Cinquante-cinq

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Coco hatte mir nach unserem Gespräch eine gute Nacht gewünscht und mich mit viel Stoff zum Nachdenken zurückgelassen. Geschlafen hatte ich in der Nacht wenig, viel zu sehr hatten mich die Gedanken wach gehalten. Dementsprechend müde war ich am nächsten Morgen gewesen.

Auf ein spätes, ausgedehntes Frühstück war der Abschied von Coco und Jules gefolgt, die, mit einem kleinen Abstecher nach Metz, um den Inhalt ihrer Koffer auszutauschen, zu Jules' Familie nach Deutschland gefahren waren, um dort die restlichen Feiertage zu verbringen.

Als ich meine Schwester zum Abschied umarmt hatte, hatte sie mich noch fester als sonst an sich gezogen und mir sanft über den Rücken gestrichen, als ob sie mir nochmal hatte zeigen wollen, dass sie für mich da war, auch wenn wir räumlich wieder getrennt sein würden.

Gegen Abend hatte ich schließlich den Zug zurück nach Hause genommen und mich dann eine weitere Nacht lang unruhig im Bett hin und her gewälzt und über Cocos Worte nachgedacht.

Hatte sie Recht? Musste ich mir selbst verzeihen, um mit der Vergangenheit abschließen zu können? Und wenn ja, wie genau funktionierte Sich-selbst-verzeihen eigentlich?

Am Morgen des 26.12. war ich immer noch nicht schlauer, dafür aber tierisch müde. Trotzdem beschloss ich, den Tag zum Aufräumen zu nutzen und endlich mal wieder Ordnung in mein Chaos zu bringen. Wenn schon nicht in meinem Leben, dann wenigstens in meiner Wohnung.

Also arbeitete ich mich Stück für Stück durch jeden Raum bis ich am frühen Nachmittag das Wohnzimmer erreichte und dort nach weiteren eineinhalb Stunden die Kommode, in deren Schubladen ich meine Zeichnungen von Pierre entdeckte. Nachdenklich zog ich sie hervor, musterte jede einzelne und strich liebevoll darüber, dann sortierte ich sie und nahm mir fest vor, eine geeignete Mappe dafür zu besorgen.

Zuletzt öffnete ich die unterste Schublade, die schmerzhafteste. Mit zitternden Händen holte ich die Box heraus und lief damit zum Sofa. Als ich sie öffnete, wurde ich förmlich in einen Erinnerungssog gezogen und ich wehrte mich nicht dagegen.

Vorsichtig nahm ich die goldene Kette heraus, die Pierre mir zu unserem vierten Jahrestag geschenkt hatte. Als Anhänger baumelte ein kleines Herz daran, auf dessen Rückseite mon cœur eingraviert war. Mein Finger fuhr über die Kerben und einem Instinkt folgend wollte ich mir die Kette anziehen, doch ich bremste mich und legte sie stattdessen zurück in die Box, zwischen die Konzerttickets und getrockneten Blumen.

Mit Tränen in den Augen holte ich die Polaroids hervor, die wir mit der Kamera meines Vaters gemacht hatten. Pierre und ich beim Grimassenschneiden, Pierre mit seinem Helm unterm Arm und einem breiten Grinsen, ich mit einem von seinen selbst gepflückten Blumensträußen in der Hand und einem glücklichen Lächeln im Gesicht.

Die Polaroids wanderten zurück an ihren Platz und an ihrer Stelle griff ich nach den ausgedruckten Digitalfotos. Fotos von gemeinsamen Urlauben, von Rennstrecken, vom Tanzen im Schnee und von so vielen weiteren Momenten, in denen wir einfach nur glücklich gewesen waren. Je weiter ich im Stapel nach unten kam, umso älter wurden wir auf den Bildern und schließlich erreichte ich den Urlaub, in dem Pierre mir den Antrag gemacht hatte.

Unsere strahlenden Gesichtern bescherten mir eine Gänsehaut und als ich das Ende des Stapels erreichte, wurde mir klar, dass das Bild des Babys weg war. Pierre musste es mitgenommen haben, als er gegangen war und obwohl ich jahrelang vermieden hatte mir das Foto anzusehen, entlockte mir die Erkenntnis, dass es jetzt für immer weg war, ein schmerzerfülltes Schluchzen.

Das war meine letzte Verbindung zu unserem Sohn gewesen und jetzt würde ich sie nie wieder zurückbekommen. War das Teil meiner Strafe? War es das, was ich verdiente? Mein Kind ein weiteres Mal zu verlieren?

Schluchzend wollte ich die Fotos zurücklegen, als mir auffiel, das ich eins in der Kiste vergessen hatte. Ich griff danach und runzelte verwirrt die Stirn, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es gemacht worden war und von wem. Ich lächelte in die Kamera, aber es wirkte gequält. Der dunkle Pullover ließ mich noch blasser aussehen, als ich ohnehin schon war und falls ich versucht hatte die tiefen Augenringe zu überschminken, war ich kläglich gescheitert. Meine Haare steckten in einem unordentlichen Pferdeschwanz und ich saß auf dem Sofa im Wohnzimmer meiner Eltern.

Mit gerunzelter Stirn drehte ich das Foto um und entdeckte in der linken unteren Ecke das Datum. 07.02.2017. Pierres erster Geburtstag nachdem wir uns getrennt hatten. Kein Wunder, dass ich so aussah, schließlich hatte ich ihn kurz davor verlassen und wir hatten zum ersten Mal seit Jahren nicht gemeinsam seinen Geburtstag gefeiert.

Ich drehte das Foto wieder um und musterte das gebrochene Mädchen, das mich aus leeren Augen ansah. Ich hatte ihr das angetan. Ich hatte ihr das Herz gebrochen und von ihr verlangt, es hinzunehmen, weil es ihre eigene Schuld war. Ich hatte ihr das Recht abgesprochen zu trauern, obwohl es ihr zustand. Ihre jahrelange, glückliche Beziehung war zerstört worden und darüber nicht zutiefst traurig zu sein, wäre unmenschlich gewesen.

Aber ich hatte es ihr nicht erlaubt. Es war doch ihre Schuld, sie hatte ihr Glück doch ruiniert. Wer Schuld ist, hat kein Recht über ein gebrochenes Herz zu weinen.

Ja, das hatte ich mir eingeredet. Und ich hatte daran festgehalten, obwohl einige der wichtigsten Menschen in meinem Leben mir im Grunde genommen zugestanden hatten, dass ich auch mich selbst verletzt hatte.

Cocos Worte fielen mir wieder ein, als ich im Sommer wegen des Shitstorms im Internet zu ihr geflohen war.

"Du hast so gelitten und ich weiß, wie sehr du mit dir gerungen hast bis du dich mit deiner Entscheidung arrangieren und es Pierre sagen konntest."

Und auch Esteban hatte es erkannt, als ich ihm bei seiner Geburtstagsfeier die Wahrheit gesagt hatte.

"Du hast nicht nur sein Herz gebrochen, sondern auch dein eigenes."

Sogar Pierre war klar geworden, dass ich nicht nur sein Leben beeinträchtigt hatte, sondern auch meins.

"Du hast es niemandem verraten? Das klingt verdammt einsam."

Mein Blick fiel wieder auf das blasse, bedrückte Mädchen auf dem Foto und einem Impuls folgend, strich ich ihr tröstend über die Wange und begann zu ihr zu sprechen: "Ich weiß, dass ich dir weh getan habe und das hattest du nicht verdient. Ich hab eine falsche Entscheidung getroffen, die dich alles gekostet hat, wovon du geträumt hast. Ich hab dir das Herz gebrochen und dir Schuld an allem gegeben, ich hab dir verboten traurig zu sein und ich... ich hab dich gehasst. Die Wahrheit ist, ich hab dich gehasst für diese Entscheidung und für alles, was sie nach sich gezogen hat. Und weil ich dich gehasst habe, konnte ich dir nicht verzeihen. Dabei hast du auch schon ohne meinen Hass auf dich genug gelitten. Du hast die Liebe deines Lebens und dein Kind verloren, du hattest jedes Recht der Welt zu trauern. Aber ich hab dich nicht gelassen. Und ich weiß, dass das jetzt vielleicht zu spät kommt, aber... es tut mir Leid. Es tut mir unendlich Leid, was ich dir angetan habe und ich hoffe, dass du mir eines Tages verzeihen kannst."

Zitternd wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und zuckte zusammen, als es klingelte. Verwirrt, weil ich niemanden erwartete, stand ich auf, um zu öffnen und riss überrascht die Augen auf, als ich sah, wer da vor mir stand.

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Where stories live. Discover now