Quarante-sept

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"Soweit ich mich erinnere, hatte ich Ihnen dringend davon abgeraten sich körperlich anzustrengen", sagte der Arzt mit mahnender Stimme.

"Ich musste rennen, das war wichtig", antwortete ich tonlos und zuckte ein wenig zusammen, als ich die Hand an meinen Rippen spürte.

"Das muss es wirklich gewesen sein, sonst hätten sie den Sprint gar nicht geschafft. Mit so starken Schmerzen kann man normalerweise überhaupt nicht mehr rennen. Hat sie das denn nicht gebremst?"

"Nicht wirklich", murmelte ich bloß.

In Wahrheit spürte ich den Schmerz, der von meinen angebrochenen Rippen ausging so gut wie gar nicht. Das Einzige, das ich empfand, war der Schmerz in meinem Herzen. Der Schmerz, weil ich Pierre verloren hatte. Der Schmerz, weil meine Hoffnung auf Glück zerstört war und ich die Schuld daran trug.

Nachdem Pierre weggefahren und ich in meine Wohnung zurückgekehrt war, hatte ich stundenlang geweint. Das letzte Mal, dass ich so viele Tränen vergossen hatte, war fast sechs Jahre her und ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals wieder an so einen Punkt kommen würde.

Nachdem die Tränen endlich versiegt waren und ich völlig dehydriert und erschöpft auf meinem Sofa gesessen hatte, waren mir die stechenden Schmerzen in der Brust aufgefallen, die nicht seelisch waren, sondern real. So real, dass ich mich instinktiv zusammengekrümmt und nach Luft geschnappt hatte.

Als die Atemnot nach mehreren Stunden immer noch nicht besser geworden war, befürchtete ich, ich könnte mir die angebrochenen Rippen bei meinem Versuch Pierre hinterher zu rennen, um ihn aufzuhalten vielleicht noch weiter beschädigt haben. Weil ich vor Schmerzen wie gelähmt war, hatte ich kurzerhand ein Taxi gerufen und mich nach Paris in die Notaufnahme bringen lassen, wo ich genau dem Arzt gegenüber gelandet war, der mich auch schon nach dem Unfall letzte Woche behandelt hatte.

Nach weiteren Stunden, die ich abwechselnd mit Untersuchungen und Warten verbracht hatte, stand fest, dass die Rippen nicht vollständig gebrochen waren, aber der kurze Sprint am Nachmittag war trotzdem alles andere als eine gute Idee gewesen. Und er hatte nichtmal seinen Zweck erfüllt, denn Pierre war weg, obwohl ich ihn eingeholt hatte.

"Sie sollten sich weiterhin schonen und ich gebe Ihnen ein Schmerzmittel mit, damit sie schlafen können. Nehmen Sie es wirklich nur abends, es ist ziemlich stark und Sie dürfen damit kein Auto fahren."

Die Stimme des Arztes drang nur ganz langsam zu mir durch, als würde mir jemand Watte auf die Ohren drücken, um die Geräusche der Umgebung zu dämpfen. Trotzdem nickte ich, um zu zeigen, dass ich verstanden hatte und nahm die kleine Packung mit den Tabletten entgegen.

"Danke."

"Ich sehe gerade im Computer, dass ich Sie nur bis gestern krankgeschrieben hatte. Es ist jetzt fast vier Uhr morgens, Sie sollten nach Hause und sich ausruhen statt zur Arbeit zu gehen. Ich werde sie für heute und morgen nochmal krankschreiben, ab Montag können Sie dann wieder zur Arbeit."

Zum ersten Mal erwachte ich ein kleines bisschen aus meiner Trance und schüttelte den Kopf. Ich musste zur Arbeit, zu Hause würde ich in den nächsten Tagen viel zu viel Zeit zum Nachdenken haben und das wollte ich um jeden Preis verhindern.

"Nein, das ist nicht nötig, ich kann arbeiten", versuchte ich den Arzt zu überzeugen, der mich zu meiner Überraschung mitleidig ansah.

"Madame Vinet, bei allem Respekt, Sie sehen furchtbar aus. Nicht nur, dass sie vor einer Woche einen Autounfall hatten, Sie wirken auch extrem erschöpft und ausgelaugt. Ich kann es nicht verantworten, dass Sie in diesem Zustand überhaupt das Bett verlassen, geschweige denn arbeiten gehen. Also werde ich Sie krankschreiben und bitte Sie inständig, sich wirklich zu Hause auszuruhen und erst am Montag wieder in den Alltag zurückzukehren."

Die Tatsache, dass der Mann es offensichtlich wirklich nur gut meinte, hätte mir unter normalen Umständen wohl ein Lächeln entlockt, aber das hier waren keine normalen Umstände. Ich war im absoluten Ausnahmezustand.

Aber das war nichts, was ich mit dem Arzt besprechen würde, also nickte ich bloß und ließ mich krankschreiben, wohlwissend, dass ich einen Scheiß darauf geben und in fünf Stunden bei der Arbeit aufkreuzen würde. Auf diese Weise konnte ich meinem Gegenüber wenigstens das Gefühl geben, seinen Job gemacht zu haben und ihm ein schlechtes Gewissen ersparen.

Mit dem Schmerzmittel und der Krankschreibung in der Tasche verließ ich kurze Zeit später das Krankenhaus und ließ mich vom Taxi nach Hause fahren. Mir war klar, dass mich die beiden Fahrten heute Nacht ein Vermögen gekostet hatten, aber ich versuchte nicht daran zu denken.

Bis ich zu Hause war, war es fünf Uhr morgens und jetzt noch schlafen zu gehen lohnte sich nicht, also nahm ich stattdessen eine eiskalte Dusche und bereitete schon ein paar Dinge für die Arbeit vor. Gegen sieben tauschte ich die Jogginghose und den Hoodie gegen die Klamotten, die ich mir gestern schon für heute rausgesucht hatte, dann verbrachte ich eine geschlagene Viertelstunde damit mich zu schminken, um meine tiefen Augenringe und die roten Hautreizungen vom vielen Weinen zu verstecken.

Als ich um halb acht in die Bahn stieg, hatte ich seit über 23 Stunden nicht geschlafen und war mit Ibuprofen vollgepumpt, weil ich das Schmerzmittel aus dem Krankenhaus nicht vor der Arbeit hatte nehmen wollen. Zu meiner Überraschung begann während der Fahrt mein Handy zu vibrieren und erst als ich Cocos Namen auf dem Display sah, wurde mir klar wieso sie anrief.

Wir hatten es uns in letzter Zeit zur Gewohnheit gemacht auf dem Weg zur Arbeit miteinander zu telefonieren und natürlich wusste sie, dass heute mein erster Tag seit dem Unfall war. Was sie nicht wusste, war die Sache mit Pierre. Ich hatte meiner Schwester nichts davon gesagt, dass ich vorhatte Pierre die Wahrheit über das Baby zu erzählen und deswegen hatte sie auch keine Ahnung, dass das schiefgegangen war.

Aber ich fühlte mich nicht in der Lage ihr das jetzt alles zu erklären, außerdem saß ich im Zug und wollte nicht vor all diesen müden, fremden Menschen mein Liebesleben ausbreiten. Also wartete ich bis das Vibrieren meines Handys aufhörte und schrieb Coco dann eine Nachricht, dass ich gerade nicht telefonieren wollte, weil die Bahn so voll war und ich niemanden stören wollte. Sie akzeptierte es und wollte es am Abend nochmal versuchen, worauf ich einging, obwohl ich das um jeden Preis verhindern wollte.

Meine Schwester kannte mich besser als ich mich selbst und würde sofort merken, dass etwas nicht stimmte. Und darauf zu kommen, dass es etwas mit Pierre zu tun hatte, war mit Blick auf die nähere und fernere Vergangenheit auch alles andere als schwierig, also musste ich diesen Telefonat heute Abend unbedingt verhindern. Gedanken darüber würde ich mich aber erst im Laufe des Tages machen können, denn jetzt erreichte ich meine Zielhaltestelle und musste mich erstmal darauf konzentrieren die nächsten neun Stunden durchzustehen.

Als ich durch das Großraumbüro vor meinem eigenen lief, konnte ich einige Blicke auf mir spüren und spannte mich automatisch an. Ich arbeitete bei einer Zeitung, Informationen waren unser Geschäft, also war es nicht verwunderlich, dass mein Unfall sich herumgesprochen hatte. Trotzdem versuchte ich die Blicke zu ignorieren und steuerte einfach nur auf mein eigenes Büro zu.

Sobald ich es erreicht und die Tür hinter mir geschlossen hatte, lehnte ich mich dagegen, schloss die Augen und presste fest die Lippen aufeinander, um zu verhindern, dass mir ein Schluchzen entwich. Ich konnte das nicht, ich war nicht stark genug. Was hatte ich mir dabei gedacht herzukommen?

Aber jetzt gab es kein Zurück mehr, es war zu spät. Für die nächsten Stunden musste ich vergessen, dass ich körperliche und seelische Höllenqualen litt und mich auf meinen Job konzentrieren. Ich musste mich von all dem Chaos, das gerade herrschte, ablenken und trotz allem irgendwie aufrecht stehen bleiben.

Angestrengt öffnete ich die Augen, stieß mich von der Tür ab und lief zur Fensterscheibe, die nach draußen zeigte. Weil es noch recht dunkel war, konnte ich mich im Glas spiegeln und starrte mir selbst in meine leeren Augen. Entschlossen zog ich meine Mundwinkel nach oben und schon lächelte mein Spiegelbild mich so überzeugend an, dass ich es mir fast abgekauft hätte, wenn ich nicht genau gewusst hätte, wie es in meinem Inneren wirklich aussah.

"Fake it 'til you make it Lou", murmelte ich zu mir selbst, dann drehte ich mich um und lief zu meinem Schreibtisch. Es gab viel zu tun.

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt