Vingt

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Genervt schob ich die Sachen auf meinem Schreibtisch hin und her, um endlich mein klingelndes Handy zu finden, auf dem seit fünf Minuten jemand penetrant anzurufen versuchte. In dem Chaos, das ich in der knappen Woche im Home Office angerichtet hatte, erwies es sich jedoch als schier unmöglich, irgendetwas wiederzufinden und ich stöhnte verzweifelt, als das Klingeln endete und wenige Sekunden später von neuem begann.

Weil ich spürte, dass ich kurz davor war zu schreien, zwang ich mich dazu durchzuatmen und genau hinzuhören, um das Klingeln vielleicht lokalisieren zu können. Überrascht stellte ich fest, dass es von rechts kam und hätte beinahe aufgelacht, als mein Blick aufs Sofa fiel.
Sofort stand ich auf, lief hin und fand unter zwei Kissen tatsächlich mein verdammtes Handy, nach dem ich gerade minutenlang auf dem Schreibtisch gesucht hatte.

Als ich Cocos Namen las, kehrte die Genervtheit jedoch zurück, denn eigentlich hatte ich mit meiner Schwester ausgemacht, dass wir nur alle zwei Tage miteinander telefonierten und das letzte Mal war gestern gewesen.
Trotzdem bemühte ich mich um Freundlichkeit, als ich den Anruf entgegennahm.

"Hey, was gibt's?"

"Warst du heute schon in den sozialen Netzwerken?", stellte sie sofort eine Gegenfrage und ich zog skeptisch die Augenbrauen zusammen.

"Ähm, das hast du mir verboten, falls du dich erinnerst."

"Ja, aber das muss ja nicht heißen, dass du dich daran hältst", entgegnete sie sofort, womit sie normalerweise nicht ganz Unrecht hatte.

"Stell dir vor, ausnahmsweise hab ich mal auf dich gehört", antwortete ich sarkastisch und ließ mich aufs Sofa fallen, "Was ist denn los?"

"Es sind Aufnahmen von Pierre und einer Fremden beim Feiern in irgendeinem Club aufgetaucht. Diese Fremde ist im Gegensatz zu dir blond, also bist es eindeutig nicht du und das bedeutet-"

"Dass die Leute jetzt wissen, dass Pierre und ich nicht zusammen sind!", entfuhr es mir begeistert und sofort setzte ich mich aufrecht hin.

"So ist es. Ich hab dir übrigens gerade den Link zu einem Beitrag geschickt, falls du einen Blick darauf werfen möchtest."

Sofort stellte ich mein Handy auf Lautsprecher, öffnete die Nachricht meiner Schwester und folgte dem Link zu einem Post bei Instagram. Es war ein kurzes Video, aber Pierre und die fremde Frau tanzten eng miteinander und an seinem Grinsen konnte man erkennen, dass er Spaß hatte.
Zu meiner Überraschung verschwand das Gefühl der Erleichterung von eben und stattdessen verspürte ich einen Stich in der Brust, auch wenn ich nicht wusste wieso.

"Lou, bist du noch dran?", hörte ich die Stimme meiner Schwester aus dem Lautsprecher.

"Ja, ja ich bin noch dran", beeilte ich mich zu antworten, während ich den Blick nicht von dem Video abwenden konnte.

"Das ist doch super, oder? Die Aufnahmen verbreiten sich jetzt schon wie ein Lauffeuer und wenn es so weitergeht, haben dich nächste Woche vielleicht schon alle vergessen", sagte Coco euphorisch und ich spürte, wie das Stechen in meiner Brust schlimmer wurde.

"Ja, das ist super", murmelte ich nur wenig überzeugend und biss mir angespannt auf die Lippe.

"So, ich würde gerne noch länger mit dir quatschen, aber ich muss dringend zurück, die Pause ist gleich vorbei und Grundschulkinder kommen auf die wildesten Ideen, wenn man sie zu lange aus den Augen lässt. Wir hören uns die Tage wieder, ja? Mach's gut Lou!"

"Bye", verabschiedete ich mich leise, dann hatte meine Schwester auch schon aufgelegt.

Mit starrem Blick musterte ich das Video und schaute es mir immer und immer wieder an, während mein Herz sich schmerzhaft zusammenzog. Pierre hatte offensichtlich seinen Spaß und verschwendete keinen Gedanken an mich, eigentlich hätte mich das freuen sollen. Es war genau das, was ich vor fünf Jahren für ihn gewollt hatte, aber jetzt... Jetzt war es anders.

Mit ihm zu schlafen hatte mir etwas bedeutet und ein winziger Teil von mir hatte wohl gehofft, dass es Pierre genauso gehen würde. Aber dem war nicht so, stattdessen begnügte er sich mit irgendwelchen Frauen auf irgendwelchen Partys und ich und unsere gemeinsame Zeit waren ihm völlig egal.

Zum ersten Mal seit ich das Video aufgerufen hatte, wandte ich den Blick ab und schaute stattdessen zu dem kleinen Holzhocker in der Ecke, auf dem die Mappe mit den Bildern lag, die ich bei Coco und Jules gemalt hatte. Ich wusste ganz genau, dass das oberste Bild das von Pierre war und einem ersten Instinkt folgend, hätte ich es am liebsten genommen und zerrissen, aber dann besann ich mich und wandte den Blick wieder ab.

Was hätte das schon gebracht?
Pierre wusste nichts von dem Bild, er wusste nichts von all meinen Schwierigkeiten in den letzten fünf Wochen, er wusste nichts von der Person, die ich heute war.

Frustriert schaltete ich mein Handy wieder aus und kehrte an den Schreibtisch zurück, um weiterzuarbeiten, aber ich konnte mich nicht mehr wirklich konzentrieren und bummelte eigentlich nur noch die Zeit bis zum Feierabend ab.

Als es endlich soweit war, schaltete ich meinen Laptop aus und machte mir in der Küche etwas zu essen, dann kehrte ich rastlos in Wohnzimmer zurück und überlegte, womit ich den Abend verbringen sollte. Für Sport hatte ich keine Motivation und auf einen Film hatte ich keine Lust, aber zum Schlafen war es noch viel zu früh, also schaute ich mich suchend im Raum um, bis mein Blick bei der untersten Schublade meiner Kommode hängen blieb.

Ich hatte sie seit meinem Einzug kein einziges weiteres Mal geöffnet, aber jetzt schien sie mich magisch anzuziehen, weshalb ich unsicher auf die Kommode zusteuerte und die besagte Schublade öffnete. Die Kiste, die sich darin befand, hatte eine dünne Staubschicht bekommen, aber sich ansonsten nicht verändert. Vorsichtig nahm ich sie heraus, schloss die Schublade und setzte mich aufs Sofa.

Einige Sekunden lang starrte ich den Deckel der Kiste an, unschlüssig ob ich sie wirklich öffnen sollte, dann überwand ich mich und tat es. Es fühlte sich an, als hätte ich ein Portal in die Vergangenheit geöffnet, das mich schon mit dem obersten Bild einzusaugen schien. Pierre und ich waren nur verschwommen zu sehen, den Fokus hatte die Kamera automatisch auf meine Hand gerichtet, die ich nach vorne streckte und an der ein wunderschöner Ring glänzte.

Ich konnte mich an den Heiratsantrag erinnern, als wäre es gestern gewesen.
Pierre hatte vorgeschlagen, dass wir gemeinsam mit unseren Familien in den Urlaub fliegen sollten und ich hatte begeistert zugestimmt, ohne zu wissen, dass er das getan hatte, damit meine Familie dabei sein konnte, wenn er um meine Hand anhielt. Von dem großen Haus, in dem wir während des Urlaubs gewohnt hatten, hatte man eine perfekte Sicht auf den Strand gehabt und Pierre hatte unseren Familien genau gesagt, wann sie da oben stehen mussten, um zusehen zu können, wie er mir unten am Strand inmitten von Fackeln und Rosenblüten den Antrag machte.
Ich hatte keinen blassen Schimmer gehabt und war absolut überwältigt gewesen, aber auf meine Antwort hatte Pierre trotzdem keine Sekunde warten müssen. Ich hatte ihn mehr geliebt als mein eigenes Leben, natürlich wollte ich ihn heiraten.
Als wir zum Haus zurückgekehrt waren, war Coco die Erste gewesen, die mit Tränen in den Augen auf mich zu gerannt war und mich so euphorisch umarmt hatte, dass wir beinahe gemeinsam zu Boden gegangen wären.
Es war einer der schönsten Momente meines Lebens gewesen und ich fragte mich, wie ich es geschafft hatte, fünf Jahre lang nicht mehr daran zu denken.

Die nächsten Bilder waren aus demselben Urlaub, immer wieder hielt ich die Hand mit dem Ring in die Kamera und grinste wie eine Irre, aber Pierre strahlte nicht weniger breit und der Anblick entlockte mir unweigerlich ein trauriges Lächeln.

Wie gern hätte ich diesen wunderbaren Mann geheiratet, der mich auf Händen getragen und bei dem ich mich immer sicher gefühlt hatte. Aber so war es nicht gekommen, ich hatte unserer Geschichte als verheiratetes Paar ein Ende gesetzt, bevor sie überhaupt angefangen hatte und auch wenn ich meine Entscheidung nicht bereute, so hatte ich doch eine ganze Weile mit mir gerungen bis ich sie treffen konnte.

Mit Tränen in den Augen sah ich all die Fotos durch und verlor dabei jedes Zeitgefühl, weil ich völlig in die Vergangenheit eingetaucht war. Jedes einzelne Bild erzählte eine Geschichte von dem, was hätte sein können, aber niemals geworden war und der Gedanke daran brach mir das Herz.

Aber es war meine eigene Schuld, ich trug die Verantwortung dafür, dass alles anders gekommen war, als es sollte. Und diese Verantwortung würde mich für den Rest meines Lebens als dunkler Fleck auf meinem Herzen begleiten.

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Where stories live. Discover now