Kapitel 2 - Die Tallos

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Kapitel 2

Die Tallos


~Mile~
29. Juli 2019 - Berlin, Deutschland, Modo

Wie in einem Bienenstock aus Glas und Metall kam ihm der Berliner Hauptbahnhof an diesem frühen Montagmorgen vor. Überall summte ihm das Stimmengewirr in den Ohren, blinkten die elektrischen Reklametafeln und drückten Menschen sich eilig aneinander vorbei, um es auf den nächsten Zug zu schaffen.
Auch sie waren früh aufgestanden, um ihren Zug rechtzeitig zu erwischen. Die Verbindungen von Berlin nach diesem Wolfsbach waren ziemlich schlecht. Laut der App der Deutschen Bahn würden sie viereinhalb Stunden nach Hanau brauchen und dann noch einmal genauso lange. Nicht, weil Wolfsbach so weit weg lag, es war die Warterei auf Anschlusszüge, die die Reise so in die Länge zog. Fast war es, als würde selbst die Deutsche Bahn nicht wollen, dass sie zu ihrem Onkel zogen ...
»Also«, verkündigte der Pater, als sie ihren Bahnstieg erreicht hatten, wo sich bereits haufenweise Schlipsträger versammelt hatten, die wohl ebenfalls Richtung Hanau wollten. »Es ist an der Zeit, sich zu verabschieden.« Er sah so schuldbewusst aus, dass er Mile beinahe leidtat. Aber nur beinahe, schliesslich hatte er sich das schlechte Gewissen verdient. Und mit dieser Meinung schien er nicht allein zu sein, denn auch die anderen Pflegekinder warfen dem Pastor skeptische Blicke zu.
»Alter, dass du gehst, ist echt schade«, meinte Boris, ein gedrungener Kerl von siebzehn Jahren mit struppigem Haar und frühreifem Bartwuchs. »Aber deinen beschissenen Musikgeschmack werde ich echt nicht vermissen!«
Mile lachte und klopfte dem Jungen, mit dem er seit seinem sechzehnten Lebensjahr das Zimmer geteilt hatte, freundschaftlich auf den Rücken. Er mochte zwar kaum Interessen mit Boris geteilt haben, trotzdem hatte er immer ein offenes Ohr für ihn gehabt und er war ihm ans Herz gewachsen. Obwohl er ausschliesslich Dubstep hörte, was Mile als Beleidigung seiner Ohren empfand.
»Und wehe, du machst keine Fotos«, mahnte ihn Kamilla, bevor sie ihm einen dicken Schmatzer auf die Wange drückte. Das hochgewachsene, stark geschminkte Mädchen, das in Sabrinas Alter war, kannte Mile eigentlich nicht so gut. Sie lebte auch erst seit einem Jahr in ihrer Wohngemeinschaft, ausserdem war sie selten zu Hause, ständig mit Freunden unterwegs. Sie hatte zu Beginn mit Sabrina in einem Zimmer geschlafen, bevor sie sich vom Pater umquartieren lassen hatte, da sie von Sabrina des Nachts ständig wachgehalten worden war, wenn diese schreiend aus schlimmen Träumen erwachte.
Der letzte war Jonas, bei dem es sich um einen sehr zurückhaltenden Jungen handelte. Der Dreizehnjährige war vor drei Jahren zu ihnen gestossen und sprach noch immer kaum ein Wort. Man konnte ihm seine Zurückgezogenheit aber auch nicht übelnehmen. Man sah ihm an, dass es ihm schlecht ergangen war. Er hatte es ihnen nie erzählt und sie sich nie getraut zu fragen: Irgendjemand oder irgendwas hatte ihm beide Ohren abgeschnitten. Deshalb trug Jonas auch immerzu einen dunkelgrünen Beanie.
Der Kleine umarmte ihn stumm und als er sich von ihm löste, schenkte er ihm ein kurzes, feines Lächeln.
Zu Sabrina waren sie weniger offen. Sie wurde von allen nur kurz in die Arme genommen, das wars auch schon. Doch seine Schwester sah ohnehin aus, als wäre ihr allein das schon zu viel.
Nun war der Pater an der Reihe und er drückte Mile fest an sich. »Es tut mir leid«, brummte er ihm ins Ohr, als sein Pflegekind nur zaghaft die Arme um ihn schlang. »Irgendwann wirst du es verstehen ...«
Mile unterdrückte ein abfälliges Schnauben.
Auch Sabrina wurde von ihm umarmt, doch anders als ihr Bruder versuchte sie nicht, ihren Unmut zu verbergen. Sie blieb steif, sah ihm nicht einmal in die Augen und als er ihr eine gute Reise wünschte, antwortete sie nicht. Als er sich von ihr löste, war es der Zug, der sie vor dem peinlichen Schweigen bewahrte.
»Tschüss!« Sabrina schnappte sich ihren Koffer, drehte sich um und lief Richtung Gleis.
»Ääähm ... Wiedersehen Leute.« Mile winkte dem Pater und den übrigen Pflegekindern hastig zu und eilte seiner Schwester hinterher. »Bis bald!«
»Bye, bye!«
»Machts gut!«
»Lasst von euch hören!«
Mile wuchtete erst Sabrinas und dann seinen Koffer mit Schwung in den Zug, dann sprang er die Stufen hinterher. Einmal blickte er noch über die Schulter, bevor sich die Türen schlossen und der Zug langsam ins Rollen kam. Die Pflegekinder winkten, der Pater lächelte bitter, hob die Hand zum Mund und rief ihnen einen letzten Abschiedsgruss zu: »Passt auf euch auf ...«

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now