Kapitel 7 - Frische Wunden und alte Narben

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Triggerwarnung: Sexuelle Gewalt

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Kapitel 7

Frische Wunden und alte Narben

~Mile~
2. Cecily 80'024 ☼IV - Ertrunkener Wald, Keo, Twos

Der Winter war ihr Feind, denn als es dämmerte, begann es heftig zu schneien und innerhalb von Minuten waren die Spuren der Inker verschwunden.
»Wir finden sie trotzdem«, versicherte ihm Red immer wieder, doch als das letzte bisschen Sonne im Osten ertrank - denn so war das in Twos - hörte sie damit auf. Die Nacht legte sich über die Welt und als mit einem Mal grüne, leuchtende Schleier am Firmament zu tanzen begannen, war es, als würde Twos ihn verspotten. Selbst das Rufen eines Käuzchens im kahlen Geäst über ihnen klang wie ein gehässiges Lachen.
»Gibt es einen Gott, der uns jetzt noch helfen könnte?«, fragte Mile die Rote, als sie eine Weile durch die Nacht geritten waren und er die Stille nicht länger aushielt. »Oder so was wie einen Schutzengel für Sabrina?« Seine Stimme war ganz rau vom langen Schweigen.
Die Reiterin legte ihm eine Hand auf die seinen, mit denen er sich an ihr festhielt. »Vielleicht Isra, der Gott der Reisenden, Vagabunden und Boten. Er hilft den Suchenden ans Ziel und überbringt Nachrichten an die Unerreichbaren. Doch sei vorsichtig, wenn du zu ihm betest. Er ist auch der Gott der Toten und hilft den Sterbenden in den Nimbus - die Geisterwelt - von wo aus sie den letzten Pfad ins erste Licht beschreiten. Nicht dass er dich missversteht ...«
Mile schluckte. Das war besser als nichts! »Und ... wie betet man zu einem Gott?«
Red schlug ihre Kapuze zurück, löste seine Hände von ihrem Bauch und schwang sich herum, sodass sie rücklings auf Oskar und ihm gegenübersass. Ihre Iriden schimmerten wie Teiche im Polarlicht. »Da du eine Bitte an Isra hast, müssten wir eigentlich ein richtiges Gebet vollziehen, mitsamt Opfergabe und Weihung. Doch dafür fehlt uns die Zeit und das Material. Darum muss ein Reisegebet genügen.« Sie führte seine Hände zueinander und liess sie eine Schale formen. »Glücklicherweise haben wir diese ... Dinger gefunden«, meinte sie und hob Sabrinas Kopfhörer von seinen Schultern. Er hatte sie sich um den Nacken gelegt, wie seine Schwester es zu tun pflegte. Nun bettete Red das klamme Kabel in seine Hände. »Jetzt schliess die Augen.«
Mile gehorchte. Er spürte, wie sie ihre Hände um seine legte und irgendwie schöpfte er aus dieser kleinen Geste neuen Mut. Er setzte sich gerade hin und wartete.
»Murai sarvrit triar, murai mandet triar. Theoit Isra trien nyri par xir'elri mer.« Die Sprache, in der Red betete, war ihm fremd und klang hart, aber elegant. Der Rhythmus war schnell, die Melodie fast wie die eines Liedes. Und von jedem Wort ging eine Macht aus, die er auf der Haut spürte wie den Wind. Ob das so eine Art Zauberspruch war?
Als Red fortfuhr, sprach sie wieder Deutsch: »Mile Beltran aus Modo hat eine Bitte.« Ihre Finger liessen von ihm ab und Mile verstand, dass nun er an der Reihe war.
»I-ich suche meine Schwester. Sabrina Beltran ... auch aus Modo ...« Er wartete, dass etwas passierte. Dass ihn vielleicht ein Windstoss treffen oder eine Stimme nach ihm rufen würde, doch nichts geschah. Er versuchte es weiter: »Kannst du mir bitte helfen, sie zu finden?« Er verharrte so, wartete, zählte im Kopf die Sekunden, doch als nach 30 noch immer nichts geschehen war, öffnete er enttäuscht die Augen.
»Die Götter intervenieren nur noch selten in die Geschehnisse der Welt. Aber es war einen Versuch wert«, wollte Red ihn trösten und streichelte ihm den Arm.
»Schon gut«, knurrte Mile frustriert. »Dem Gott in meiner Welt war auch nur alles scheissegal ...«
In diesem Moment erklang über ihnen ein lautes Kreischen. Sie hoben die Köpfe, doch da stiess auch schon ein grauer Pfeil vom Himmel und ehe jemand von ihnen reagieren konnte, wurden Mile die Kopfhörer aus den Fingern gerissen.
»Das gibt's doch nicht!«, zischte Mile und griff vergebens nach dem Kauz, der nun knapp über ihnen seine Kreise zog, seine Krallen mit der Beute an den Bauch gepresst. »Gib das wieder her!« Natürlich hörte der Vogel nicht auf ihn. Er brach aus seinem Kreisen aus und flatterte rechts von ihnen zwischen die Bäume. Dort hockte er sich auf einen Ast, stiess ein helles »Huh-huh« aus und wippte mit dem braunen Kopf Richtung Dickicht. Fast so, als wolle er sie auffordern, ihm zu folgen ...
In Miles Magen keimte ein altbekanntes Gefühl auf. »Vielleicht sollten wir ihm nach«, schlug er vor, ohne die Kopfhörer in den Vogelkrallen aus den Augen zu lassen.
Red schwieg. Starr blickte sie den Kauz an. Oskar, der unterdessen stehen geblieben war, legte die Ohren an und liess ein tiefes, bedrohliches Knurren seiner Kehle entweichen.
»Hey. Red?« Er tippte ihr auf die Schulter, bis sie sich ihm zuwandte. Ihr Blick flackerte, sie schüttelte den Kopf und murmelte: »Lass den Vogel, wir suchen weiter.« Flink vollführte sie ihr Kunststück erneut, um Mile wie zuvor den Rücken zu kehren und bedeutete ihrem Wolf, sich wieder in Bewegung zu setzen. Zögernd gehorchte Oskar. Hinter ihnen protestierte der Vogel lautstark.
Mile war hin und her gerissen. »Ich habe aber dieses Gefühl, der Kauz will, dass wir ihm folgen«, versuchte er es erneut. »Vielleicht ist das ja ein Zeichen dieses Isras!«
Die Rote schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht ... Wenn Isra in Gestalt eines Tiers erscheint, dann als Geier. Aber nicht so!«
Nun wurde Mile ungeduldig. »Geier, Kauz - Apfel, Birne! Wie auch immer! Dieser Vogel weist uns einen Weg und wir haben keine Ahnung, wo wir hinsollen. Wir haben nichts zu verlieren, also folgen wir dem Vogel!« Als Red noch immer keinen Wank tat, liess er sich kurzerhand von Oskars Rücken gleiten und sprang in den Schnee. »Ich werde dem Kauz jetzt folgen. Auch ohne dich!« Schon begann er, dem Heulen des Vogels entgegen zu stapfen.
»Also gut.« Red liess Oskar hinter ihm her traben. »Steig wieder auf, wir folgen dem Vieh!«


Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt