Kapitel 27 - Mord im Orient Zirkus

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Triggerwarnung: Suizid

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Kapitel 27

Mord im Orient Zirkus


~Theodor~
22. September 2019 - London, United Kingdom, Modo

»Die Ärzte sagen, dass dein Herz ganz normal aussieht. Ich weiss nicht, was ich den Journalisten erzählen soll. Wenn wir nicht bald Klarheit schaffen, werden sich nur die Gerüchte weiter verbreiten«, brummte Jared Seller mit rauchdumpfer Stimme. Er lehnte sich ein Stück aus dem Fenster des Royal Brompton Hospitals und bliess den Zigarettenqualm in den Regen. Den Stummel schnipste er hinterher. »Auch eine, mein Sohn?«, fragte er Theodor und hielt ihm die offene, weissrot bedruckte Schachtel Kippen entgegen.
Sein Adoptivsohn zuckte die Schultern und zog sich eine der in Papier gerollten Tabakerzeugnisse aus der Packung. Jared zündete sie ihm an und er nahm einen langen Zug. Er spürte, wie der Rauch brennend seine Luftröhre hinabgezogen wurde.
Er hatte in den letzten Tagen zu viel geraucht. Natürlich war das bescheuert, vor allem wenn man vor acht Tagen irgendeine Herzattacke gehabt hatte und vor-vor allem, wenn man sich aufgrund dessen in einem auf Herz und Lunge spezialisiertem medizinischen Zentrum aufhielt. Doch trotzdem tat er es, denn anders hielt er es hier kaum aus. Es war elendig langweilig. Und Langeweile machte ihn nervös und liess ihn sich noch schlechter fühlen.
Theodor konnte nichts machen. Er las nicht gern, Filme und Serien langweilten ihn und was das Internet zu bieten hatte, interessierte ihn nicht. Und selbst Musik zu machen, fiel ihm auf einmal schwer. Egal, was er anfing, alles lief darauf hinaus, dass er wieder an die Nacht auf der Brücke denken musste. An Bonnie Cassedy, ihren Adler und seinen Fuchs und wie dieses Rätsel auf einmal wieder Halt in seinem Leben ergab.
»Hast du schon mehr über sie in Erfahrung bringen können?«, fragte Theodor seinen Adoptivvater und Manager, während auch er den Rauch aus dem Krankenhausfenster blies, an dem sie lehnten.
Auf Theodors Bitten hatte Jared dafür gesorgt, dass sein Aufenthalt im Royal Brompton Hospital vor den Medien geheim blieb, sonst würde unten auf der Strasse vermutlich eine Trauerfeier seiner Fans ihm zu Ehren abgehalten werden. Dennoch hatte Jared ihm ein Zimmer mit grossen Fenstern besorgt, damit, sollte er sich doch noch für ein Interview bereiterklären, der Raum in natürlichem Licht gut ausgeleuchtet war. - Wäre Theodors Abschiedsbrief nicht vom Regen aufgelöst worden, hätte er das vielleicht nicht getan. Doch so wusste niemand bis auf ihn und Bonnie Cassedy; das Mädchen auf der Brücke; von seinem düsteren Vorhaben jener Nacht. Für den Rest der Welt hatte Theodor Stark nur einen nächtlichen, betrunkenen Ausflug gemacht, der in einem Unfall geendet hatte.
»Und du hast sicher nichts genommen?«, wollte Jared nun sicher schon zum hundertsten Mal wissen. Er hatte die Frage seines Adoptivsohns wohl überhört.
»Egal, wie oft du fragst, die Antwort bleibt ›Nein‹«, seufzte Theodor und zog fröstelnd den Reissverschluss seines Jäckchens über seinem T-Shirt hoch.
»Weisst du was?«, brummte sein Manager und wandte nun doch den Blick von der verregneten Stadt, um ihn anzusehen. »Ich erzähle den Zeitungen einfach, dass du eine Herzkrankheit hast!«
Theodor schnaubte. »Bullshit, das lässt du bleiben!«
»Warum nicht? Es stimmt doch!«
»Nein!«, widersprach er und hätte vor Ärger beinahe auf seine Trainerhose geäschert. »Das wäre eine Lüge!«
Vor acht Tagen war Theodor in einem Krankenhausbett erwacht. Er hatte eine Weile gebraucht, um seine wirren Erinnerungen an die Nacht auf der Brücke zu ordnen und ihnen einen Sinn zu geben. Und schliesslich war er zu mehreren Schlüssen gekommen:
1. Er war in jener Nacht gestorben.
Er wusste nicht wie und warum, doch so war es. Er hatte buchstäblich dem Tod in die Augen geblickt, das war mit absoluter Sicherheit eine Nahtoderfahrung gewesen.
2. Bonnie Cassedy hatte ihm das Leben gerettet. Sowohl vor seinem Entschluss, es selbst zu beenden, als auch vor dem Infarkt, den er gehabt haben musste.
Ja, ein Infarkt, das war sein 3. Schluss gewesen, es hatte ein Infarkt sein müssen, auch wenn die Ärzte etwas anderes behaupteten. Die Symptome, die er ihnen beschrieben hatte, dieser Schmerz in seiner Brust, hatte darauf zugetroffen, doch nach einer Untersuchung war diese Diagnose verworfen worden. Sein Herz sähe normal aus. Aus diesem Grund hatte Jared beschlossen - und ausnahmsweise war dies auch in Theodors Interesse gewesen - ihn ins Royal Brompton Hospital zu überweisen, wo Herz und Lunge Spezialgebiet waren. Und doch waren die Diagnosen dieselben: Keine Hinweise auf einen Infarkt, Theodor war kerngesund.
Und hier kam sein letzter Schluss ins Spiel:
4. Bonnie Cassedy konnte Tote wiederbeleben.
Er wusste, dass es verrückt war, genauso verrückt. Wie dass sie einen sprechenden Adler an ihrer Seite gehabt hatte und wäre das alles gewesen, hätte Theodor sich nicht in eine Herz-Lungen-Klinik, sondern in die Geschlossene einweisen lassen. Aber da war auch noch Sewin. Sewin, seine Füchsin, die er schon sah, seit er ein Kind war. Und wenn sie existierte, dann tat diese Bonnie und seine Begegnung mit dem Tod es auch.
Es gab so viele offene Fragen, Dinge, die er nicht verstand und seit sehr, sehr langer Zeit war da nun etwas anderes, als nur Leere in ihm. Der Drang, zu verstehen, der Wunsch, diese Rätsel zu lüften.
»Ist doch egal, was die Wahrheit ist«, sagte sein Manager und zündete sich die nächste Zigarette an. »Wir könnten das als nächsten Marketing-Trick nutzen. Rührselige Bilder in den Tratschmagazinen, eine grosse Spende an irgend eine Herz-Krebsorganisation und als Krönung des Ganzen ein neues Album. Das wird dein Katapult in den Mainstream sein!«
»Es gibt keinen Herz-Krebs«, seufzte Theodor und hustete. Das hier musste seine letzte Kippe bleiben, sonst würde er die Lungenspezialisten auch noch miteinspannen müssen.
Jared stöhnte auf. »Mensch, hör auf mit den Moralpredigten, du weisst genau, was ich meine. Wenn du erfolgreich sein willst, musst du Risiken eingehen! Nimm dir ein Beispiel an mir!« Er legte ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn an sich. »Du warst nämlich auch ein Risiko, Lucky Strike!«
›Lucky Strike‹ war der Spitzname, den Jared ihm gegeben hatte. Nicht nur, weil es seine liebste Zigarettenmarke war, sondern weil Theodor buchstäblich sein Glückstreffer gewesen war. Vor Theodor war Jared Seller nur ein Musikproduzent mit mässigem Erfolg, einem gigantischen Haufen zurückzuzahlender Studiendarlehen gewesen, doch dann hatte er den Waisenjungen mit der engelsgleichen Stimme entdeckt und von da an hatte sich das Blatt gewendet.
»So machen wir es!«, brummte der Manager nun und bliess seinen Zigarettenrauch in die Nacht. »Wir erzählen der Presse, dass es schlecht um dich stehe. Üble Sache mit dem Herzen. Wir werden schon einen Arzt finden, der für uns lügen wird ...«
»Wo du es vom Finden hast; was ist denn nun mit Bonnie Cassedy?«, fragte Theodor und schnippte seinen Zigarettenstummel ebenfalls aus dem Fenster. Ihm war ein wenig schlecht, die Fluppe war eindeutig zu viel gewesen.
»Was willst du denn von der Kleinen?«, schnaubte Jared, der nun auf die Fensterbank äscherte. Er schenkte ihm skeptischen Seitenblick. »Laut dessen, was ich über sie erfahren habe, scheint sie komplett eins an der Klatsche zu haben. Hattest du die Drogen von ihr?«
»Sie hat nicht mehr eins an der Klatsche als ich.« Schnaubend liess sich Theodor in den Sessel am Fenster fallen. »Und nein, keine scheiss Drogen. Die einzigen, die ich je genommen habe, hatte ich von dir!«
»Fang nicht wieder davon an, Sohn!«, knurrte sein Manager. »Ich war jung, dumm und im Rausch.«
»Und ich war vierzehn!«
Jared verdrehte die Augen. »Und morgen wirst du zwanzig und bist, wie wir ja nun mehrmals diagnostiziert bekommen haben, kerngesund!«
»Aber auch nur, weil ich es geschafft habe, wieder clean zu werden. Eigentlich solltest du dir ein Beispiel an mir nehmen!«, provozierte Theodor ihn weiter und nickte in Richtung Jareds Aktentasche, in deren einem Fach er immer etwas Schnee bei sich hatte.
Jared winkte ab. Es war kein Thema, über das er gern sprach. Der Medienaufruhr, der damals entstanden war, als Theodor in den Entzug eingewiesen worden war, liess ihn noch in so mancher Nacht schweissgebadet hochfahren. Auch jetzt schien ihn der Gedanke daran zum Schaudern zu bringen und so fuhr er eilig fort: »Um deine Frage zu beantworten: Ja, ich habe das Mädchen ausfindig machen können.«
Theodor setzte sich gerader hin. Jetzt war er gespannt. Wann immer Jared etwas über einen anderen Menschen wissen wollte, fand er einfach alles über ihn heraus. - Vom letzten Zahnarzttermin bis zur geheimen, sexuellen Affäre mit der Sekretärin. Wenn Theodor ihn dann fragte, woher er diese unmöglich zu beschaffenden Informationen hatte, sagte sein Adoptivvater immer nur: »Würde ich dir das verraten, müsste ich dich umbringen.« Noch nie hatte er auch nur eine seiner Quellen preisgegeben.
»Bonnie Cassedy: Geboren am 20. März 98 in London. Wuchs im Stadtteil Peckham auf. 2005 starb ihre Mutter - irgendeine Autoimmunscheisse - und seither ist Bonnie Cassedy immer mal wieder polizeilich bekannt geworden. Hat geklaut und ab und an was aus einem Laden mitgehen lassen«, ratterte sein Manager gelangweilt runter und machte eine Pause, um die graue Spitze seiner Zigarette zum Glühen zu bringen. »2014 starb ihr Vater am goldenen Schuss und seither lebt sie bei ihrem Onkel. - Seltsamer Kerl. Der Direktor des sogenannten ›Orient Circus‹. - Gordon Gantrovo heisst der Mann. Mit diesem Zirkus reist sie seither quer durch die Welt. Vor allem durch den Osten, aber auch in Europa und Amerika sind sie unterdessen sehr gefragt. Wie auch immer, dieser Gantrovo liess die Kleine nach knapp einem Jahr in ... Russland, wenn ich mich recht erinnere, von einem Spezialisten untersuchen und dieser hat ihr mehrere Diagnosen gegeben.« Jared klemmte sich die Kippe zwischen die Lippen, zog sein Smartphone heraus, entsperrte es und öffnete die Notizen. »›Leichte Intelligenzminderung bei einem IQ von 57‹ - was bedeutet, dass sie unter geistig Behindert geht, aber das ist ja noch nicht einmal alles - ›Paranoide-schizophrene Persönlichkeitsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung‹ und obendrauf noch eine Priese ›Kleptomanie‹.« Er blickte von dem Bildschirm auf. »Meine Fresse, im Mittelalter hätte man so was ertränkt.«
»Geht's?«, fauchte Theodor. »Soweit ich es beurteilen konnte, ist Bonnie völlig normal. Dieses Mal muss deine Quelle sich geirrt haben. Was war das überhaupt für ein Arzt in Russland?« Sprach Bonnie etwa Russisch?
»Mitnichten«, antwortete Jared und versenkte das Smartphone wieder in seiner Hosentasche. »Diese Bonnie ist so verkorkst, dass ihr die Mündigkeit entzogen und ihr Onkel als ihr Vormund ernannt wurde.« Er schüttelte den Kopf. »Dieses Europa ...« Als wäre ihm eben etwas wichtiges in den Sinn gekommen, hob er den Kopf. »Dabei fällt mir ein, dass wir so schnell wie möglich zurück nach Hause sollten, um unsere Pläne ins Rollen zu bringen. Habe den Flug für morgen schon gebucht.«
Theodor glaubte, sich verhört zu haben. »Was?! Aber was ist mit Amsterdam, Berlin, Zürich, Paris-«
»Du glaubst doch nicht wirklich, dass wir nach dem die Tournee einfach fortsetzen!«, lachte sein Manager und schüttelte den Kopf. »Habe das längst mit den Veranstaltern abgesprochen. Und deine Entschuldigung auf Twitter und Facebook habe ich auch längst veröffentlicht. Fehlt nur noch dein öffentliches Statement. Dachte, das machen wir dann, wenn wir im Jet sitzen, damit du dich heute Abend noch in Ruhe auf die Fragen vorbereiten und die Antworten üben kannst.«
»I-ich will hier aber noch nicht weg!«, weigerte Theodor sich und stand auf, um mit seinem Adoptivvater auf Augenhöhe zu sein.
Doch Jared lachte nur und schob ihn wieder auf den Sessel. Als dann sein Handy klingelte, war das Gespräch ohnehin vorbei, denn natürlich nahm Jared ab : »Oh, Mr Tawney! Immer schön, Ihre Stimme zu hören! Was? Aber ja, die Bedingungen unseres Vertrages sind mir bewusst, ich wollte nur ...«
Den Rest des Telefonats bekam Theodor nicht mit, denn Jared zog sich übertrieben charismatisch plappernd ins Badezimmer zurück.
Gewöhnlich tat Theodor immer, was sein Manager und Adoptivvater von ihm verlangte. So erfolgssüchtig er auch war, Jared hatte ihn aus dem Waisenhaus in Mexiko-City geholt, in dem er im Alter von vier bis zwölf hatte leben müssen, er war ihm alles schuldig, was er hatte. Sein Leben, die Musik, selbst einen neuen Namen hatte er ihm gegeben. Wäre Theodor im Besitz eines Gewissens, hätte er sich vermutlich schuldig gefühlt, als er ihm nun die Autoschlüssel aus der an der Garderobe hängenden Manteltasche stahl.

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now