Cinquante-et-un

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"Joyeux anniversaire, joyeux anniversaire, joyeux anniversaire, joyeux anniversaire!"

Lächelnd öffnete ich die Augen und entdeckte Coco und Jules, die vor meinem Bett standen und meinen Wecker durch ein selbst gesungenes Geburtstagsständchen ersetzt hatten.

"Alles Gute zum Geburtstag", setzte meine Schwester hinterher und setzte sich auf meine Bettkante, um mich so fest in die Arme zu ziehen, dass ich kurz fürchtete zu ersticken.

"Danke", nuschelte ich verschlafen in ihr Haar, dann lösten wir uns voneinander und nachdem auch Jules mir nochmal gratuliert hatte, scheuchte ich die beiden aus dem Zimmer, um ins Bad zu gehen und mich anzuziehen.

Als das erledigt war, schnappte ich mir mein Handy vom Nachttisch, beantwortete die Glückwünsche, die bereits von meinen Eltern und Jolie eingetrudelt waren und musterte dann mit zusammengepressten Lippen die Chats von Pierre, Esteban und Elena, die allesamt keine neuen Nachrichten anzeigten.

Niedergeschlagen sperrte ich mein Handy wieder, steckte es ein und schob entschlossen die Schultern zurück. Ich würde mich davon nicht unterkriegen lassen, sondern meinen Geburtstag mit den beiden wundervollen Menschen feiern, die mich dafür zu sich eingeladen hatten und es würde bestimmt ein schöner Tag werden.

Ehe ich diese guten Vorsätze wieder schleifen lassen konnte, verließ ich das Gästezimmer und lief nach unten in die Küche, wo Coco und Jules ein unglaublich leckeres und vielfältiges Frühstück vorbereitet hatten.

Nach dem Essen bekam ich sogar Geschenke, obwohl ich meiner Schwester mehr als einmal gesagt hatte, dass es Geschenk genug war, dass ich bei ihnen sein durfte. Trotzdem freute ich mich natürlich über das ledergebundene Notizbuch und eine Handvoll meiner liebsten Kugelschreiber, genauso wie über den Wellnessgutschein von meinen Eltern, den sie zu Coco geschickt hatten, damit ich ihn pünktlich zum Geburtstag bekam.

Nach der Bescherung spielten wir den halben Tag lang Gesellschaftsspiele, so wie meine Schwester und ich es früher an sämtlichen Feiertagen mit unseren Eltern getan hatten, bevor es ein spätes Mittagessen gab, auf das Kaffee und Muffins folgten, ehe wir am späten Nachmittag in die Innenstadt von Metz fuhren und dort über den Weihnachtsmarkt schlenderten.

So sehr ich die Zeit mit Coco und Jules auch genoss, ich erwischte mich doch immer wieder dabei, wie mich ein Anflug von Neid überkam, weil ich gerne genauso glücklich und verliebt mit Pierre gewesen wäre wie die beiden es waren. Auch schokoladenüberzogene Früchte, gebrannte Mandeln und Glühwein konnten mir diesen Wunsch nicht nehmen und ich spürte, wie meine Laune auf der Rückfahrt zum Haus zunehmend sank.

Dort angekommen tauschte ich die Jeans und den Pullover gegen eine kuschelige Jogginghose und den Hoodie von Pierre, den ich immer noch hatte und von dem ich mich einfach nicht trennen konnte. Gerade als ich wieder nach unten ins Wohnzimmer gehen wollte, leuchtete das Display meines auf dem Bett liegenden Handys auf und ich hechtete sofort hin, in der Hoffnung, dass Pierre sich vielleicht doch noch überwunden hatte.

Aber es war nicht Pierre, der mir geschrieben hatte, sondern Elena.

Liebe Lou, ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag und hoffe, dass du den Tag trotz der momentanen Umstände wenigstens ein bisschen genießen konntest. Ich hab lange mit mir gerungen, ob ich dir schreiben soll nach allem, was ich zuletzt über dich erfahren habe, aber es ist dein Geburtstag und der Gedanke, dass du weder von Pierre, noch von Esteban oder mir gratuliert bekommst, hat mich traurig gemacht. Fühl dich fest umarmt, Elena.

Mit Tränen in den Augen las ich mir ihre Nachricht durch, schrieb ein knappes Dankeschön und begann dann bitterlich zu weinen. Wie hatte bloß alles so schief gehen können?

In den letzten Wochen hatte sich mein Leben in eine vielversprechende Richtung entwickelt und ich hatte wirklich geglaubt, alles könnte wieder gut werden. Pierre und ich hatten eine reale Chance auf eine Versöhnung gehabt, ich hatte mit Esteban einen alten Freund wieder- und mit Elena eine neue Freundin dazubekommen.

All das hatte ich zerstört und zwar nicht erst vorletzte Woche, sondern vor knapp sechs Jahren, als ich niemandem die Wahrheit gesagt hatte. Dass ich jetzt in den Trümmern meiner Freundschaften stand, war ganz allein meine Schuld und wenn mich die gewaltige Trauer, die ich in jeder Faser meines Körpers spürte, nicht so furchtbar viel Kraft gekostet hätte, wäre ich wütend auf mich selbst gewesen und hätte mich dafür gehasst.

Aber ich konnte nicht. Gerade war es schon schwer genug zu weinen, für Wut hatte ich keinerlei Energie mehr übrig.

Ich musste unweigerlich daran denken, was Coco gesagt hatte, nachdem Pierre und ich in Le Castellet miteinander geschlafen hatten. Dass etwas, das sich richtig anfühlte, nicht falsch sein konnte. Im Umkehrschluss bedeutete das wohl, dass etwas, das sich falsch anfühlte, in jedem Fall auch falsch war.

Es hatte sich falsch angefühlt Pierre damals zu belügen. Mein Kopf hatte es für die richtige Entscheidung gehalten, aber der Rest meines Körpers hatte dagegen rebelliert. Hätte ich in diesem Moment meinen Kopf ignoriert und nichts getan, was sich so schrecklich falsch anfühlte, hätte alles anders kommen können.

Wir hätten geheiratet, einen Sohn und sicher noch weitere Kinder bekommen, hätten ein glückliches gemeinsames Leben geführt. Und vielleicht hätten wir einen Weg gefunden, bei dem Pierre die Familie und die Formel 1 unter einen Hut bekommen hätte.

Aber ich hatte uns von vornherein die Möglichkeit genommen, überhaupt gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Ich hatte eine Entscheidung getroffen, nicht nur für mich, sondern auch für Pierre. Natürlich hatte ich nur sein Bestes gewollt, aber trotzdem hatte ich ihn bevormundet.

Und so sehr ich mir auch einredete, dass er in der Formel 1 Fuß gefasst hatte und erfolgreich war, ich konnte das nicht kausal auf mein Handeln zurückführen. Vielleicht hatte Pierre es nicht wegen, sondern trotz meiner Entscheidung in die Formel 1 geschafft. Vielleicht hatte ich es ihm schwerer statt leichter gemacht.

Egal was davon zutraf, es hatte jetzt keine Relevanz mehr. Denn ich hatte erkannt, dass ich damals einen furchtbaren Fehler gemacht hatte und jetzt zahlte ich den Preis dafür.

Alles war meine Schuld und wahrscheinlich hatte Pierre mit seinen letzten Worten an mich Recht gehabt. Ich verdiente das hier. Ich verdiente die Trauer, den Schmerz und das Leid, ich verdiente diese Bestrafung für mein Handeln.

Ein Teil von mir hatte wohl gehofft, dass ich in dieser Trauer, dem Schmerz und dem Leid nicht ganz allein sein würde.
Doch genau das war ich...
allein.

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Where stories live. Discover now