Quarante-six

520 38 12
                                    

"Das ist unser Sohn."

Stille.

Für ein paar Sekunden, die sich wie eine schmerzhafte Ewigkeit anfühlten, war es totenstill.

Pierre starrte mich bloß an, erwiderte meinen Blick voller Ungläubigkeit, dann schaute er wieder auf das Bild in seinen Händen und auf den Säugling, der mit großen Augen in die Kamera sah.

"Was sagst du da?", fragte er leise und so voller Entsetzen, dass es mir eine Gänsehaut bescherte, "Unser Sohn?"

"Ja", antwortete ich mit krächzender Stimme, weil sich ein schier unüberwindbarer Kloß in meinem Hals gebildet hatte. Aber jetzt war nicht der richtige Moment, um die Fähigkeit zu sprechen verlieren, denn ich musste Pierre unbedingt alles erklären. Er musste alles wissen, die ganze Geschichte, die ganze Wahrheit.

"Pierre, ich... Bitte lass es mich erklären, okay?"

In der Erwartung, dass er widersprechen und mich anschreien würde, hielt ich inne, aber Pierre starrte mich bloß weiterhin an und ich begriff, dass er mir wohl wirklich zuhören würde. Vielleicht nicht, weil ich ihn darum gebeten hatte, vielmehr, weil er heftig unter Schock stand.

"Nach unserer Trennung bin ich zurück zu meinen Eltern gezogen und war... Ich war in einem schlechten Zustand. Alle hielten mich für eine Betrügerin und ich war voller Selbsthass und Verzweiflung. Anfangs hielt ich die Übelkeit, den mangelnden Appetit und die extremen Stimmungsschwankungen für Symptome meines Liebeskummers und hab sie gar nicht richtig wahrgenommen. Etwa einen Monat nachdem ich dich verlassen hatte, erreichte meine mentale Gesundheit ihren Tiefpunkt. Ich... ich hatte einen Nervenzusammenbruch und meinen Eltern blieb nichts anderes übrig, als mich kurzzeitig in eine psychiatrische Klinik einzuweisen."

Zum ersten Mal seit ich zu sprechen begonnen hatte, schimmerte in Pierres Augen nicht nur Entsetzen, sondern auch Sorge und es rührte mich, dass ihm mein damaliger Gesundheitszustand trotz der Lage, in der wir uns gerade befanden, nicht egal war.

"Bei Routineuntersuchungen in der Klinik wurde eine Schwangerschaft festgestellt, neunte Woche. Ich war sowas von... überfordert und verzweifelt. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. In diesem Moment schaltete mein Körper einfach auf seine Instinkte um und ich wandte mich an Coco. Sie hat mir schon mein Leben lang geholfen, wenn ich in Schwierigkeiten gesteckt habe, deshalb war das die einzig logische Handlung, zu der ich fähig war. Als ich ihr erzählt habe, dass der Betrug an dir nur ausgedacht war und was mich dazu bewogen hat, wollte sie unbedingt, dass ich dir die Wahrheit sage und unsere Trennung wieder rückgängig mache. Aber ich hab darauf bestanden, dass sie mein Geheimnis bewahrt und letztendlich hat sie nachgegeben."

"Coco war immer die Vernünftigere von euch beiden", murmelte Pierre und ich zuckte beim monotonen Klang seiner Stimme zusammen.

"Ja, war sie. Und ist sie immer noch. Sie hat damals wirklich alles versucht, um mich zu überreden dir alles zu gestehen, aber mein Plan war das Einzige, woran ich mich in dieser Zeit klammern konnte und irgendwann wurde Coco klar, dass sie mich nicht davon abhalten konnte daran festzuhalten. Also hat sie sich darauf eingelassen und einen Plan entwickelt. Abtreiben wollte ich auf keinen Fall, aber das Kind behalten konnte ich auch nicht, dazu war ich in meinem damaligen psychischen Zustand überhaupt nicht fähig. Also hat Coco mir ein Apartment besorgt und die Adoption in die Wege geleitet, sodass ich mich um nichts kümmern musste außer am Leben zu bleiben und selbst das fiel mir damals schwer. Unseren Eltern haben wir erzählt ich würde eine halbjährige Auszeit im Kloster nehmen, aber in Wahrheit hab ich in dieser Zeit ein Kind zur Welt gebracht. Das Paar, das ihn adoptiert hat, war wundervoll und ich... ich hab ihnen meine Kontaktdaten gegeben, damit sie mich finden, falls er eines Tages wissen möchte, wer seine leibliche Mutter ist."

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt