Trente-six

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Ich hatte jede freie Sekunde am 30.10. - also alle Sekunden, in denen ich gerade nicht das Formel-1-Rennen schaute - damit verbracht, an Pierre und unser bevorstehendes Treffen zu denken. Abends stand ich geschlagene zwei Stunden vor dem Kleiderschrank und überlegte, was ich morgen anziehen würde.

Letztendlich hatte ich mir einen schwarzen Bleistiftrock, der mir etwas über die Knie reichte und eine weiße Bluse mit schwarzer Schleife rausgelegt, trotzdem überlegte ich am nächsten Morgen noch mehrere Male hin und her, ob ich nicht doch etwas ganz anderes anziehen sollte. Aber ich blieb dabei und musste, als ich schließlich in Mantel und Stiefel geschlüpft war und das Haus verließ, unweigerlich den Kopf darüber schütteln, dass ich mir so viele Gedanken um mein Outfit machte.

Ob ich es wollte oder nicht, der Grund für mein Gedankenkarussel war Pierre und so sehr ich den Tag über auch versuchte mich auf die Arbeit zu konzentrieren und ruhig zu bleiben, es war schier unmöglich. Immer wieder fiel mein Blick auf die Uhr und ich rechnete ständig die verbleibenden Stunden bis zu unserem Treffen aus, dann war es endlich soweit. Um kurz vor 18 Uhr loggte ich mich am Computer aus, packte meine Sachen und kontrollierte mit Hilfe der Handykamera nochmal mein Aussehen, dann verließ ich das Büro.

Ich musste mich nur ein einziges Mal umsehen, dann hatte ich Pierre entdeckt. Er hatte vorgeschlagen mich von der Arbeit abzuholen und ich hatte das für keine gute Idee gehalten, weil ich Angst hatte, jemand könnte ihn erkennen und Fotos machen, aber er hatte mir versichert, dass er sich etwas einfallen lassen würde, um das zu verhindern. Und das hatte er wirklich getan, denn er trug eine Halloween-Maske, die einen Großteil seines Gesichts verdeckte und mich an das Phantom der Oper erinnerte.

Schmunzelnd überquerte ich die Straße und lief zu ihm, dann standen wir voreinander und sahen uns unschlüssig an. Hand schütteln? Umarmen? Corona-mäßig die Faust geben? Aus Hilflosigkeit überspielte ich die unangenehme Situation mit einem leisen Lachen, in das Pierre erleichtert mit einstimmte und schon war das ganze etwas weniger schlimm.

"Hi", begrüßte ich ihn schließlich und spürte, wie meine Nervosität einen neuen Höhepunkt erreichte.

"Hi. Danke, dass du dich mit mir triffst."

"Kein Ding. Coole Maske übrigens."

"Danke. Ich hab auch eine für dich, immerhin ist heute Halloween. Und ich hab extra ein Restaurant rausgesucht, in dem heute Abend auch Halloween-Motto ist, sodass wir mit unseren Masken nicht auffallen."

Überrascht sah ich ihn an, er hatte sich ganz offensichtlich viele Gedanken über dieses Treffen gemacht. Grinsend reichte er mir meine Maske, die seiner von der Form her etwas ähnelte. Der größte Unterschied war wohl die Farbe, denn Pierres Maske war weiß und passte damit hervorragend zu dem weißen Hemd, das er trug und bei dem er den obersten Knopf offen gelassen hatte, während meine Maske schwarz war und ein wenig glitzerte. Sobald ich sie aufgesetzt hatte, nickte Pierre zufrieden und drehte den Kopf dann nach links.

"Das Restaurant ist in dieser Richtung, aber es ist nicht weit, das können wir einfach laufen."

"Okay, dann führ uns mal dahin", antwortete ich lächelnd, verstärkte den Griff um meine Handtasche und folgte meinem Ex-Verlobten.

Unterwegs redeten wir über belangloses, ich erkundigte mich nach seinem Termin bei Alpine heute morgen und er fragte mich, wie die Arbeit gelaufen war, dann erreichten wir unser Ziel. Ich kannte das Restaurant nicht, aber es machte einen netten Eindruck und kaum, dass wir es betreten hatten, kam auch schon ein Kellner auf uns zu, der eine schlichte schwarze Maske trug, die lediglich seine Augenpartie verdeckte.

"Guten Abend, haben Sie reserviert?"

"Ja, Madame und Monsieur Vinet", antwortete Pierre und ich spürte unweigerlich ein melancholisches Ziehen in der Brust, weil mich das an früher erinnerte. Als Pierre erfolgreicher wurde und sein Bekanntheitsgrad in unserer Region wuchs, hatten wir für Reservierungen immer meinen Nachnamen angegeben, genauso wie Pierre es auch heute Abend getan hatte.

Der Kellner nahm uns unsere Jacken ab und bat uns dann ihm zu folgen und während wir das Lokal durchquerten, stellte ich fest, dass die meisten anwesenden Gäste ähnlich verkleidet waren wie wir, also höchstens mit einer Maske oder etwas anderen unauffälligen. Dass das hier ein mindestens mittelständisches Restaurant war, war immer noch deutlich zu sehen.

Wir erreichten einen Tisch in der Ecke und ich ahnte, dass Pierre bereits beim Reservieren darum gebeten hatte, um die Wahrscheinlichkeit, dass wir erkannt wurden, noch weiter zu reduzieren. Sobald wir uns hingesetzt hatten, brachte man uns die Speisekarte und ich war dankbar, dass wir erstmal einige Augenblicke schweigend in die Karten schauten, sodass meine Nervosität ein wenig abflauen konnte.

Als wir jedoch unsere Getränke und das Essen bestellt hatten, führte kein Weg mehr daran vorbei, dass wir uns dem Thema näherten, wegen dem Pierre dieses Treffen überhaupt vorgeschlagen hatte.

"Also, ähm, danke nochmal, dass du dich mit mir triffst. Ich hab viel über das nachgedacht, was du gesagt hast und ich denke ich versteh's. Okay, verstehen ist vielleicht noch etwas übertrieben, aber ich kann es nachvollziehen. Du hieltest das für die beste Lösung und auch wenn das nicht der Fall war, kann man es jetzt sowieso nicht mehr ändern. Und ich weiß, dass es dir selbst weh getan hat, mir absichtlich weh tun zu müssen, damit dein Plan aufgeht. Das war sicher nicht einfach für dich, Lou."

Ich nickte bloß, weil ich absolut nicht wusste, was ich sagen sollte, aber Pierre war noch nicht fertig.

"Die Sache ist die: All das ist Jahre her. Natürlich hat es in der gesamten Zeit immer noch weh getan und ein wenig tut es das auch noch, aber ich möchte diesen Schmerz endlich hinter mir lassen und nach vorne sehen und deshalb möchte ich dir verzeihen. Nicht nur, damit dein schlechtes Gewissen etwas beruhigt wird, sondern auch um meinetwillen. Indem ich dir dein Handeln nachtrage, mache ich es für uns beide bloß schwerer und das will ich nicht. Also verzeihe ich dir, damit wir beide nach vorn sehen können."

Zu sagen ich sei überrascht, wäre eine Untertreibung gewesen. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass Pierre mir nur eine Woche nach unserem klärenden Gespräch bereits verzeihen würde, andererseits konnte ich seine Begründung sehr gut verstehen. Ein schwaches Lächeln machte sich auf meinen Lippen breit.

"Danke."

Jetzt lächelte auch Pierre.

"Allein für dieses Lächeln hat es sich gelohnt dir zu verzeihen. Hast du dich denn schon entschieden, ob du mir verzeihst? Wegen Le Castellet, meine ich."

"Ich glaube das kann ich nicht vom einen auf den anderen Moment, sondern das muss sich entwickeln. Ich bin dir auf jeden Fall schon sehr viel weniger böse deswegen, weil du dich entschuldigt hast", antwortete ich und bekam ein verständnisvolles Nicken zur Antwort.

"Das ist okay, lass dir Zeit. Ich werde ab jetzt mein Bestes geben, um dich davon zu überzeugen, dass ich nicht so ein Arschloch bin, wie du damals gedacht hast", versprach er, dann wurden wir unterbrochen, weil die Getränke kamen.

Kaum hatte der Kellner serviert und uns wieder allein gelassen, griff Pierre nach seinem Glas und ich tat es ihm gleich, dann stießen wir an.

"Auf die Zukunft?", fragte ich und mein Gegenüber nickte schmunzelnd während unsere Gläser aneinander klirrten.

"Auf die Zukunft."

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Where stories live. Discover now