Quarante-trois

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"Madame, hören Sie mich?"

Jemand drückte mir mit der Faust auf den Brustkorb, woraufhin ich schmerzverzerrt das Gesicht verzog und meine Augen öffnete. Helles Licht blendete mich und erst nach mehrfachem Blinzeln erkannte ich schemenhaft einen Mann, der sich über mich gebeugt hatte und mir in die Augen leuchtete.

"Da sind Sie ja wieder. Folgen Sie bitte mit Ihren Augen dem Licht."

Ich tat, was er sagte und bemerkte währenddessen ein unangenehmes Pochen in meinem Schädel, als ob ich eine Woche lang gefeiert hätte wie als ich 20 gewesen war. Außerdem saß ich nicht mehr in meinem Auto, sondern lag auf dem Rücken und irgendwas löste Druck um meinen Hals aus.

"Sehr gut, die Reflexe sind normal, Pupillen unauffällig. Können Sie mir Ihren Namen nennen?"

"Louanne Vinet", antwortete ich und wunderte mich über den heiseren Klang meiner Stimme.

"Wissen Sie, welcher Tag heute ist?"

"Mittwoch."

"Können Sie sich erinnern, was passiert ist?"

"Da war ein Auto auf meiner Seite der Straße, das mir entgegengekommen ist und ich wollte ausweichen."

"Alles klar. Haben Sie Schmerzen? Ist Ihnen schlecht?", fragte der Sanitäter weiter und zum ersten Mal nahm ich mir einen Augenblick, um in meinen Körper hineinzuhören.

"Mein Kopf und mein Nacken tun weh, die Brust und die Schulter und der linke Arm. Und mir ist etwas übel", antwortete ich müde.

"Sie haben wahrscheinlich ein Schleudertrauma, deswegen haben wir Ihnen vorsorglich eine Halskrause angelegt. An Brust und Schulter haben sie Prellungen vom Gurt und die Übelkeit kommt wohl von einer Gehirnerschütterung. Ich schaue mir jetzt Ihren Arm an und sie sagen bitte, wann es weh tut."

Ich nickte und ließ die Untersuchung über mich ergehen, anschließend wurde nochmal mein ganzer Körper abgeklopft, dann schoben die Sanitäter mich in den Krankenwagen. Während der Fahrt erinnerte ich mich zunehmend daran, was unmittelbar vor dem Unfall geschehen war und mir fiel siedend heiß etwas ein.

"Können Sie mir bitte mein Handy aus meiner Tasche geben, damit ich meiner Schwester Bescheid sagen kann? Wir haben telefoniert als ich den Unfall hatte und ich möchte Sie unbedingt beruhigen, dass es mir gut geht", bat ich den Sanitäter, der jedoch mit einem entschlossenen Lächeln den Kopf schüttelte.

"Das können die Kollegen im Krankenhaus noch machen."

"Bitte, meine Schwester ist schwanger und ich will nicht, dass sie sich aufregt", flehte ich, woraufhin der Mann nachgab und mein Handy aus meiner Tasche holte.

"Sie haben einige verpasste Anrufe von Coco, ist das ihre Schwester?", fragte er nach einem Blick auf den Sperrbildschirm und ich nickte.

"Ja, das ist sie."

"Okay, dann rufe ich sie kurz zurück und sage ihr, dass sie sich keine Sorgen machen muss und dass Sie sich bei ihr melden werden sobald sie können."

"Danke."

Angespannt lauschte ich dem kurzen Telefonat des Sanitäters mit meiner Schwester, dann erreichten wir das Krankenhaus und es begann eine Zeit des Wartens und Untersuchtwerdens, die wie in Trance an mir vorbeizog, weil ich erst jetzt feststellte, wie sehr der Unfall mich erschöpft hatte.

Erst als ich Stunden später auf ein Zimmer gebracht wurde und der Arzt mit mir über meine Verletzungen gesprochen hatte, fiel mir ein, dass ich mich um einen Haufen Dinge kümmern musste. Mein erster Anruf ging zur Arbeit, um Bescheid zu sagen, wieso ich heute nicht aufgetaucht war, dann rief ich Jolie an, um sie zu bitten sich nach meinem Auto zu informieren.

Als ich all das abgehakt hatte, wählte ich endlich die Nummer meiner Schwester und natürlich dauerte es keine zwei Sekunden bis sie abhob.

"Lou?"

"Ja, ich bin's", antwortete ich leise, um die Frau, die mit mir im Zimmer lag, nicht zu stören.

"Oh mein Gott", erklang es halb panisch und halb erleichtert am anderen Ende der Leitung und ich hörte, wie meine Schwester ein wenig weinte.

"Coco, bitte beruhige dich. Mir geht's gut, okay? Aufregung ist bestimmt nicht gut für dich und das Baby."

"Das ist mir gerade sowas von scheißegal, ich will nur wissen wie es dir geht", entgegnete sie unwirsch und schniefte ein paar Mal.

"Mir geht's den Umständen entsprechend gut."

"Und das heißt?"

"Dass ich eine Gehirnerschütterung und ein Schleudertrauma habe, die aber beide nicht extrem schlimm sind, meine Brust und Schulter vom Gurt geprellt sind und ich zwei angeknackste Rippen habe. Außerdem hab ich mir das linke Handgelenk verstaucht und eine Menge blauer Flecken."

"Oh Lou, das klingt alles andere als gut."

"Ich hatte wirklich Glück, die behalten mich sogar nur eine Nacht zur Beobachtung hier und morgen darf ich wahrscheinlich schon wieder nach Hause. Also kein Grund zur Sorge", versuchte ich meine Schwester zu beruhigen, die meine Worte mit einem abfälligen Schnauben kommentierte.

"Kein Grund zur Sorge, du bist lustig. Ich telefoniere mit dir, plötzlich schreist du, es knallt, dann antwortest du nicht mehr, dann bricht das Telefonat ab, kurze Zeit später ruft mich ein Sanitäter von deinem Handy aus an und jetzt bist du im Krankenhaus. Aber klar, alles super, ganz normaler Mittwoch, was?", redete Coco sich in Rage.

"Bitte, ich flehe dich an, beruhige dich. Ich werd schon wieder, versprochen. Allerdings bin ich sehr müde und würde mich jetzt gerne ausruhen. Ich ruf dich morgen wieder an, wenn ich weiß, wann genau ich entlassen werde. Also wehe du kommst auf die Idee nach Paris zu fahren, dann schicke ich dich ohne zu zögern wieder zurück", drohte ich schmunzelnd und verkniff mir ein Gähnen.

"Na gut. Aber falls es dir doch schlechter geht, will ich sofort Bescheid wissen!"

"Wenn ich sterbe, ruf ich dich als erstes an, versprochen", sagte ich grinsend.

"Hey, das ist nicht witzig. Ich hatte echt Angst um dich", beschwerte Coco sich sofort und ich seufzte leise.

"Ich weiß und das tut mir Leid. Ich ruf dich morgen an, hab dich lieb."

"Ich dich auch, mach's gut Kleine."

Ich legte auf und atmete einige Sekunden lang einfach nur tief durch, was mich wegen der angebrochenen Rippen sofort schmerzverzerrt das Gesicht verziehen ließ, dann konzentrierte ich mich wieder auf mein Handy und antwortete kurz Jolie, die mir wegen meines Autos geschrieben hatte, das sich momentan noch bei der Polizei befand.

Als mir klar wurde, dass ich wohl in nächster Zeit noch Besuch von Polizisten bekommen würde, seufzte ich innerlich genervt. Hätte der andere Fahrer nicht die dämliche Idee gehabt mitten in der Pariser Innenstadt im Morgenverkehr zu überholen, wäre das alles nicht passiert und ich sandte jetzt schon Stoßgebete gen Himmel, dass die Versicherungen sich nicht querstellen würden.

Nachdem ich kurz mit Jolie geschrieben hatte, fiel mein Blick auf den Chat mit Pierre und ich entdeckte eine neue Nachricht von ihm, die er eben erst geschickt hatte.

Hey, hab den ganzen Tag noch nichts von dir gehört🫣 Viel zu tun auf der Arbeit?

Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken ihn einfach erstmal zu ignorieren und mir eine Mütze Schlaf zu holen, aber dann wurde mir klar, dass das nur dazu führen würde, dass Pierre sich Sorgen machte und das war definitiv das Letzte, was ich wollte.

Hey, sorry, dass ich nicht von mir hab hören lassen. Ich hatte heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit einen kleinen Unfall und bin jetzt im Krankenhaus. Ich melde mich morgen früh bei dir, versprochen. Bitte mach dir keine Sorgen, mir geht's gut❤️

Dann schaltete ich mein Handy in den Flugmodus, schloss die Augen und war innerhalb weniger Sekunden in einen tiefen Schlaf gefallen.

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt