Kapitel 26 - Der Herzkasper

920 72 151
                                    

Kapitel 26

Der Herzkasper


~Sabrina~
9. Jomiko ☼IV – Tempus, Wiege der Welt, Twos

Der Fremde zog sie den Gang hinab, immer weiter ins Dunkel, das er mit jedem seiner Schritte mit dem Klingen seiner Schellen füllte. Auch das Kaninchen Sero hatte sich unterdessen zu ihnen gesellt. Er hoppelte genauso stillschweigend wie sein fratzenziehender Freund vor ihnen her.
Der Fremde warnte sie, wann immer der Boden glatt oder uneben wurde oder sie auf Treppenstufen achten musste. Ab und an liess er sie innehalten, nestelte an irgendwas rum, dann war ein leises Schaben an der Wand zu hören, als würde er dort etwas hineinritzen, doch Sabrina konnte nicht erahnen, was es sein könnte. Ein Zeichen, um später den Weg zurück zu finden?
Sie sahen nichts, bis sie irgendwann eine blau leuchtende Wyrselsteinlaterne fanden. Und nun konnten Faritales und Sabrina sehen, was der Clown, der eigentlich ein Narr war, an den Wänden herumkratzte. Alle paar Meter zog er ein Stück Kreide aus einem Beutelchen am Gürtel und malte ein Symbol an die Wand. Eine steile Linie, die nach rechts geneigt war, dann ein Zickzack mit drei Spitzen, deren Mittlere die höchste war, gefolgt von einer abfallenden Linie, die das Spiegelbild der ersten war. Es ähnelte einem ›M‹ mit einer mittleren, höheren Zacke. In dieses ›M‹ zeichnete er eine Raute, der eine Spitze fehlte und somit einem kleinen ›v‹ mit eingeknickten Enden ähnelte.
Sabrina brauchte eine ganze Weile, um die Bedeutung dieser Kritzelei zu verstehen, doch schliesslich kam sie zu dem Schluss, dass es sich um die sehr simple Zeichnung eines Vogels handeln musste.
›Vielleicht ein Rabe‹, dachte sie sich und als sie den Gedanken weiterspann, wurde sie beinahe schon euphorisch.
Irgendwann erreichten sie eine Nische in der Wand, an der eine rostige Leiter angebracht war, die hinauf in einen dunklen, engen Schacht führte.
»Habt Ihr da drunter noch etwas an?«, fragte der fremde Mann mit klarer Stimme und musterte Sabrina mit einer Miene, als würde er sie bemitleiden.
Es war das erste Mal, dass ihr schweigsamer Retter sie beim Sprechen anblickte und das gab auch Sabrina die Gelegenheit, ihn genauer zu mustern.
Der Fremde war nicht viel älter als sie selbst und steckte in der Tracht eines Hofnarren. Verwaschenes Grau war auch die vorherrschende Farbe seiner Tracht, jedoch wurde diese Tristheit von schrillem Rot kontrastiert. So war ihm auf die Brust seiner grauen Weste ein rotes Herz gestickt. Darunter trug er ein enges Unterhemd, dessen linker Arm grau und der rechte rot war. Verkehrt hielt es sich mit seinen verschiedenfarbigen Handschuhen, Strumpfhosen und den Schnabelschuhen. Ein mehrschichtiger, in breite Streifen gerissener, ebenfalls roter Rock, der ihm bis zu den Knien reichte, wurde von einem zerschlissenen Gürtel an seinen Hüften gehalten. An ihm baumelten kleine Lederbeutelchen, schwarze und graue Quasten und eine Taschenuhr. Das Herz auf seiner Brust war als Anhänger der dicken Goldkette wiederzufinden. Ein Klunker, der viel zu wertvoll und prächtig für den sonst so zerlumpten Aufzug des Narren schien. Auf dem Kopf durfte natürlich die Narrenkappe mit Schellen an den fünf Zipfeln nicht fehlen. Darunter klebte ihm sein dunkelbraunes, strähniges Haar in der weiss geschminkten Stirn. Vielleicht liess ihn ja die Farbe so puppenhaft wirken, doch das allein war es nicht. Er war abgemagert, das sah man nicht nur seinem ovalen Gesicht und dem dürren Hals an. Seine hoch angesetzten, runden Ohren standen lächerlich weit ab, fast wie bei einer Maus. Eine lange Nase sass über dem kleinen, aber sehr vollen Mund. Im Schatten einer tiefen Stirn lauerte der Blick trist grauer, jedoch unbehaglich wacher Augen. Da seine Schminke nicht besonders deckend war, konnte man die Tattoos in seinem Gesicht gut erkennen. Ein Stück unter seinen Brauen begannen auf der linken Seite ein dünner Strich und auf der rechten zwei weitere - verschieden lang. Die Linien zogen sich über seine Lider und Jochbeine, um dann irgendwo auf den eingefallenen Wangen zu enden.
»Wer seid Ihr?«, fragte Sabrina, statt dem Narren zu antworten.
Der Fremde blieb beharrlich und wiederholte: »Habt Ihr da drunter noch etwas an?« Obwohl er nicht unfreundlich klang, stachen sie seine Augen nieder und seine Nasenflügel bebten.
Sabrina zögerte. Dieser seltsame Clown hatte sie gerettet, doch konnte sie ihm deshalb trauen? Da erinnerte sie sich an das Rätsel, das jeder gestellt bekam, der den Schwarzen fremd war: »Die Feder mag gebrochen sein ...«
Der Narr und das Kaninchen wechselten einen Blick und im Chor antworteten sie: »... doch an den Raben wird erinnert.«
Etwas bedrückt meinte das Kaninchen: »Die Rebellen sollten sich ein neues Erkennungszeichen suchen, Prinzessin. Erst kürzlich traf ein Abtrünniger Rebell in Tempus ein, der den Antagonisten davon erzählte.«
Sabrina schluckte. »Dann werde ich es ihnen ausrichten ... falls ich es wieder zu ihnen zurückschaffe ...« Sie sah an sich und ihrer schwarzen Brigantine herab. »Drunter trage ich nur ein Wappenkleid ... Halt, nein, und ein Leinenhemd. Auf Letzteres sollte kein Wappen der Rebellen zu sehen sein.«
Der Fremde nickte. »Das muss reichen. Aber die Schuhe müsst Ihr auch hierlassen. Keine Magd besitzt genug Gold für einen so teuren Schuster wie den, dessen Werk Ihr an den Füssen tragt!«
»Dann soll ich barfuss gehen?!«, stiess sie hervor.
»Wenn Ihr nicht entlarvt werden wollt, dann rate ich es Euch an.«
So ergab sich Sabrina seufzend ihrem Schicksal. Ihr Retter half ihr beim Ausziehen der Brigantine. Genau wie das Wappenkleid und die Stiefel landete sie im Dreck.
»Ihr besitzt keine Waffen?«, wollte der Narr wissen. »Wenn die Gardisten auch nur eine Nadel an Euch entdecken, werden sie Euch abstechen, ohne zu fragen.«
Sie schüttelte den Kopf.
Da nickte ihr Retter. »Wir werden nun dort hinaufklettern«, erklärte er und deutete auf die rostige Leiter. »Über uns liegt die Küche. Ihr dürft nichts anfassen, niemanden ansprechen und wenn jemand Euch anspricht, zieht ihr den Kopf ein, nickt und geht weiter. Und seht niemandem direkt in die Augen!« Seine Miene war zu einem überzogenen Lächeln geworden, das seine Augenbrauen weit nach oben zerrte. All diese seltsamen Grimassen verwirrten Sabrina, denn die Stimmlage des Narren klang alles andere als heiter. Er meinte es todernst. »Habt Ihr das verstanden?« Der Blick seiner trist grauen Augen war eindringlich.
»Ja.« Sabrina nickte. »Aber wohin wollt Ihr uns denn bringen?«
»An einen Ort, wo Ihr in Sicherheit seid«, erklärte der Fremde knapp.
»Ich muss aber nicht in Sicherheit gebracht werden«, wehrte sie sich. »Ich könnte jederzeit wieder von hier weg.«
Seros Näschen zuckte verwirrt. »Wie meint Ihr das?«
»Ich kann traumwandeln«, erklärte sie eilig. »Ich bin nur noch hier, weil ich unbedingt in den Thronsaal des Sommerturms muss! Und herausfinden, was dieses Cernunnos ist, will ich auf!«
Der Narr und das Kaninchen wechselten einen vielsagenden Blick.
»In den Thronsaal wollt Ihr? Und .... Cernunnos?«, fragte Sero skeptisch. »Warum?«
»Weil«, machte Sabrina spitz, was den Narren seltsam schrill auflachen liess. Dass ihre kleine, verrückte, sich in Eulen verwandelnde Cousine, ohne die sie Tempus nicht verlassen würde, sie auf dieses Cernunnos angesetzt hatte, liess sie lieber aus. Sie konnte nicht gebrauchen, dass ihre neuen Verbündeten an den Dingen zweifelten, die sie selbst nicht verstand. Auch Faritales schien soweit mitzudenken, denn er hielt brav die Klappe.
Ob Mondkind noch immer in dem Saal mit den Antagonisten war? Hoffentlich war sie klug genug, sich in Sicherheit zu träumen, bevor sie entdeckt wurde!
»Warum auch immer ihr in den Thronsaal wollt, dort kommt Ihr jetzt auf keinen Fall rein«, schnaubte der Narr mit unpassend fröhlicher Miene. »Die ganze Etage ist seit Jahrzehnten gesperrt. Niemandem wird der Eintritt erlaubt.«
»Und was ist mit Cernunnos? Wisst Ihr, wo und wer das ist?«, fragte sie nun voller Tatendrang. So schnell würde sie nicht aufgeben. »Oder was?«
»Ich ... weiss wo«, gab der Narr zögerlich klingend und angeekelt aussehend zu. »Doch ich habe es - was auch immer es ist - noch nie zu Gesicht bekommen.«
»Bitte, bringt mich hin!«, bat sie, doch der Fremde schüttelte mit seinen Schellen klimpernd den Kopf.
»Dafür müssten wir hinab in die Verliese! Das geht nicht so auf die Schnelle, das wäre eine Mission, die wir erst gründlich planen müssten. Die Schichtenwechsel der Gardisten auskundschaften, ihre Gewohnheiten studieren ...«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Diese Symbole, die Ihr an die Wand gemalt habt ... Ihr beide gehört zum Widerstand, nicht wahr?«
Kaninchen und Narr blieben stumm.
Also bohrte Sabrina weiter. »Ihr habt einen guten Freund von mir da unten rausgeholt, also falls ihr daran beteiligt wart. Hänsel Björkson. Seine Schwester Gretel und so ein kleiner Homunkulus; Pinocchio; waren auch dabei.«
Zögernd nickte der Narr. »Ja ...«, brummte er gedehnt. »Das waren wir.« Er holte tief Luft. Dies zuzugeben schien ihn viel Überwindung gekostet hatte. »Wie geht es ihnen? Haben sie es heil überstanden?«
Sie nickte. »Sie sind alle wohlauf. Na ja. Wieder.«
Da nickte der Fremde. Er klang erleichtert, wenn seine Züge auch etwas anderes aussagten, als er leise »Drillon sei Dank« murmelte.
Nun, da geklärt war, dass sie alle für dieselbe Sache kämpften, streckte Sabrina dem Narren ihre Hand entgegen. »Sabrina«, sagte sie feierlich. »Und das Kerlchen auf meiner Schulter ist Faritales.«
Der Dämon hielt sich die Hand zum Soldatengruss an die Stirn. »Grüezi wohl!«
Der Narr blickte auf Sabrinas Hand herab, als hätte er vergessen, dass es Brauch war, sie zur Begrüssung zu schütteln. Schliesslich ergriff er sie doch und Sabrina erschrak, als sie spürte, wie dünn und zerbrechlich sich seine Finger anfühlten. Dennoch war sein Händedruck nicht lasch.
»Ich weiss, wer du bist, Sabrina Beltran«, raunte er, als hätten die Wände Ohren. Es klang nicht unfreundlich, doch seine Mundwinkel verzogen sich steil nach unten.
»Dann schaffen wir Chancengleichheit, meinst du nicht?«, versuchte sie, sein Gesicht etwas fröhlicher blicken zu lassen, doch irgendwie erfolgte das Gegenteil. Dennoch fragte sie: »Wie heisst du?«
»Ich bin der Herzkasper, der Anführer unserer kleinen, aber feinen Widerstandsbewegung«, erklärte er und verbeugte sich, sodass die Schellen an seinen Kleidern klimperten, dann deutete er auf seinen pelzigen Begleiter. »Und dies ist Sero, mein bester Mann ...«
»Dein bester Rammler, wenn ich bitten darf!«, korrigierte ihn das Kaninchen mit vor Stolz geschwellter Brust.
»Die Ehre ist ganz meinerseits«, antwortete Sabrina lächelnd, doch den Narren musterte sie skeptisch. »Herzkasper?«, wiederholte sie. »Das ist doch ein Titel, oder? Nicht dein Name.«
Er zuckte die Schultern. »Ich habe keinen anderen.«
»Seid ihr Rebellen sicher, dass ihr Tempus befreien wollt?«, raunte Faritales Sabrina ins Ohr. »Die haben hier ja alle komplett eins an der Waffel.«
Sabrina ignorierte den Dämon. Auch wenn der Narr mit einem Mal wieder etwas irre vor sich hin grinste, schien diese Fratze nicht mit seinem Innenleben übereinzustimmen. So, als wären bei ihm die Gesichtsausdrücke durcheinandergebracht worden. Vorsichtig fragte sie: »Wie kann man denn keinen Namen haben?«
»Seine Mutter hat ihm nie einen gegeben«, kam ihm das Kaninchen zur Hilfe.
»Nenn sie nicht meine Mutter«, knurrte der Herzkasper grimmig, doch mit einer Miene, die nichts als Sonnenschein war. »Sie mag mich gezeugt haben, doch das ist auch schon alles.«
Eine Vermutung kam in Sabrina auf, doch sie wagte nicht, sie auszusprechen. Faritales hingegen war da ganz anders gestrickt ...
»Du bist Cordas Sohn?!«, entfuhr es dem Nachtmahr, der mal wieder einmal das Feingefühl eines fliegenden Backsteins bewies. »Kein Wunder, dass du ständig eine Visage machst, als wärst du Gesichtsepileptiker!«
»Fari!«, schalt sie den Dämon auf ihrer Schulter, doch der Herzkasper winkte ab.
»Corda will es eigentlich geheim halten, doch unter den Bediensteten der Kristalltürmen ist es mittlerweile ein offenes Geheimnis. Und was mein Gesicht angeht ...« Er fuhr sich über die Augen, deren Brauen sich zornig zusammengezogen hatten. Wenn auch etwas verzerrt durch den wütend verzogenen Mund, erklärte er sanft:  »Ich kann meine Emotionen nicht zeigen, wie jeder andere Mensch, dafür verfüge ich jedoch über eine enorme Empathie.«
»Er kann sich praktisch in jeden hineinfühlen«, fügte Sero an. »Und er kann auf die Gefühlswelt anderer einwirken!«
»Begrenzt«, verbesserte der Herzkasper das Kaninchen.
»Und das hat mit Corda zu tun?«, fragte Sabrina interessiert.
»Keine Ahnung«, meinte der Narr schulterzuckend. »Ich weiss nichts über sie. Sie hat mich nach meiner Geburt in die Obhut einer Magd gegeben und als ich dann mit etwa acht Jahren alt genug war, um einigermassen auf mich selbst aufzupassen, liess sie diese köpfen. Seither hält sie mich wie ihr Haustier. Wann immer ihr langweilig ist und selbst Flamingo-Cricket oder eine Hinrichtung sie nicht mehr unterhält, muss ich antanzen. Irgendwie findet sie es einfach zum Schreien komisch, meine seltsame Mimik zu beobachten«, grimmig und gleichzeitig lächelnd strich er über die Stickerei auf seiner Brust. »Manchmal glaube ich, dass, wo sie eine gähnende Leere in der Brust hat, ich zwei Herzen tragen muss. Mein eigenes und ihres, das in ihr nie fühlen gelernt hat.« Er seufzte, dann straffte er die Schultern. »Also gut, Sabrina Beltran. Bringen wir dich zu Cernunnos.«
So begannen sie, den Schacht zu erklimmen.

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now