Cinquante

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Ich hörte nach unserem Telefonat tatsächlich die ganze Woche lang nichts mehr von Esteban oder Elena. Wie sehr mir das wirklich weh tat, verleugnete ich vor mir selbst und stürzte mich stattdessen in die Arbeit, was halbwegs gut funktionierte.

Doch die Woche verging rasend schnell und ehe ich mich versah, saß ich am späten Freitagnachmittag im Zug Richtung Metz, um zu meiner Schwester und meinem Schwager zu fahren, weil Coco mich verdonnert hatte, mein Geburtstagswochenende bei ihnen zu verbringen.

Es fiel mir schwer zu glauben, dass ich morgen tatsächlich schon 26 werden würde. War ich nicht eben erst 14 gewesen und hatte mich in Pierre verliebt? Hatte ich nicht gerade noch meinen 19. Geburtstag gefeiert und war einen Monat später von Pierre gefragt worden, ob ich ihn heiraten wollte? Lag ich nicht eben erst nach der Feier zu meinem 20. Geburtstag im Bett und fragte mich, wie lange er noch so weitermachen konnte bis es ihn vollständig zerriss?

Doch jetzt saß ich hier, all die Jahre später, und so vieles war anders gekommen als geplant. Und das Schmerzhafteste war, dass ich vor ein paar Wochen einen Moment lang davon geträumt hatte, meinen Geburtstag dieses Jahr mit Pierre, Esteban, Elena und einigen gemeinsamen Freunden von früher zu feiern. Aber ich war selbst Schuld daran, dass diese Wunschvorstellung wie eine Seifenblase zerplatzt war.

Nachdenklich beobachtete ich die Landschaft, die vor dem Fenster an mir vorbeizog und entdeckte auf einer parallel zu den Bahnschienen verlaufenden Straße einen Porsche, was mich unweigerlich die Mundwinkel in die Höhe ziehen ließ. Wie oft hatte ich in den letzten knapp sechs Jahren an Pierre gedacht, wenn ich einen Porsche gesehen hatte, weil er sich als Kind immer einen gewünscht hatte? Und jedes Mal hatte es mir das Herz gebrochen, wenn ich ihm instinktiv ein Foto davon hatte schicken wollen und mich dann wieder daran erinnert hatte, dass das nicht ging, weil ich nicht mehr Teil seines Lebens war.

Innerlich seufzend schloss ich für einen kurzen Moment die Augen und atmete tief durch, ließ meine Gedanken wie Blätter im Wind wahllos umherfliegen und streifte ab und zu Erinnerungen an eine bessere Zeit. Es war sicher nicht immer alles perfekt gewesen früher, aber ich hatte die schwierigen Momente niemals allein durchstehen müssen, sondern immer Pierre an meiner Seite gehabt.

Ich fragte mich, ob er auch so dachte. Ob er auch manchmal dasaß und an früher dachte, dem hintertrauerte, was wir hatten und was wir hätten haben können. Ein Teil von mir wünschte sich, dass ich mit diesen verzweifelten Gedanken nicht allein war, der andere Teil hoffte um Pierres Willen, dass er nicht von denselben Sehnsüchten gequält wurde wie ich.

Die Lautsprecherdurchsage, die den Bahnhof von Metz als nächsten ankündigte, riss mich aus dem Chaos in meinem Kopf und ich beeilte mich, die wenigen ausgepackten Sachen wieder in meinen Rucksack zu stopfen bevor ich meine kleine Reisetasche von der Gepäckablage hob. Wenige Augenblicke später fuhr der Zug in den Bahnhof ein und sobald er angehalten und ich die Tür geöffnet hatte, stieg ich aus und fühlte mich wie in einer anderen Welt.

Wenigstens für dieses Wochenende wollte ich mich nicht mit meinem Liebeskummer wegen Pierre und meiner Niedergeschlagenheit wegen Esteban und Elena auseinandersetzen, ich wollte einfach nur die Zeit mit Coco und Jules genießen und meinen Geburtstag feiern.

Suchend sah ich mich um und es dauerte nur wenige Sekunden bis ich meine breit grinsende Schwester am Ende des Bahnsteigs entdeckt hatte. Grinsend verstärkte ich den Griff um meine Reisetasche und lief zu ihr, um sie nach einer knappen Woche, die sich wie eine Ewigkeit angefühlt hatte, wieder in den Arm zu nehmen.

"Hallo Fast-Geburtstagskind", nuschelte sie in meine Haare, dann drückte sie mir einen Schmatzer auf die Wange und löste sich von mir.

"Hallo allerliebste Lieblingsschwester", antwortete ich schmunzelnd, bevor ich leicht in die Knie ging und ihren Bauch anschaute, "und hallo kleine Nichte oder kleiner Neffe."

Meine Worte entlockten Coco ein kurzes Auflachen, dann wanderte ihre Hand zu ihrem Bauch und strich sanft darüber.

"Jules und ich wollen uns mit dem Geschlecht überraschen lassen", verriet sie mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen und ich seufzte tief.

"Du weißt wie ungeduldig ich bin, es wird mich fertig machen es nicht zu wissen", jammerte ich und raufte mir gespielt verzweifelt die Haare.

"Tja, du wirst dich wohl doch in Geduld üben muss. Aber jetzt komm erstmal mit nach Hause, ich hab vor der Abfahrt die Muffins aus dem Ofen geholt, die ich für morgen gebacken habe und wenn du brav bist, darfst du vielleicht heute schon einen probieren."

"Was für Muffins hast du denn gebacken?", erkundigte ich mich mit großen Augen während ich neben Coco auf den Ausgang des Bahnhofs zusteuerte.

"Schoko mit Sauerkirschen."

"Oh, wie ich dich liebe!", entfuhr es mir begeistert, denn das waren meine absoluten Lieblingsmuffins.

"Glaub mir, das weiß ich. Apropos Liebe, hast du nochmal was von Pierre oder Esteban gehört?", fragte Coco mit gesenkter Stimme und ich schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf.

"Nein, leider nicht. Vielleicht schreibt mir jemand morgen zum Geburtstag, das wäre schön. Aber ehrlich gesagt kann ich es auch keinem von ihnen übel nehmen, wenn sie's nicht tun. Ich hab richtig Scheiße gebaut und sie haben jedes Recht, deshalb wütend auf mich zu sein."

"Mag sein, aber sie lieben dich beide und das ganze ist schon so lange her", gab meine Schwester zu bedenken, woraufhin ich nachdenklich den Kopf schüttelte.

"Für dich und mich ist es lange her, aber für die beiden ist es gerade erst passiert. Und ganz ehrlich, wenn Pierre mir etwas in diesem Ausmaß verheimlicht hätte, würde es mir auch schwerfallen, ihm wieder zu vertrauen und zu verzeihen. Besonders nachdem er mir erst vor wenigen Wochen die Lüge wegen des Betrugs verziehen hat."

"Stimmt auch wieder. Na ja, jetzt beiseite mit den negativen Gedanken, schließlich wollen wir dieses Wochenende deinen Geburtstag feiern und Spaß haben", sagte Coco lächelnd und ich nickte schwach, auch wenn ich mich viel lieber irgendwo verkrochen und nie wieder rausgekommen wäre.

Während der Autofahrt redete meine Schwester fröhlich über Babykleidung und die Tatsache, dass sie Jules gegen ihren Willen zunehmend in den Wahnsinn trieb, dann erreichten wir unser Ziel und stiegen aus. Der Anblick der ausgestorbenen Blumenbeete vor dem Haus zog meine Stimmung weiter herunter, aber natürlich blühten Cocos geliebte Magnolien im Dezember nicht.

In diesem Moment wurde die Haustür geöffnet und als ich meinen Schwager entdeckte, der mich freudestrahlend ansah, schob ich meine trüben Gedanken so weit wie möglich von mir weg und lächelte ebenfalls. Die beiden hatten sich so viel Mühe gegeben, damit ich einen schönen Geburtstag bekam, es wäre nicht fair, wenn ich das mit schlechter Laune verderben würde.

Also bemühte ich mich zu lächeln, ließ mich von Jules mit einer herzlichen Umarmung begrüßen und bezog dann das Gästezimmer. Als ich mich umsah und meinen Blick über die Einrichtung schweifen ließ, kamen sofort die Erinnerungen an die Woche im August zurück, die ich hier verbracht hatte.

Damals war mein größtes Problem gewesen, dass die ganze Welt mich für Pierres Freundin hielt und heute war es genau das, was ich sein wollte. Ich wollte die sein, die ihn in den Paddock begleitete und bei den Rennen unterstütze, die für ihn jubelte und ihm live dabei zusehen durfte, wie er das tat, was er liebte.

Die Wahrheit war, dass ich mir gerade nichts sehnlicher wünschte, als wieder mit ihm zusammen zu sein und uns nochmal eine Chance zu geben, denn mehr als diese Chance brauchten wir nicht. Unsere Liebe war immer noch so stark wie damals und dieses Mal würde ich alles geben, um unsere Beziehung nicht wieder zu zerstören.

Aber ich befürchtete, dass Pierre uns diese Chance nach all den Geheimnissen nicht mehr geben würde. Und ich konnte es ihm nicht verdenken.

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Where stories live. Discover now