Quarante-et-un

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Der gemeinsame Abend mit Pierre war trotz des für mich eher unangenehmen Gesprächs noch sehr schön gewesen. Nach dem Essen hatten wir lange gemeinsam auf dem Sofa gesessen und einfach über Gott und die Welt geredet, danach waren wir schlafen gegangen und es war ein schönes Gefühl gewesen, die zweite Nacht in Folge in Pierres Armen einzuschlafen, auch wenn wir dieses Mal angezogen waren und vor Müdigkeit innerhalb kürzester Zeit ins Land der Träume abdrifteten.

Am nächsten Morgen waren wir gemeinsam nach Paris gefahren, ich zur Arbeit und Pierre zum Flughafen, weil er zurück nach Italien musste. Unser Abschied war kurz ausgefallen, eine schlichte Umarmung in der Metro, mehr hatten wir uns wegen der Öffentlichkeit nicht getraut, dann war ich ausgestiegen und er war weiter Richtung Flughafen gefahren.

Auf den letzten Metern zur Arbeit hatte ich versucht, Pierre und die Geschehnisse der letzten zwei Tage in den Hintergrund zu drängen, um mich auf meinen Job konzentrieren zu können und während mir das mit Pierre überraschend leicht fiel, war es vielmehr mein aus dem Ruder gelaufenes Telefonat mit Coco, das mir noch quer im Magen lag.

Während des Vormittags spielte ich immer wieder mit dem Gedanken meine Schwester anzurufen, obwohl ich davon ausging, dass sie heute wie immer in der Schule war und da wohl kaum einfach drangehen konnte. Kurz nach der Mittagspause hielt ich es dann nicht mehr aus und wählte ihre Nummer und zum ersten Mal seit ich denken konnte, tutete es mehr als vier Mal bis sie abhob.

"Hi", begrüßte sie mich mit ruhiger, emotionsloser Stimme und allein der Klang bescherte mir bereits eine Gänsehaut.

"Hi", erwiderte ich unsicher und räusperte mich verlegen, "Ich... ich rufe wegen gestern an. Ich hätte dich nicht so anmotzen dürfen, das war nicht okay von mir. Du bist immer für mich da und dafür bin ich wahnsinnig dankbar."

"Woher der Sinneswandel?", erkundigte meine Schwester sich leicht misstrauisch und ich seufzte innerlich.

"Du hattest Recht mit deiner Befürchtung. Pierre hat mich gestern Abend gefragt, ob wir es nochmal miteinander versuchen können und ich hatte mir dafür natürlich keinen Plan überlegt und war total überfordert", gestand ich niedergeschlagen.

"Tut mir Leid, das war sicher eine beschissene Situation. Wie seid ihr denn verblieben?", fragte Coco und ich hörte an ihrer Stimme, dass ihre Neugier und Sorge um mich die Überhand über ihren Ärger gewonnen hatte.

"Ich hab gesagt, dass ich darüber nachdenken werde und wir reden nochmal, wenn die Saison vorbei ist, also in knapp drei Wochen."

"Und was erhoffst du dir von der Bedenkzeit?"

"Keine Ahnung. Aber ich konnte ihm gestern Abend nicht einfach sagen, dass ich es nicht nochmal versuchen will, weil ich das will. Mein Gott, ich will nichts mehr als das. Aber ich müsste Pierre immer etwas verschweigen und das schaffe ich nicht, wenn wir uns ständig sehen und voneinander erwarten, dass wir ehrlich zueinander sind."

"Also denkst du darüber nach ihm doch die Wahrheit zu sagen?"

Ich ließ Cocos Worte einige Sekunden lang durch meinen Kopf wandern, dann seufzte ich tief. Keine Ahnung, dachte ich darüber nach? Wollte ich so unbedingt wieder mit Pierre zusammen sein, dass ich es riskierte ihm erneut das Herz zu brechen und vielleicht unsere gesamte Versöhnung wieder kaputt zu machen?

"Ich... ich weiß es nicht. Dass ich ihn überhaupt nicht betrogen habe, ist mir damals einfach so rausgerutscht, aber das hier ist was anderes, das wird mir nicht rausrutschen. Das werde ich nur über die Lippen bringen, wenn ich es angestrengt versuche, weil ich seit fünf Jahren kein Wort mehr darüber verloren habe."

"Was glaubst du wie Pierre reagieren würde, wenn du ihm die Wahrheit sagst?", fragte Coco unsicher.

"Das kann ich nicht einschätzen. Er denkt er wüsste jetzt alles über damals und wenn er erfährt, dass das nicht der Fall ist, wird ihn das sicher verletzen. Und wenn er verletzt ist, wird er schnell wütend und dann... dann wird er mich wahrscheinlich wieder hassen. Ganz ehrlich Coco, das kann doch nur schiefgehen! Wenn ich es Pierre erzähle, wird er das nicht einfach entspannt hinnehmen, so ist er nicht. Du weißt genau, dass er immer- dass er immer-", geriet ich ins Stocken und raufte mir verzweifelt mit der freien Hand die Haare.

"Ja, ich weiß. Und du hast Recht, freuen wird er sich über diese Geschichte sicher nicht. Aber er liebt dich und wenn er die ganze Sache verarbeitet hat, wird er dir dankbar sein, dass du ihm die Wahrheit gesagt hast. Ist besser, als wenn er es selbst irgendwie rausfindet und sich noch mehr hintergangen fühlt."

"Also findest du ich sollte es ihm sagen, damit wir nochmal eine Chance bekommen?"

"Ja. Lou, ich kenne dich schon dein ganzes Leben lang und wenn ich daran zurückdenke, wie du warst als du mit Pierre zusammen warst und wie du seit der Trennung bist, dann bricht mir das ehrlich gesagt das Herz. Du warst so viel glücklicher damals, lebendig und voller Licht. Ihr habt immer das Beste ineinander zum Vorschein gebracht und ich bezweifle, dass es jemals einen anderen Menschen geben wird, der diese Wirkung auf dich hat. Pierre und du, ihr verdient einander, ihr verdient euer gemeinsames Glück. Du wärst dumm, wenn du nicht alles versuchen würdest, damit ihr wieder zueinander findet. Aber das ist nur meine Meinung und du willst ja nicht ständig Ratschläge von mir, also-"

"Halt die Klappe, du weißt genau, dass es bescheuert von mir war das gestern zu sagen", unterbrach ich meine Schwester entschlossen, "Ich brauche deinen Rat, das wissen wir beide. Und ich denke, dass ich ihm folgen werde, aber... ich brauche noch Zeit. Zeit, um mir sicher zu sein und Zeit, um mir zu überlegen, wie ich es ihm sage und Zeit, um... um mich an damals zu erinnern und an all das, was ich verdrängt habe."

"Ich verstehe und es ist völlig legitim, dir diese Zeit zu nehmen. Wenn du dafür nicht allein sein willst, weißt du immer, wo du mich findest."

Lächelnd nickte ich.

"Ja, das weiß ich. Danke Coco. Für alles, hörst du? Ohne dich hätte ich das damals nicht geschafft. Ich war nach der Trennung nicht ich selbst und wenn du dich nicht um mich gekümmert hättest, hätte das alles richtig schiefgehen können."

"Dafür hat man doch große Schwestern. Ich hab dich lieb."

"Ich dich auch, du kannst dir gar nicht vorstellen wie sehr."

Am anderen Ende der Leitung erklang ein unterdrücktes Schluchzen, das mir sofort ebenfalls Tränen in die Augen trieb.

"Hey Coco, nicht weinen, sonst muss ich auch", flehte ich sie an, woraufhin sie gleichzeitig lachte und weinte.

"Tut mir Leid, ich wollte nicht... Es ist nur, dass ich dir gestern beim Telefonieren eigentlich noch was erzählen wollte, aber dann haben wir uns gestritten und... und ich weiß nicht, ob jetzt der richtige Moment dafür ist."

Besorgt runzelte ich die Stirn und spürte, wie sich jeder Muskel meines Körpers anspannte.

"Was ist los? Ist was passiert?"

"Ja, aber nichts schlimmes, keine Sorge. Du... Lou, du wirst Tante."

Es dauerte einen Moment bis Cocos Worte zu mir durchgesickert waren, dann schlug ich mir überwältigt die Hand vor den Mund und schloss die Augen.

"Du bist schwanger?", versicherte ich mich mit Tränen in den Augen und konnte hören, dass auch meine Schwester wieder schluchzte.

"Ja, bin ich. Und ich bin so glücklich, dass wir uns wieder versöhnt haben, damit ich es endlich dem wichtigsten Menschen in meinem Leben erzählen kann", antwortete Coco.

"Dem wichtigsten Menschen in deinem Leben? Was ist mit deinem Mann?", fragte ich in einer Mischung aus Lachen und Schluchzen.

"Ihm erzähl ich's morgen, ich hab nämlich extra einen Body besorgt, auf dem irgendwas mit Papa draufsteht und der kommt erst morgen an. Außerdem bist du meine Schwester und beste Freundin, mein absoluter Lieblingsmensch. Erst jetzt, wo ich es dir erzählt habe, fühlt es sich real an."

Gerührt zog ich die Nase hoch und blinzelte die letzten Tränen aus meinen Augen.

"Du wirst die beste Mutter der Welt, das weiß ich genau, und ich kann es kaum erwarten Tante zu werden. Und ich bin immer für dich da, okay? Genauso wie du für mich da gewesen bist, werde ich es auch für dich sein Coco."





#sistergoals

Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Blue.Where stories live. Discover now