klein und meine Haare hatten auch schon bessere Tage gesehen.
Ich nahm mir vor, mir morgen beim Fertigmachen vielleicht wirklich etwas mehr Mühe zu geben.
Schaden konnte das mit Sicherheit nicht.

-

Das Laub raschelte unter unseren Schuhen und die Zweige knacksten, als wir kurz darauf aufbrachen.

Eine halbe Stunde lang liefen wir nebeneinander her und genossen die Umgebung, als auf einmal sogar die Sonne zwischen den dicken Wolken hervorlugte und die Herbstluft erwärmte.
Ein lauer Wind wehte durch die Baumwipfel und brachte weitere bunte Blätter dazu, auf den Waldboden zu fallen und ihn zu bedecken.

Ich genoss die Strahlen auf meiner Haut und schloss meine Augen.

Die Natur tat mir unheimlich gut.
Nach den Strapazen und den emotionalen Achterbahnfahrten der letzte Tage, die mein Patient, meine Freundinnen, mein Opa, meine Eltern, die Hütte, die Kriminellen und die Polizei in mir ausgelöst hatten, fühlte sich dieser Moment wie Balsam für meine Seele an.

Seufzend blieb ich stehen und schaffte es, für einen kurzen Moment alles auszublenden.
Tief inhalierte ich den Geruch des Waldes und nahm die Sonnenwärme auf meinem Gesicht wahr.

Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich direkt in das leuchtende Grün-karamell meines Patienten, der vor mir stand und erwischte ihn dabei, wie er schnell wegschaute. So, als fühlte er sich bei etwas ertappt.

Verwundert zog ich meine Brauen hoch. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Schnell entwich ihm ein ungehemmter Spruch, dem ein Augenzwinkern folgte.
„Soll ich dich nicht lieber wärmen Lynn?"

Ungläubig schüttelte ich den Kopf und musste schmunzeln, wobei ich genau das eigentlich verhindern wollte.

Obwohl ich diese Sprüche doch ganz lustig und auch charmant fand, verunsicherten sie mich gleichermaßen und ließen meine Gefühle verrückt spielen.

In der einen Sekunde dachte ich noch, er würde mich doch nicht nur als guten Kumpel oder Teampartner sehen, so wie er mich kurz zuvor angeschaut hatte, aber dann schloss ich es sofort wieder aus, als dieser Witz über seine Lippen kam, denn der verleitete mich dazu zu denken, dass er mich damit einfach nur wieder auf den Arm nehmen wollte.

Und so ging das ständig.

Was machte er nur mit mir?
Er war einfach undurchschaubar und ich durcheinander.
Dieses Spiel trieb mich in den Wahnsinn.
Vielleicht sollte ich doch wieder meinen alten Plan verfolgen und mich von ihm distanzieren? Nur das hatte ja bisher nicht so wirklich funktioniert.

Oder sollte ich einfach mal gegen ihn spielen?

Ja, warum eigentlich nicht!

„Nein danke der Herr! Bin bestens versorgt", gab ich von mir und grinste nun ebenfalls frech.

Criminal tension - Wie ich einem Straftäter verfielWhere stories live. Discover now