Kapitel 39 - Der Herrscher über alle Macht

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       Triggerwarnung: Sexuelle Gewalt
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Kapitel 39

Der Herrscher über alle Macht


~Sabrina~
4. Junaid 80'024 ☼IV – Tempus, Wiege der Welt, Twos

Nevis hatte nicht gelogen. Die Antagonisten kamen und so oder so waren sie auf Blut aus.
Grau gerüstete Soldaten holten sie aus ihren Zellen, zwangen sie mit Schlägen und Tritten vor dem Altar des Bunkers auf die Knie, einen neben dem anderen. Da kauerten sie nun; ihre Freunde und Familie. Falk, Red, Jeremy Topper, der Herzkasper, Nebelfinger, Lichterfänger, Regenherz, Stilletänzer und Valyn. Sabrina klammerte sich an die Gitterstäbe ihrer Zelle. Cernunnos hinter ihr tänzelte nervös.
Die Antagonisten bauten sich hinter dem Altar auf. Sie alle schienen ihre feinsten Kleider für diesen Anlass aus den Schränken geholt zu haben. Selbst Hedwig hatte den schroffen Jutestoff in sauberes Leinen getauscht, nur von ihrer Kette aus Kinderaugen hatte sie sich trotzdem nicht trennen können, natürlich, schliesslich war sie die Quelle ihrer Macht. Ihre Schwester Damaris, die sich für schwarze Seide mit waghalsig tiefem Ausschnitt entschieden hatte, trat vor und schenkte Sabrina ein schrecklich schönes Lächeln. »Wundervollen Tag, Sabrina Beltran.« Mit einer ausladenden Bewegung deutete sie auf die neun Knienden vor dem Altar. »Wie Ihr seht, ist alles vorbereitet für unser Happy End. Fehlt nur noch unser Ehrengast am richtigen Platz.« Mit einer raschen Handbewegung scheuchte sie Nevis aus der Reihe der Antagonisten. Diese eilte an den Knienden vorbei auf Sabrinas Zelle zu und schloss auf.
»Tu, was ich dir geraten habe!«, zischte sie und suchte Sabrinas Blick. »Das wird alles einfacher machen.«
Die Zellentür sprang auf und die Schneekönigin trat beiseite.
»Versuch bloss nichts Unüberlegtes«, mahnte Corda. »Ein falscher Schritt und jeder deiner Freunde hat einen Pfeil im Schädel stecken!«
Cernunnos schnaubte und scharrte mit dem Huf.
»Nun komm schon«, forderte Nevis leise.
Sabrina schluckte und trat über die Schwelle der Zelle. Augenblicklich kamen zwei Soldaten auf sie zu, packten sie und rissen sie beiseite, damit ihre Mitstreiter sich ungestört um den Hirsch kümmern konnten.
Cernunnos röhrte, als drei Inker in die Zelle stürmten. Mit Hieben ihrer Schwerter, die jedoch von ihm abprallten als handelte es sich bei dem scharfen Metall um stumpfes Holz, drängten sie ihn gegen die Wand und fingen sein Geweih mit Seilen ein. Sie drückten seien Kopf zu Boden, warfen ihn um, packten und fesselten die um sich schlagenden Hufe schleiften das wehklagende Urwesen aus seiner Zelle.
Sabrina konnte nur tatenlos zusehen. Wie konnte man etwas so Heiliges nur so schänden?
Sie schleppten Cernunnos vor die Knienden, wo sie ihn am Boden liegen liessen. Die Enden des Seils, das sie um sein Geweih geschnürt hatten, banden sie an zwei im Boden eingelassene Metallösen fest, sodass sein Kopf auf den Boden gepresst wurde. Das arme Tier keuchte und brüllte, bis Damaris entnervt die Eisprinzessin anwies, das Urwesen zum Schweigen zu bringen.
Die Soldaten liessen Sabrina los und stiessen sie zu Boden. Vorsichtig näherte sie sich ihrem Boten des Winters, liess sich auf die Knie, streichelte sein Fell und flüsterte: »Ruhig, ganz ruhig, wir schaffen das schon!«
Tatsächlich beruhigte sich der Hirsch, hörte auf, sich zu winden, lag still da, nur seine Flanken hoben und senkten sich bebend.
Sabrina nutzte diese Chance, um die Lage zu überschauen. Ihren Freunden schien es den Umständen entsprechend gut zu gehen. Nur der einbeinige Regenherz, der unaufhörlich um sein Bewusstsein ringend am Altar lehnte, machte ihr Sorgen, doch Nebelfinger, der neben ihm kauerte, hatte ein Auge auf ihn. Schnell erlaubte sich Sabrina, ihren Blick mit Falks zu kreuzen. Er schenkte ihr ein ernstes Lächeln, was so viel bedeutete wie: »Aye, ich bin okay.«
Abgesehen von den Antagonisten befanden sich noch etwa zwanzig Soldaten in dem Raum. Sie waren an jeder Wand und Ecke des achteckigen Raumes postiert und zielten mit gespannten Armbrüsten auf die Knienden und sie selbst.
Damaris trat vor sie. »Hier«, erklang ihre kalte Stimme und als Sabrina aufblickte, hielt die Königin ihr ein metallenes Schälchen und ein kurzes Messer hin. »Schneide ihn«, befahlt sie, »und lass das Blut in die Schale laufen. Nur lass es dich nicht berühren, wenn dir deine Seele lieb ist.«
Bevor Sabrina antworten konnte, erklang ein lautes Scharren und als sie aufblickte, sah sie, wie Fitcher und Midas die Platte des granitenen Altars anhoben und achtlos zu Boden krachen liessen. Nun beugte sich Corda in den scheinbar hohlen Kasten und hob etwas heraus, das Sabrina bei seinem blossen Anblick die Haare zu Berge stehen liess: Es war schlicht, hölzern, mit allerlei magischen Symbolen übersät und an seiner Vorderseite baumelte ein goldenes Schloss, das anstelle eines Schlüssellochs nur eine Kerbe trug. Die Macht, die von der Schatulle ausging brachte die Luft um sie zum Flimmern ...
»Die Büchse der Pandora«, hauchte Sabrina. »Sie war die ganze Zeit über hier ...« All die Chancen, die sie gehabt hätte, die Allmachtspieluhr in ihren Besitz zu bringen ...
»Sabrina!« Damaris schob sich vor ihr Blickfeld. »Ich habe dir etwas befohlen!« Sie drückte Sabrina das Messer und die Schale in die Hand. »Glaub ja nicht, dass du damit weit kommen könntest.« Spottete die schöne Antagonistin und deutete auf die kleine Waffe. »Versuch es nicht mal.« Damaris stellte sich wieder an die Seite ihrer Schwester. »Und wenn du dich weigerst, bringen wir deine Freunde um.«
Sabrina holte tief Luft, ihr Blick wanderte über die Gesichter ihrer Liebsten. Sie alle hatten denselben Ausdruck auf dem Gesicht, selbst Valyn, der ein Heiler und nie ein Krieger gewesen war.
Nachdem Nevis wieder gegangen war, hatte sich Sabrina eine Weile alles durch den Kopf gehen lassen. Ihre erschreckend wenige Möglichkeiten, die Konsequenzen, die kleineren und grösseren Übel. Dann hatte sie die anderen geweckt und ihre Gedanken mit ihnen geteilt. Gemeinsam hatten sie eine Entscheidung gefällt.
Ihre Stimme strotzte nur so vor Trotz, als sie das Kinn vorschob und klar und deutlich »Nein« sagte.
»Ja!«, jubelte Corda, als hätte sie ihr damit ein Geschenk gemacht. »Ich habe gehofft, dass sie das sagen würde!«
»Mit welchem fangen wir an?«, fragte Numan, der nun vortrat und die Knienden betrachtete, als würde es um die Auswahl der Farbe neuer Vorhänge gehen.
»Ich schlage vor, wir fangen klein an und arbeiten uns dann hoch«, schlug Midas ganz pragmatisch vor und blickte zu Damaris auf. »Darf ich?«
»Von mir aus«, seufzte Damaris gelangweilt. »Aber mach nicht wieder eine ewiglange Show daraus, ja?«
Das Kind Asvinis leckte sich über die Lippen wie ein lechzendes Tier über die Lefzen. Er trabte zu dem freienn Platz rechts von Sabrina, wo die Grauen ihm eilig Platz machten. Dort baute er sich auf, griff in die Innentasche seines seidigen Gewands und zog mit den behandschuhten Fingern seiner rechten Hand eine kleine Maus daraus hervor, die er an dem rosa Schwanz hielt. Panisch fiepend wand sich das Tierchen.
»Uh, toll!«, kicherte Corda und klatschte in die Hände.
»Pff, das ist ja wohl das Geringste, was man von dem Gründer einer Gauklerstadt erwarten kann«, schnaubte Jeremy Topper, was ihm von einer der Wachen den strafenden Schlag auf den Hinterkopf einbrachte.
»Sehet und staunet!«, rief der Zwerg. Mit diesen Worte biss er sich in die Spitze seines schwarzen Handschuhs, der wie ein geschmeidiger Film von seinen Fingern glitt. Er liess den Stoff, der ohne Zweifel magisch sein musste, zu Boden fallen. Die Hand, die nun zum Vorschein kam, begann sich vom Gelenk an gelblich zu färben, sodass sie an den Fingerspitzen fast schon orange wirkten. Und als er damit die Maus berührte, erstarrte diese und wurde zu glänzendem, polierten Gold.
Schwer schlug die Goldmaus auf dem Granit auf, als der Zwerg sie breit grinsend zu Boden fallen liess.
»Weisst du, was es für ein Tintenwesen bedeutet, wenn es zu Gold wird, kleine Prinzessin?«, fragte Midas mit einem widerwertig genüsslichem Grinsen, während er den Wachen bedeutete, ihm sein nächstes Opfer herzubringen; Regenherz, der gar nicht richtig mitbekam, wie ihm geschah, als einer der Grauen ihn packte und wegschleifte.
»Nein!«, stiess Lichterfänger hervor, als er verstand, Stilletänzer gab einen unartikulierten, panischen Laut von sich, Nebelfinger wirkte wie erstarrt, Valyn flüsterte ein Gebet, Falk stiess einen Fluch aus, Red schlug die Hände vor den Mund, der Hutmacher schüttelte fassungslos den Kopf und der Herzkasper brach in ein hässliches, schallendes Gelächter aus.
»Kein Tod auf Zeit! Keine Wiedergeburt!«, gackerte Corda und begann wild auf und ab zu springen.
»Das ... das dürft ihr nicht!«, rief Sabrina und wollte aufstehen, doch ihr Knöchel wollte nicht mitmachen. Eril sollte verflucht sein!
»Aber wir dürfen alles!«, rief Hedwig. »Wir gewinnen!«
Midas lachte vorfreudig, als einer der Soldaten den beinahe bewusstlosen Regenherz vor ihn zerrte. Der Graue musste ihn halten, damit er nicht zusammensackte. »Ich mag, wenn sie schreiend erstarren. Also schrei für mich!«, rief Asvinis Kind, holte aus und trat Regenherz mit voller Wucht in den Stumpf seines Beins.
»Nicht!«, rief Sabrina noch, doch der markerschütternde Schrei ihres Cousins übertönte sie bereits. Seine mühsam gestoppte Blutung brach wieder auf und schwarze Tinte sprudelte über den Boden. Regenjäger sank in sich zusammen und verlor das Bewusstsein.
»Ist ja langweilig«, seufzte Midas und beugte sich vor, um den Rabenjungen zu berühren ...
Jemand schrie, etwas preschte vor, stiess Regenherz und den Grauen bei Seite, und so trafen Midas Finger nicht auf schwarze sondern schneeweisse Haut, die fortan für alle Ewigkeit Gold sein würde ...

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterOù les histoires vivent. Découvrez maintenant