Dix-huit

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Mit zusammengepressten Lippen scrollte ich durch die Kommentarspalte und blieb immer wieder an kotzenden Emojis und dem Worte Schlampe hängen, bis mir plötzlich jemand das Handy aus der Hand riss. Empört schaute ich meine Schwester an, die meinen Blick jedoch genauso empört erwiderte.

"Hey, was soll das?", fragte ich genervt und stemmte die Hände in die Seiten.

"Was das soll? Hatte ich dir nicht gesagt, dass du diese Kommentare nicht mehr lesen sollst? Du bist hier, um dich zu erholen und nicht, um dich noch mehr zu belasten", antwortete Coco beinahe fassungslos und ich knickte automatisch ein.

"Ich wollte doch nur... Es war ein Reflex, okay? Kriege ich jetzt bitte mein Handy zurück?"

"Nein."

"Nein?", wiederholte ich ungläubig.

"Nein. Dein Handy bleibt jetzt erstmal bei mir und deinen Laptop will ich auch haben. Dich muss man wirklich vor dir selbst schützen, Lou. Du bekommst die Sachen am Ende der Woche wieder."

"Am Ende der Woche? Und was soll ich deiner Meinung nach bis dahin machen, so völlig abgeschnitten von der Außenwelt?", fragte ich vorwurfsvoll.

"Spazieren gehen, ein Buch lesen, dich ausruhen, vielleicht was malen oder schreiben, so wie du es früher gerne gemacht hast?", schlug meine Schwester wie aus der Pistole geschossen vor und erntete dafür einen genervten Blick von mir.

"Sehe ich aus, als ob ich Sachen zum Malen mitgebracht hätte?"

"Sehe ich aus, als ob ich das vorgeschlagen hätte, wenn ich nicht dafür eingekauft hätte?", entgegnete Coco schlagfertig und ich starrte sie überrascht an.

"Du hast Malsachen für mich gekauft?"

"Ja, hab ich. Ich dachte mir schon, dass du eine Ablenkung gebrauchen könntest und ich wette du hast ewig nicht mehr gemalt."

Damit hatte sie leider absolut Recht. Früher hatte ich ständig gemalt, erst unser Haus und unsere Familie, die Blumen im Garten und den Hund, den ich mir wünschte, dann Pierre und Esteban, die Kartstrecke und die Karts, später meine Fantasien von Pierres und meiner Hochzeit und irgendwann nichts mehr. Meine Blöcke waren leer geblieben und die Stifte hatte ich in die unterste Schreibtischschublade geräumt, nur noch die Skizzen, die ich ständig irgendwohin kritzelte, waren von meiner Liebe zur Kunst übrig geblieben.

"Die Sachen sind oben in der Kommode unter dem Spiegel", verriet Coco und zwinkerte mir zu, "Aber zuerst gibst du mir noch deinen Laptop."

Ich gab ihr meinen Laptop tatsächlich und auch mein Handy überließ ich ihr ohne weiteres Murren, weil ich wusste, dass es nur zu meinem Besten war. Und zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass mir ein unsichtbares Gewicht von den Schultern wich, als ich meine elektronischen Geräte losgeworden war.

Von neuer Leichtigkeit erfüllt setzte ich mich im Gästezimmer mit den Malsachen an den Tisch und verschwand innerhalb kürzester Zeit in meiner eigenen Welt.
Es war völlig egal, was ich malte und es war auch völlig egal, ob mal ein Strich misslang oder etwas am Ende anders aussah, als ich es geplant hatte. Die Hauptsache war, dass ich meine Gefühle zu Papier bringen konnte und als Coco an meine Tür klopfte und mich zum Abendessen holte, stellte ich überrascht fest, dass ich den ganzen Nachmittag hier gesessen hatte.

"Ich komme gleich, will nur noch schnell Hände waschen", antwortete ich Coco und stand auf, um ins angrenzende Badezimmer zu gehen.

Als ich zurückkam, fand ich meine Schwester über den Tisch gebeugt und mir war sofort klar, welches Bild ihr ins Auge gestochen war. Ich hatte ihn frei aus dem Gedächtnis gemalt und dabei festgestellt, wie viele Details seines Gesichts ich mir in der kurzen gemeinsamen Zeit in Le Castellet gemerkt hatte.

"Ich hab erst gemerkt, dass ich ihn gemalt habe, als ich fertig war", murmelte ich und Coco zuckte erschrocken zusammen, als ob sie vergessen hätte, dass ich nur kurz im Bad war.

"Es ist großartig geworden. Pierre würde es lieben und es sich an die Wand hängen, so wie all deine Bilder früher."

Erst nach dem Aussprechen schien Coco klarzuwerden, was sie da gesagt hatte, denn sie schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund.

"Es tut mir so Leid Lou, ich wollte nicht-"

"Schon okay", beruhigte ich sie lächelnd, "Du hast Recht. Wenn die letzten fünf Jahre nicht passiert wären, dann hätte er dieses Bild seiner Sammlung hinzugefügt."

"Hast du eigentlich oft an ihn gedacht in all den Jahren? Er ist das einzige Thema, über das wir nie wieder gesprochen haben."

Ich ließ mir mit der Antwort einen Moment Zeit, trat neben meine Schwester an den Tisch und musterte das Bild von Pierre.

"Jeden Tag."

Ich spürte Cocos überraschten Blick auf mir.

"Jeden Tag? Fünf Jahre lang? Und du bist nie auf die Idee gekommen, dich vielleicht doch wieder bei ihm zu melden?"

"Ich denke, was du eigentlich fragen wolltest, war, ob ich meine Entscheidung bereut habe", stellte ich mit ruhiger Stimme fest, "Und die Antwort darauf ist simpel: Nein. Ich habe zu Pierres Bestem gehandelt und ich würde es jederzeit wieder tun.
Ob mein Entschluss mir das Herz gebrochen und unzählige Tränen verursacht hat?
Ja, definitiv.
Aber wenn ich Pierre fahren gesehen habe, dann ist mir jedes Mal aufs Neue klargeworden, dass es richtig war zu gehen. Ich hätte ihm im Weg gestanden und das war das Letzte, was ich wollte."

"Weißt du noch, als ich gestern gesagt habe, dass du selbstlos bist? Genau das hab ich damit gemeint. Du hast so gelitten und ich weiß, wie sehr du mit dir gerungen hast bis du dich mit deiner Entscheidung arrangieren und es Pierre sagen konntest. Du hast das alles für ihn getan und er weiß es nichtmal", sagte Coco nachdenklich und entlockte mir ein leises Seufzen.

"Er hätte geleugnet, dass es ihn mit dem zunehmenden Erfolg im Motorsport auch immer mehr überfordert hat, den Sport und sein Privatleben unter einen Hut zu bekommen. Der Rennsport hat mehr und mehr sein Leben bestimmt und er war ständig hin- und hergerissen zwischen den Dingen, die ihm wichtig sind. In die Formel 1 zu kommen war sein Kindheitstraum und mein Beitrag dazu war, ihn aus seiner Zwickmühle zu befreien und ihm die Möglichkeit zu geben, sich voll und ganz darauf zu konzentrieren."

"Aber das hast du ihm so nie gesagt", entgegnete Coco beinahe vorwurfsvoll und ich nickte schwach.

"Natürlich nicht. Pierre hat mich genauso sehr geliebt, wie ich ihn. Er hätte mich niemals für seinen Traum aufgegeben, deshalb musste ich ihm einen drastischeren Grund geben, mich aufzugeben."

"Aber zu behaupten du hättest ihn betrogen...", murmelte meine Schwester zweifelnd.

"Das war das Einzige, was mir eingefallen ist, das ihn dazu bringen würde, mich vollkommen aufzugeben. Dass er mich hassen musste, um mich gehen zu lassen, war schmerzhaft, aber offensichtlich notwendig. Und sieh dir nur an, wie weit er es gebracht hat. Er ist seit Jahren in der Formel 1 etabliert, hat sogar ein Rennen gewonnen und ist noch lange nicht fertig."

"Was ist mit-"

"Das", unterbrach ich meine Schwester sofort, weil ich wusste, was sie ansprechen wollte, "ist kein Thema mehr in meinem Leben. War es im Grunde genommen nie und wird es wahrscheinlich niemals sein. Und jetzt sollten wir runter zum Essen gehen, Jules wartet sicher schon."

Mit diesen Worten drehte ich mich um, verließ das Zimmer und machte mich auf den Weg in die Küche, aus der es bereits herrlich duftete.

Mir war klar, dass Coco diese Sache nicht für immer auf sich ruhen lassen würde, egal wie oft ich das von ihr verlangte. Über Pierre zu sprechen war eine Sache, aber das war eine ganz andere. Manche Themen ließ man besser in einer kleinen Kiste im Unterbewusstsein, die man nie wieder öffnen würde.

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Where stories live. Discover now