Dix-neuf

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Die Woche bei Coco und Jules verging wie im Flug und ehe ich mich versah, war mein letzter Abend bei ihnen gekommen und wir saßen gemeinsam im Wohnzimmer. Auf dem Tisch flackerte eine Kerze und jeder von uns hielt ein Glas Wein in der Hand, dann griff meine Schwester plötzlich in ihre Hosentasche und zog einen mir gut bekannten Gegenstand hervor.

"Mein Handy", entfuhr es mir überrascht, weil ich die Existenz dieses Gerätes beinahe vergessen hatte. Ich hatte es die ganze Woche über nicht vermisst und jetzt hätte ich es am liebsten bei Coco gelassen.

"Deinen Laptop hab ich dir schon oben aufs Bett gelegt", erklärte sie lächelnd und ich nickte schwach bevor ich ihr mein Handy aus der Hand nahm und es einschaltete. Sofort erschienen eine ganze Menge ungelesener Nachrichten und ich spürte, wie Coco mir über die Schulter sah.

"Maman und Papa wussten zwar eigentlich, dass ich dir das Handy abgenommen habe, aber offensichtlich haben sie es zwischendurch vergessen", stellte sie belustigt fest und wanderte dann zum nächsten Namen.

"Esteban?"

"Ja, er hat mir schon kurz nach Le Castellet geschrieben, weil er das mit den Gerüchten mitgekriegt hat. Seine Freundin Elena hat mir auch geschrieben, aber ich hab es einfach nicht geschafft zu antworten. Ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen", gestand ich nachdenklich und bekam einen mitfühlenden Blick von meiner Schwester.

"Du solltest dich bei ihnen melden, sie machen sich offensichtlich Sorgen um dich."

"Ja, das sollte ich wohl", murmelte ich und öffnete den Chat mit Esteban.

Hey, vielen Dank für deine und Elenas Nachrichten und sorry, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich war bei meiner Schwester und sie hat mein Handy einkassiert, damit ich keine Kommentare mehr lesen kann. Ich hoffe euch geht's gut und ihr habt euch nicht zu viele Sorgen gemacht🫶🏻

Sobald ich die Nachricht abgeschickt hatte, antwortete ich auch noch Jolie, die mich ebenfalls angeschrieben hatte, dann packte ich mein Handy wieder weg und prostete meiner Schwester mit dem Weinglas zu. Einen großen Schluck später stellte ich das Glas wieder auf dem Tisch ab und grinste verschmitzt.

"Wartet hier, ich hab noch was für euch."

Mit diesen Worten stand ich auf und lief nach oben ins Gästezimmer, wo sich auf dem Tisch meine ganzen Bilder stapelten, die ich im Laufe der Woche gemalt hatte. Coco hatte mir eine Mappe gegeben, um sie mit nach Hause zu nehmen, aber eins würde hierbleiben.

Es sollte ein Geschenk sein, um mich für ihre Gastfreundschaft zu bedanken und es war mir wirklich gut gelungen. Die beiden standen auf einer bunten Blumenwiese und Coco hatte ihre Hand mit einem breiten Lächeln unter eine Magnolie gelegt, um sie sich besser ansehen zu können, während Jules seine Frau so liebevoll musterte, dass es einem den Atem verschlug. Die Idee war mir bei einem Blick auf den Vorgarten gekommen und ich hoffte, dass die beiden sich darüber freuen würden.

Vorsichtig nahm ich es unter den anderen Bildern hervor und wollte zurück nach unten gehen, als mein Handy in meiner Hosentasche vibrierte. Schnell zog ich es hervor und entdeckte Estebans Namen auf dem Display.
Für einen kurzen Moment spielte ich mit dem Gedanken ihn einfach zu ignorieren, dann überwand ich mich und nahm den Anruf an.

"Hi."

"Hey Lou, ich hoffe wir stören nicht", begrüßte er mich.

"Wir?", hakte ich verwirrt nach, woraufhin Elenas Stimme erklang.

"Ich bin auch hier, hi Lou."

"Hi Elena, es ist schön euch zu hören. Wie geht's euch?"

"Das wollten wir eigentlich dich fragen", entgegnete Esteban ernst und ich seufzte leise.

"Es geht so. Ich war die ganze Woche bei meiner Schwester, um abzuschalten und mal aus allem rauszukommen, aber morgen geht's zurück nach Hause und mein Chef hat mich vorerst ins Home Office abgeschoben, weil er hofft, dass dann die Reporter vor dem Büro merken, dass ich nicht mehr komme und endlich verschwinden."

"Denkst du, dass das funktionieren wird?", erkundigte Elena sich skeptisch und ich zuckte ratlos die Schultern.

"Meine Kollegin Jolie hat mir geschrieben, dass sie bisher nicht den Eindruck gewonnen hat, dass sich etwas geändert hätte. Aber ich war auch erst eine Woche nicht da, vielleicht braucht das einfach noch ein bisschen", versuchte ich so überzeugend wie möglich zu sagen, obwohl ich selbst nicht wirklich daran glaubte.

"Ja, vielleicht braucht es wirklich nur Zeit. Hast du mal mit Pierre über das ganze gesprochen?", fragte Esteban und ich schluckte hart.

"Nein, hab ich nicht, ich hab ja nichtmal seine Nummer. Und ehrlich gesagt will ich auch gar nicht mit ihm reden. Ich will nur, dass sich diese verzwickte Situation bald auflöst, damit ich wieder normal zur Arbeit gehen kann und nicht ständig das Gefühl haben muss, beobachtet zu werden", antwortete ich entschlossen.

"Das kann ich gut verstehen. Wir drücken dir auf jeden Fall die Daumen, dass es besser wird und wenn irgendwas ist, dann melde dich, okay?"

"Das mach ich, danke."

"Dafür sind Freunde da", erwiderte Esteban und ich konnte sein Grinsen förmlich vor mir sehen, dann verabschiedeten wir uns voneinander und ich konnte endlich mit dem Bild nach unten gehen und es Coco und Jules zeigen. Die beiden freuten sich riesig und während ich ihnen dabei zusah, wie sie überlegten, wo sie das Bild aufhängen wollten, spürte ich, wie mein Herz schwer wurde.

Die Zeit hier hatte mir so gut getan und es war so schön gewesen, mal wieder mehr Zeit mit meiner Schwester zu verbringen. Wenn ich morgen in meine Wohnung zurückkommen würde, wäre da niemand, der auf mich wartete. Ich würde ganz allein in meinen vier Wänden sitzen und arbeiten und das Highlight meiner Woche würde wahrscheinlich das Einkaufen werden, weil mir da endlich wieder Menschen begegnen würden.

"Lou?", riss mich Cocos besorgte Stimme aus meinen Gedanken und erst in diesem Moment fiel mir auf, dass meine Schwester und ihr Mann mich verwirrt ansahen, "Was ist los?"

"Gar nichts", antwortete ich heiser und bemerkte erst in diesem Moment, dass mir Tränen über die Wangen liefen.

"Nach gar nichts sieht es aber nicht aus", stellte Coco fest und kam zu mir, um mich in den Arm zu nehmen, "Woran hast du gerade gedacht?"

"An nächste Woche. Ich hatte hier so eine tolle Zeit, aber ab morgen werde ich alleine in meiner Wohnung sitzen und Artikel von Kollegen Korrektur lesen, statt das zu tun, was ich an meiner Arbeit eigentlich liebe. Was, wenn ich mir durch das ganze Drama mit Pierre meine Karrierechancen versaut habe? Wenn man mich in Zukunft nur noch als seine Exfreundin abstempeln wird?"

"Das wird nicht passieren, hörst du? Du bist eine klasse Journalistin und du wirst deinen Weg gehen, daran hab ich noch nie gezweifelt und das solltest du auch nicht. Was sich jetzt gerade wie die größte Katastrophe anfühlt, wird irgendwann vorbeigehen und dann wirst du stärker sein als vorher."

"Ich will nicht stärker sein, ich will einfach nur die Kontrolle über mein Leben zurück!", entfuhr es mir verzweifelt und Cocos Umarmung wurde fester, "Ich hab so lange gebraucht, um die ganzen Erinnerungen an Pierre in den hintersten Winkel meines Gehirns zu verbannen und jetzt macht ein einziges Rennwochenende alles zunichte."

Darauf wusste meine Schwester nichts zu antworten, weshalb sie einfach nur ihren Kopf auf meinen legte und mich so lange im Arm hielt bis ich mich beruhigt hatte. Und als sie sich von mir löste, wurde mir klar, dass diese Umarmung mir mehr geholfen hatte als tausend Worte es hätten tun können.

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Where stories live. Discover now