Cinquante-quatre

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Es wurde trotz der vielen Tränen am Tag ein wirklich schöner Heiligabend. Nach der Kirche kehrten wir ins kuschelig warme Haus zurück und halfen alle gemeinsam beim Kochen, nach dem Essen packte mein Vater seine Gitarre aus und wir sangen zusammen Weihnachtslieder, dann packten wir unsere Geschenke aus und ließen den Abend vor dem Weihnachtsbaum ausklingen.

Als der neue Tag schon einige Stunden alt war, fiel ich endlich erschöpft ins Bett und griff nach meinem Handy. Zögerlich öffnete ich die Instagram-App und suchte nach Pierres Account. Er hatte noch keinen Weihnachtspost gemacht, aber in seiner Story wünschte er frohe Weihnachten und als ich sein fröhliches Grinsen sah, verspürte ich einen schmerzhaften Stich in der Brust.

Dieses Grinsen fehlte mir, es fehlte mir so sehr. Aber ich war selbst schuld, das er es mir nicht mehr zeigte.

Eine kleine Ewigkeit lang musterte ich das Foto, dann seufzte ich tief, schloss die Instagram-App, sperrte mein Handy und legte es beiseite. Mein Blick fiel auf die Zimmertür und in einem Anflug von Wehmut schälte ich mich doch nochmal aus meiner Decke und lief zum Schreibtisch.

Sobald ich die kleine Lampe darauf angezündet hatte, waren Zeichenblock und Bleistift schnell gefunden und ich ließ mich mit verschränkten Beinen auf mein Bett fallen, den Blick wieder auf die Zimmertür gerichtet. Was ich vor meinem inneren Auge sah war schon viele Jahre her und trotzdem war die Erinnerung noch so frisch in meinem Kopf, als wäre es gestern gewesen.

Sanft fuhr ich mit dem Bleistift über das Papier und mit jedem Strich wurde meine Erinnerung realer. Ein magischer Moment, drei entscheidende Augenblicke.

Die Tür, die ich öffne und Pierre, der vor mir steht, der mich in meinem Zimmer erwartet.

Sein Grinsen und das Nicken nach oben. Mein Blick, der seinem folgt und den kleinen Mistelzweig entdeckt, den Pierre über der Tür aufgehängt hat. Das amüsierte Lächeln, das sich daraufhin auf meine Lippen schleicht.

Der Kuss, in den Pierre mich zieht und von dem ich mir wünsche, dass er niemals endet.

Ich ließ den Stift sinken, das Blatt war voll. Sanft strich ich mit dem Finger über die feinen grauen Linien und schloss niedergeschlagen die Augen. Was würde ich dafür geben, um diesen Moment nochmal genau so erleben zu können?

Als es leise an der Tür klopfte, zuckte ich zusammen und brauchte einen Moment, um meinen rasanten Herzschlag wieder zu beruhigen.

"Ja?"

Die Tür wurde geöffnet und meine Schwester betrat den Raum, ein wissendes Lächeln auf den Lippen.

"Dachte ich mir doch, dass du noch nicht schläfst."

"Woher du das nur immer weißt", murmelte ich und lächelte ebenfalls.

"Nennen wir es schwesterliche Intuition", entgegnete Coco, dann schloss sie die Tür hinter sich und kam zu meinem Bett, um sich neben mich zu setzen, "War ein aufregender Tag, was?"

"Das kann man so sagen, ja. Ich kann immer noch nicht ganz glauben, dass Maman und Papa jetzt die Wahrheit kennen. All die Jahre war es unser Geheimnis und auf einen Schlag... ist es keins mehr."

"Wie fühlt sich das an?"

"Seltsam. Ungewohnt. Aber irgendwie... irgendwie auch gut. Befreit. Und schmerzhaft, verdammt schmerzhaft", gestand ich, während meine Schwester ihren Arm um mich legte und ich mich an sie lehnte.

"Ich bin wahnsinnig stolz auf dich, dass du dich überwunden und es ihnen erzählt hast. Vielleicht war das ja auch etwas, was zwischen dir und dem Hinwegkommen über diese ganze Situation steht."

"Ja, vielleicht. Aber das Kleid zu sehen, das war wirklich... Ich hätte einfach nie im Leben damit gerechnet, es plötzlich in der Hand zu halten. Ich hab all die Jahre keinen Gedanken daran verschwendet, was aus den Hochzeitsvorbereitungen geworden ist. Mir ging es damals so schlecht und ich vermute, dass du, Maman, Papa und Pierres Familie sich um alles gekümmert haben, aber ich hab nie aktiv darüber nachgedacht. Ich hab mich nicht gefragt, was aus dem Kleid wurde, wer den Auftrag bei der Catering-Firma storniert hat und von wem die Gäste von der Absage informiert wurden. Für mich hat die Welt sich nach der Trennung einfach... aufgehört zu drehen."

"Und hat sie seitdem wieder angefangen sich zu drehen?", fragte Coco leise.

"Ich dachte schon, aber... Keine Ahnung. Ich dachte sie hätte wieder damit angefangen, als ich nach der Geburt zurück nach Hause gekommen bin. Aber eigentlich hat es sich erst wieder so angefühlt, als ich Pierre wiedergesehen habe. In Le Castellet, da... da hab ich ihn gesehen und einen Moment lang gab es weder Raum noch Zeit, nur uns. Und dann hat sich die Welt plötzlich wieder gedreht. Als hätte sie es nicht gekonnt, während er nicht bei mir war."

Coco bedachte meine Worte mit einem liebevollen Kuss auf den Scheitel, dann seufzte sie leise.

"Ich werde dir jetzt etwas sagen, das ich heute beobachtet habe. Und ehrlich gesagt wundert es mich, dass es mir nicht früher aufgefallen ist."

Verwirrt kräuselte ich die Stirn.

"Ist es was schlechtes? Muss ich mir Sorgen machen?"

"Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher. Weißt du Lou, ich kenne dich schon dein ganzes Leben lang und ich wage zu behaupten, dass ich dich sehr gut kenne. Ich hab dir schon oft aus der Patsche geholfen, dir Ratschläge gegeben und bin für dich da gewesen, wenn es dir nicht gut ging. In den letzten sechs Jahren habe ich gesehen, wie du mit den Konsequenzen deines Handelns gelebt hast und bis du Pierre in Le Castellet wiedergesehen hast, dachte ich, du wärst über ihn hinweg. Als du mir dann von eurem Aufeinandertreffen erzählt hast und ich gehört habe, wie sehr das deine Welt auf den Kopf gestellt hat, war ich mir da plötzlich nicht mehr so sicher. Und mit jedem weiteren Mal, bei dem ihr euch auf die eine oder andere Weise begegnet seid, ist deine Welt zunehmend ins Wanken geraten. Als du mir dann gestanden hast, dass du ihn immer noch liebst, hast du damit meinen Verdacht bestätigt, dass du alles andere als über ihn hinweg bist. Und ich hab mich gefragt wieso. Man sagt die Zeit heilt alle Wunden, aber sie schien deine nicht heilen zu können. Wenn Zeit also nicht gereicht hat, was braucht es dann, damit du mit der Sache abschließen kannst? Pierres Vergebung? Du hast sie bekommen, aber auch das hat nichts geändert. Die Vergebung unserer Eltern? Die haben sie dir heute gegeben und trotzdem... trotzdem habe ich den Eindruck, dass dein Herz immer noch gebrochen ist."

Coco verstummte und ich schaute sie fragend an.

"Worauf willst du hinaus?"

"Lou, als ich heute neben dir gesessen und deine Hand gehalten habe, während du Maman und Papa alles gestanden hast, da hatte ich das Gefühl einen Bruchteil deines inneren Schmerzes spüren zu können. Aber er hat nicht nachgelassen, er erfüllt immer noch jede Faser deines Körpers. Und während du meine Hand gedrückt hast, ist mir klar geworden, dass du diejenige bist, die darüber entschiedet, was mit diesem Schmerz passiert. Du hast ihn Pierre zugefügt und dann wieder von ihm genommen, als du die Schuld auf dich genommen hast. Du hast ihn Maman und Papa zugefügt und dann wieder von ihnen genommen, als du dich bei ihnen dafür entschuldigt hast, dass du sie angelogen hast. Du bunkerst den Schmerz, du saugst ihn förmlich auf. Und das tust aus einem simplen Grund, der mir schon viel früher hätte auffallen können: Du bestrafst dich selbst."

"Was? Das ist doch Unsinn."

"Nein, ist es nicht. Alle, denen du Schmerzen zugefügt hast, haben dir verziehen. Pierre, auch wenn er das noch nicht vollständig getan hat, unsere Eltern, ich. Wir haben dir alle deine Lügen und Taten vergeben. Aber du hast noch jemanden verletzt und diese Person leidet immer noch. Du selbst. Lou, ich denke du hast dir selbst noch nicht vergeben für das, was du getan hast. Weder für den ausgedachten Betrug, noch für die Adoption, noch für die Lügen, die das alles nach sich gezogen hat."

"Da gibt es nichts zu vergeben, ich hatte für alles meine Gründe", widersprach mit erstickter Stimme.

"Das ist nicht dasselbe. Gründe sind keine Entschuldigungen, es sind Rechtfertigungen. Du hast dein Handeln immer wieder gerechtfertigt, hast immer wieder angeführt, wieso du es getan hast. Das hast du bei mir gemacht und bei Pierre und bei Maman und Papa und bei dir selbst. Abgesehen davon hast du dich auch bei uns allen entschuldigt und deswesgen haben wir dir verziehen. Nicht wegen der Rechtfertigungen, sondern weil du dich entschuldigt hast. Aber du hast dich niemals bei dir selbst entschuldigt. Und deshalb konntest du dir auch bisher nicht selbst verzeihen."


Ich denke Coco ist da auf einer ganz heißen Spur🤔

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Where stories live. Discover now