Kapitel 39

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„Wir wollen unsere Sachen zurück!", zischt Kayahan den Busfahrer an.
„Die Sachen sind nicht mehr da!", der alte Mann zieht die Brauen zusammen und wirft mir einen kurzen Blick zu.

„Wie sie sind nicht mehr da? Vor zwei Tagen hatten wir einen Unfall, wir wollen unser Gepäck zurück!", schreit er schon.
„Kayahan lass es, es sind ja nur Klamotten", genervt rolle ich mit den Augen.
Kayahan wirft ihm einen wütenden Blick zu bevor er sich paar Schritte von dem Fahrer entfernt und wütend gegen die nächstbeste Wand schlägt, knirscht dabei mit den Zähnen. Ich verdrehe nur die Augen und hocke mich auf den Gehsteig und schaue ihm zu.

„Wann fahren wir los?", gehe ich nicht auf seine Reaktion ein.
„In zehn Minuten"

Ich nicke nur, stehe auf und schnappe mir seine Hand, welches er wütend zusammengeballt hat.

„Beruhige dich, Kayahan"
Kurz schaut er mich an und lächelt, sofort erwidere ich es und verpasse ihm einen Kuss auf den Handrücken.

„Seni seviyorum, Kayahan. (Ich liebe dich, Kayahan)"
„Ich dich auch Nefesim"

Leicht lächeln wir uns an bevor in den Bus einsteigen und uns auf unseren reservierten Plätzen setzen. Wir schnallen uns an, die Türen schließen sich. Still sage ich die Gebete vor, damit uns nichts passiert und schließe fest dabei die Augen. Spüre seine warme Hand auf meinem Knie, lege meine Hand auf seine und umschließe sie fest.

„Âmin", flüstert er als ich in seine Augen blicke. Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter und spiele mit seiner Hand. Der Bus fährt los, Kayahan legt seinen Kopf auf meinen Schoss. Ich streichle ihm durch die Haare, leicht lächelt er. Erwidere sein Lächeln, auch wenn er es nicht sieht.
Meinen Kopf lege ich gegen die Fensterscheibe und schaue aus dem Fenster während ich mit der Hand durch Kayahans Haare fahre.

Höchstens ein Jahr zum Leben.
Ein Jahre.
Dann bin ich weg, weg von dieser Welt.
Weg von Kayahan.
Weg von Elmas und den anderen.
Weg.
Verschwunden. Lebe nur noch in Erinnerungen von den Lebenden.

Früher wollte ich immer sterben als ich die schwierigsten Momente durchlebte, ich wollte einfach nur weg von dieser Welt. Doch jetzt, jetzt, wenn man den Tod in die Augen blickt, will man einfach nur noch losweinen, wegrennen und versuchen es zu verhindern.

Aber es bringt nichts, überhaupt nichts. Wenn du weit weg ziehst damit der Tod dich nicht erreichen soll, liegst du falsch. Sehr sogar.

Er wird dich verfolgen, egal wo du bist. Er wird dich erreichen, deine Seele aus dir heraussaugen und es mitnehmen. Dein lebloser Körper wird auf dem Boden liegen und nach deiner Seele verlangen, doch deine Seele wird nicht zurückkommen.
Auf gar keinen Fall.

Einmal habe ich im Buch gelesen, dass die letzten Minuten eines Menschen, die Erinnerungen, wie in einem Verlauf vor seinen Augen erscheinen wird. Von dem Moment, wo du kurz davor bist zu sterben bis zu dem Moment wo du gelernt hast Fahrrad zu fahren.

Bald werde ich es auch fühlen. Ich werde jede einzelne Erinnerung in die Augen blicken.

Kayahan, Elmas, Ümit, Vatan, meinen Vater, meine Mutter, meinen älteren und jüngeren Bruder. Die traurigen und die schönsten Erinnerungen. Alle Erinnerungen. Alle.

Tief nehme Luft und schaue zu Kayahan. Seine Gesichtszüge sind beim Schlafen viel weicher. Ein unschuldiger Engel liegt neben mir. Bald werde ich diesen unschuldigen Engel verlassen.

Leise seufze ich, meine Augen füllen sich. Kayahan wird sterben. Fest kneife ich die Augen zusammen, die Tränen wandern an meinen Wangen entlang.

|Wenn Hass regiert|Where stories live. Discover now