Cinquante-six

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Ich erstarrte, als ich sah, wer da vor mir stand.

"Pierre", flüsterte ich ungläubig.

Ich konnte nicht glauben, dass er wirklich hier vor meiner Tür stand, die Hände in den Taschen seiner dicken Winterjacke vergraben und mit einer dunkelblauen Mütze tief in die Stirn gezogen.

"Kann ich reinkommen?", fragte er mit rauer Stimme und ich machte sofort einen Schritt zur Seite, um ihn vorbeizulassen.

Schweigend beobachtete ich, wie Pierre seine Jacke und Schuhe auszog und die kalten Hände aneinander rieb, ehe er ins Wohnzimmer lief, in das ich ihm folgte. Als ich es erreichte, bemerkte ich, dass er unverwandt auf die Box starrte, die noch immer auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa stand. Das Foto von mir, mit dem ich eben gesprochen hatte, lag ganz oben auf dem Stapel mit den Fotos.

Ich sah, wie Pierre in seine Hosentasche griff und etwas daraus hervorzog, dann drehte er sich zu mir um und reichte es mir. Ein Blick darauf genügte und ich erkannte es sofort. Es war das Foto von unserem Sohn, über dessen Verlust ich vorhin geweint hatte. Pierre hatte es mir zurückgebracht.

"Ich dachte du willst es vielleicht wiederhaben", murmelte er mit gesenktem Blick und ich schloss für einen kurzen Moment die Augen.

"Pierre, wieso bist du hier? Sicher nicht nur, um mir ein Foto zurückzugeben."

Er hob den Blick und in seine Augen zu sehen, war wie in seine Seele zu sehen. Da waren so viele tosende Gefühle, so viel Schmerz, so viel Verzweiflung und so viel... Liebe?

"Natürlich bin ich nicht nur deswegen hier. Ich wollte wissen, wie's dir geht. Ob alles wieder verheilt ist von dem Unfall."

Unsere Blicke verhakten sich ineinander und wir wussten beide, dass das nicht der wahre Grund für sein Auftauchen war. Das hätte er auch schreiben können, dafür hätte er nicht in ein Flugzeug steigen und herfliegen müssen.

"Die Ärzte sind zufrieden damit, wie es sich entwickelt. Und ich hab nur noch Schmerzen, wenn ich das Handgelenk oder die Lunge zu sehr belaste. Aber das hätte ich dir auch schreiben können, wenn du gefragt hättest. Und das Foto hättest du mir per Post schicken können. Also wieso bist du hier?", wiederholte ich meine Frage ruhig, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug.

"Ich... Ich hab viel nachgedacht in den letzten Wochen. Und viel geweint. Viel geschrien. Ich konnte einfach nicht begreifen, wie du mir meinen Sohn verheimlichen konntest, obwohl du wusstest, dass ich immer Kinder haben wollte. Wie du so stur an deinem Plan festhalten konntest, obwohl du wusstest, dass ich es anders sehen würde als du. Wie du überhaupt dein eigenes Kind weggeben konntest. Und ich hab mit meiner Mutter darüber gesprochen und dann hat sie etwas gesagt, was mir nicht mehr aus dem Kopf ging. Dass du zu unserem Besten gehandelt hast. Ich war erst sauer, hab meiner Mutter gesagt, dass mich dieser Satz nervt und das doch keine Entschuldigung ist. Und dann hat sie gesagt, dass es auch keine Entschuldigung sein sollte, sondern dass es eine Erklärung ist. Du wolltest das Beste für mich und hast gedacht, dass das die Formel 1 ist und du wolltest das Beste für unseren Sohn und hast gedacht, dass das Eltern sind, die gerade die Kraft haben für ihn zu sorgen. Du hast alles, was du getan hast, nicht für dich selbst getan, im Gegenteil. Du hast dir selbst Schmerzen zugefügt, um etwas zu tun, was du für das Beste für deine Liebsten gehalten hast."

Pierre verstummte und ich erwiderte seinen Blick mit Tränen in den Augen.

"Das alles hab ich dir schon gesagt. Was hat sich geändert, dass es auf einmal von Bedeutung für dich ist?", fragte ich mit bitterem Unterton.

"Du hast Recht. Du hast mir das alles gesagt, hast mir deine Gründe erklärt und dein Handeln gerechtfertigt. Aber das war es nicht, was ich gebraucht habe, um dir verzeihen zu können. Was ich brauchte, war deine Entschuldigung. Und ich hab mich gefragt, wann du dich jemals dafür entschuldigt hast, was du mir angetan hast. Du hast zwar mehrmals gesagt, dass es dir Leid tut, aber immer nur, wenn ich dir vorgeworfen habe, dass du es nicht getan hast. Also hab ich weiter nachgedacht und mir fiel der Abend ein, an dem wir uns getrennt haben. Ich musste an den Moment denken, als du dir den Verlobungsring vom Finger gezogen hast und gegangen bist. Und was ich vollkommen vergessen hatte, waren deine letzten Worte an mich. Du hast gesagt, dass es dir Leid tut. Damals wollte ich das nicht hören, ich wollte es nicht glauben. Aber ich erinnere mich an dein Gesicht in diesem Augenblick als würde ich es jetzt gerade wieder vor mir sehen und in deinen Augen lag so viel Schmerz und Schuld und Verzweiflung und Liebe und wenn ich darauf schon damals geachtet hätte, wäre mir vielleicht aufgefallen, dass sich alles in dir dagegen gesträubt hat zu gehen. Und dass deine Entschuldigung ernst gemeint war. Die ganzen letzten Male hast du dich nicht wirklich entschuldigt, sondern nur gerechtfertigt. Aber vor all den Jahren, als du es beendet hast, da hast du nichts erklärt, du hast dich nur entschuldigt. Und diese Entschuldigung ist die, die ich wirklich gebraucht habe, auf die es wirklich ankommt."

Mit tränenerfüllten Augen schaute Pierre mich an und griff vorsichtig nach meinen Händen, um sie mit seinen zu umschließen.

"Ich weiß, dass ich gesagt habe, dass ich dir das niemals verzeihen könnte. Aber das hab ich. Es tut immer noch weh, keine Frage. Aber ich verzeihe dir trotzdem. Nicht, weil du mir deine Gründe erklärt hast, sondern weil ich dich liebe. Dir zu verzeihen war keine Entscheidung, die ich mit dem Kopf treffen musste, sondern mit dem Herzen. Und mein Herz wird sich immer, immer für dich entscheiden, Lou."

"Wie kannst du mir verzeihen, wenn ich mir nichtmal selbst verzeihen kann?", entfuhr es mir verzweifelt, woraufhin Pierre mir sanft über die Wange strich.

"Wie gesagt, ich liebe dich. Mehr, als du dich selbst liebst, wahrscheinlich."

"Was ist mit all den Geheimnissen? All den Verletzungen? Ich hab uns beiden so sehr weh getan."

Pierre nickte schwach und verstärkte den Griff um meine Hände.

"Ja, das hast du. Aber so wie ich das sehe, kann man sich nicht aussuchen, ob man verletzt wird, man kann nur bestimmen von wem man verletzt wird. Und ich entscheide, dass du der Mensch sein sollst, der mich verletzen kann. Ich bin bereit das Risiko einzugehen und dir Tag für Tag die Waffen in die Hand zu legen, die mich verletzen könnten, im Vertrauen darauf, dass du sie nicht benutzen wirst."

Ungläubig sah ich ihn an.

"Wie kannst du das nach allem, was ich getan habe, noch sagen? Wie kannst du mich trotz all der Fehler, die ich gemacht und Entscheidungen, die ich getroffen habe, immer noch wollen?"

"Weil ich dich liebe. Du hast mir all die schlimmen Dinge erzählt, die du getan hast und ich möchte, dass du mir auch weiterhin von solchen Dingen erzählst, damit ich dich trotzdem lieben kann. Damit ich dir jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde zeigen kann, dass du es trotz allem, wofür du dich schlecht fühlst, wert bist geliebt zu werden. Denn das bist du Lou."

"Nein, bin ich nicht. Ich hab so viel Schuld auf mich geladen, hab so vielen Menschen weh getan. Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden. Schon gar nicht von dir, dem ich am meisten Schmerz bereitet habe", entfuhr es mir verzweifelt, während die Tränen mir in Strömen über die Wangen flossen.

"Lass mich entscheiden, ob ich dich liebe oder nicht, okay? Und ich entscheide mich dafür, das habe ich immer und das werde ich immer. Du bist die Liebe meines Lebens Lou, und nichts, was du getan hast oder tun wirst, kann daran etwas ändern."

Mit von Tränen verschleiertem Blick schaute ich Pierre an.

"Was, wenn du es dir morgen anders überlegst? Wenn du aufwachst und merkst, dass du mir doch nicht verziehen hast?"

"Das wird nicht passieren, denn ich habe dir nicht erst heute vergeben. Ich musste mir nur erst darüber klar werden, was ich will. Und jetzt weiß ich es, ich will dich. Für immer. Und mit all deinen Fehlern."

Ich erwiderte seinen Blick stumm und er lächelte schwach, bevor er sich zu mir beugte und seine Lippen auf meine legte. Und während wir in einen innigen Kuss versanken, konnte ich sein Herz spüren, das im selben Rhythmus schlug wie meins.
In diesem Augenblick wusste ich, dass er es ernst meinte. Und ich schwor mir, ihn nie wieder so sehr zu verletzen, wie ich es getan hatte, sondern sein Herz, das er vertrauensvoll in meine Hände legte, zu schützen als wäre es der kostbarste Schatz der Welt.


War das ein Plot Twist oder war das ein Plot Twist?!😱🥺
Pierre entscheidet sich für die Liebe, überwindet seinen Schmerz und verzeiht Lou. Damit hätte wohl niemand gerechnet, am allerwenigsten Lou selbst...

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt