Vingt-deux

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"Du glaubst nicht, was heute passiert ist", begrüßte ich meine Schwester, als sie endlich meinen Anruf entgegennahm.

"Schieß los", erwiderte sie sofort neugierig.

"Ein Kollege und ich wurden für einen Schreibauftrag ausgewählt, für den wir zwei Wochen lang nach Italien fliegen werden."

"Was? Wie geil ist das denn? Wann soll's los gehen?", erkundigte Coco sich sofort Feuer und Flamme und ich ließ mich grinsend auf mein Bett fallen.

"Schon nächsten Montag. Wir fliegen nach Rom und sind dann zwei Wochen lang im ganzen Land unterwegs, um Material zu sammeln und den Artikel zu schreiben", erzählte ich begeistert und runzelte verwirrt die Stirn, als es am anderen Ende der Leitung erstmal still blieb, "Coco? Bist du noch dran?"

"Ja, ich... Lou, ist dir klar, was nächstes Wochenende in Italien ist?"

"Ähm, der 10. und 11. September?", erwiderte ich unsicher, weil ich nicht wusste, worauf meine Schwester hinauswollte.

"Da findet in Monza das Formel-1-Rennen statt, hast du das etwa vergessen?"

"Was? Das kann nicht sein, das..."

Hastig stand ich auf und lief ins Wohnzimmer, wo mein Laptop stand. Es bedurfte nur einer kurzen Recherche, dann stellte ich fest, dass Coco Recht hatte. Ausgerechnet zur Halbzeit unserer Reise würde das Rennen in Italien stattfinden und ich hatte es verschwitzt. Oh Gott, hoffentlich waren wir nicht zu genau dieser Zeit in der Lombardei! Sofort begann ich in meiner Tasche zu kramen bis ich endlich den Ablaufplan fand und einen Blick darauf werden konnte. Erleichtert atmete ich auf.

"Wir sind erst mittwochs nach dem Rennen in der Lombardei, also alles gut", beruhigte ich meine Schwester und mich und kehrte dann ins Schlafzimmer zurück, wo ich mich wieder auf mein Bett schmiss.

"Glück gehabt würd' ich sagen. Stell dir mal vor es wären Fotos von dir in der Nähe der Strecke aufgetaucht, dann wäre das ganze Drama im schlimmsten Fall wieder von vorne losgegangen", sagte Coco und ich verzog sofort das Gesicht.

"Das wäre eine absolute Katastrophe gewesen. Aber eigentlich war der Auftrag selbst nichtmal das Krasseste, was ich dir erzählen wollte. Ich brauche deinen schwesterlichen Rat."

"Den kriegst du. Worum geht's?"

"Der Kollege, mit dem ich nach Italien fliege... Wir kennen uns nicht und er hat vorgeschlagen, dass wir morgen Abend was essen gehen und dabei das Projekt besprechen", erzählte ich unsicher, "Irgendwie hat es sich angefühlt, als ob er mich zu einem Date eingeladen hätte, aber es kann auch sein, dass es ihm wirklich nur um die Arbeit geht. Ach, keine Ahnung. Wahrscheinlich interpretiere ich da zu viel rein."

"Wo geht ihr denn hin? Ist es ein chices Restaurant?", erkundigte Coco sich kritisch und ich zuckte mit den Schultern.

"Keine Ahnung, wir treffen uns am Haupteingang vom Büro und gehen dann wohl irgendwohin. Ich weiß nichtmal, was ich anziehen soll! Ich will nicht total overdressed zur Arbeit gehen und am Ende komplett falsch angezogen sein, aber es wäre auch mega peinlich, wenn ich zu schlicht gekleidet bin", entfuhr es mir verzweifelt und ich seufzte tief.

"Keine Sorge, da fällt uns schon was ein. Du hast doch diesen schönen A-Linien-Rock in weinrot, weißt du welchen ich meine? Nimm den und eine legere weiße Bluse, die du reinsteckst. Ein schwarzer Gürtel mit hübscher Schnalle wäre ein guter Eyecatcher und würde deine Taille betonen und dazu dann schwarz glänzende Pumps. Damit bist du nicht viel chicer angezogen als sonst auch, aber wenn du dir nach Feierabend einen halbhohen Dutt machst und passenden Lippenstift zum Rock aufträgst, ist es für jedes Restaurant angemessen, das nobler als McDonalds ist."

Ein dankbares Lächeln schlich sich auf meine Lippen.

"Du bist wirklich meine Rettung, Coco! Und zu McDonalds gehen wir sicher nicht, ich könnte mir eher vorstellen, dass wir zu einem Italiener gehen."

"Verstehe, dem Thema angepasst sozusagen."

"Eher dem Kollegen angepasst. Er hat wohl italienische Wurzeln."

"Ulala, und sieht er gut aus? Viele Italiener sehen gut aus", hakte meine Schwester sofort nach und ich stellte fest, dass ich diese Frage nicht auf Anhieb beantworten konnte.

"Ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung. Ich hab mich auf unseren Chef und den Auftrag konzentriert und mir Thierry gar nicht so genau angeschaut."

"Thierry? Für italienische Wurzeln ist das aber ein sehr klassischer französischer Vorname", stellte Coco beinahe enttäuscht fest.

"Sein Nachname gleicht das aus. Er heißt Thierry Di Lorenzo."

"Oha, das ist wiederum wirklich klassisch italienisch. Und wenn du jetzt nochmal drüber nachdenkst, sah er gut aus?", wiederholte sie ihre Ausgangsfrage kichernd und entlockte mir damit ebenfalls ein Grinsen.

"Also schlecht sah er definitiv nicht aus. Volles, dunkelbraunes Haar und bernsteinfarbene Augen, wenn ich mich richtig erinnere."

"Ich brauche auf jeden Fall so bald wie möglich ein Foto von ihm", verlangte meine Schwester und brachte mich damit zum Lachen.

"Alles klar, ist notiert."

"Ganz ehrlich Lou? Es wäre zwar sehr klischeehaft, wenn ihr was miteinander hättet, aber vielleicht würde dir das mal wieder ganz gut tun. Seit Pierre hattest du keine richtige Beziehung mehr, du hast dich nur in die Arbeit gestürzt. Es gibt sicher schlechtere Ablenkungen als einen heißen Italiener."

"Erstens wäre das Thierry gegenüber sehr unfair, wenn ich von vornherein nur auf eine Ablenkung abziele, und zweitens brauche ich gar keine. Dass ich Pierre wiedergesehen habe und wir Sex hatten, hat mich zwar erstmal ziemlich durcheinander gebracht, aber das ist vorbei und ich bin durch mit dem Thema. Wir werden uns nie wieder sehen, also verschwende ich auch keinen Gedanken mehr an ihn", antwortete ich bestimmt, obwohl ich wusste, dass ich meine Schwester gerade anlog. Erst gestern hatte ich mir mit Tränen in den Augen alte Fotos von uns und Bilder, die ich von ihm gezeichnet hatte, angesehen, aber das wollte ich Coco aus irgendeinem Grund nicht verraten.

"Du musst es wissen, es ist dein Leben. Ich denke nur, dass du es verdienst glücklich zu sein, aber dass du vielleicht selbst etwas mehr Initiative ergreifen musst, um dein Glück zu finden."

Mit leerem Blick starrte ich an die Decke und schwieg einen Moment lang, dann seufzte ich leise.

"Pierre war mein Glück. Und egal wie lange es her ist, ich kann mir nicht vorstellen jemals wieder jemanden so sehr zu lieben wie ihn", gestand ich leise.

"Man verliebt sich mehr als einmal im Leben, Lou. Und es wird jedes Mal genauso überwältigend und wunderschön wie beim ersten Mal."

"Das sagt sich leicht, wenn man die Liebe seines Lebens schon geheiratet hat", entgegnete ich mit einem bitteren Unterton in der Stimme, den ich nicht beabsichtigt hatte.

"Ich weiß, aber du wirst auch noch den Richtigen finden, daran zweifle ich nicht. Die Liebe meines Lebens hat mich übrigens gerade nach unten gerufen, weil das Essen fertig ist", antwortete Coco und brachte mich mit ihrer Wortwahl zum Schmunzeln.

"Alles klar, dann geh mal runter zu Jules und grüß' ihn von mir. Ich rufe jetzt noch schnell Maman und Papa an, um ihnen von dem neuen Auftrag zu erzählen."

"Mach das und grüß' sie lieb von mir."

"Wird erledigt. Mach's gut Coco. Und danke nochmal für deine Hilfe."

"Dafür hat man eine große Schwester. Mach's gut!"

Sie legte auf und ich tat es ihr gleich, dann blieb ich nachdenklich auf meinem Bett liegen. Im Gegensatz zu Coco war ich mir nicht so sicher, ob ich jemals wieder so lieben konnte wie ich damals Pierre geliebt hatte, aber es gab nur einen Weg, um das herauszufinden und der war, sich wieder zu verlieben. Nicht, dass man sowas planen konnte, aber vielleicht hatte meine Schwester ja Recht damit, dass ich die Initiative ergreifen sollte, statt das alles unbeteiligt an mir vorbeiziehen zu lassen.








Ich liebe die Telefonate zwischen Lou und ihrer Schwester😅 Einmal Stil- und Lebensberatung zum Mitnehmen☺️

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Where stories live. Discover now