Kapitel 13 - Tanz der Vampire

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Kapitel 13

Tanz der Vampire


~Sabrina~
27. Cecily 80'024 ☼IV – Xhafers Krone, Bolwin, Twos

In dem Schwemmland, in dessen Gewässern angeblich ein Flussgott hauste, begann der Sommer die Natur zu allererst aus ihrem Winterschlaf zu wecken. Das schier endlose Delta des verlassenen Reichs Bolwin aderte sich grünlich blau durch die von der Sonne vergoldete Vegetation. An seinen Ufern liess es junge Triebe aus dem weichen Boden spriessen und alte Bäume auferstehen. Da, wo die Flüsse sich sammelten, um kleinere oder grössere Seen zu bilden, liess die Windstille die Oberfläche des Wassers zu einem Spiegel ruhen, durch den zwei Drachen glitten. Einer grün wie von Licht durchschienene Blätter und der andere weiss wie Seide und Perlmutt.
»Lehn dich nicht zu weit vor«, warnte Eril sie und zog zur Vorsicht den Riemen um ihr Bein enger, sodass ihre Wade fester gegen den Sattel gepresst wurde.
»Ich wollte mich nur sehen«, erklärte sie aufmüpfig, setzte sich aber brav wieder gerade hin. »Es ist Wochen her, dass ich mich das letzte Mal im Spiegel gesehen habe. Das ist komisch für mich, in Modo sind die überall.«
Fast zwanzig Tage waren sie nun schon unterwegs. Sie flogen bei Sonnenaufgang los und landeten bei Sonnenuntergang. Das bedeutete wenig Schlaf und ständig Hunger, denn während sie flogen, assen sie nicht, um nicht zu riskieren, ihren wertvollen Proviant zu verlieren. Es blieben nur Frühstück und Abendessen und vor letzterem zwang Jeremy Topper sie jedes Mal zu mindestens einer Stunde Training in Magie und manchmal auch ein bisschen Bogenschiessen. Herrjeh, was hatte sie an den Morgen nach ihren ersten Schiessübungen für Muskelkater in den Schultern gehabt!
»Siehst du das dort vorn?«, fragte Eril sie und deutete in Richtung Horizont, wo Flussnetz und Himmel miteinander verschwammen. Da die Drachen eher gemächlich flogen, schliesslich war die Strecke zu weit, um sich zu sehr auszupowern, war es nicht schwer, einander zu verstehen. Doch Arseel und Bisera flogen auch ziemlich tief, damit eventuell feindliche Späher sie nicht so einfach entdecken konnten, weshalb ihre Sicht über das flache Land nicht so weit war, wie es praktisch gewesen wäre.
»Kann nicht viel erkennen«, gab Sabrina zu.
»Dort liegt der Golf von Bolwin oder als was er bekannter ist: Der Golf der Sühne. Mitten in ihm liegt wie die Pupille in der Iris die Insel Nimmerland.«
»Oh, das bedeutet, wir sind fast da?«
Er nickte. »Heute schaffen wir es nicht mehr, aber bis morgen Abend bestimmt.«
»Oh...« Sabrina wischte sich unruhig die schwitzigen Hände an der Hose ab. Der abrupte Temperaturwechsel hatte die Luft schwül werden lassen und erfüllt von Froschquaken, Insektensirren, Entengeschnatter, Vogelgezwitscher und dem moosigen, grünen Duft der ausgeschlafenen Natur.
Es war unglaublich, aber wahr. Miles Botschaft war so laut gewesen, dass der Sommer wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett gesprungen und der Winter sich vor Schreck unter der Decke verkrochen hatte. Pflanzen schossen aus dem Boden, als hätten sie schon ewig in ihren Startlöchern gescharrt und die Tiere waren überall, als hätten sie sich nur unglaublich gut versteckt.
»Das ist das Werk von Weda und Jorunn«, hatte Taami ihr vor ein paar Tagen erklärt, als Sabrina mal wieder staunend mit ihr im Sattel gesessen war und die Natur bewundert hatte. »Weda ist der Gott der Vegetation, der seine Saat in kalten Zeiten pflegt und beschützt, ganz egal wie lange der Winter andauert. Und Jorunn ist der Herr aller Tiere und Beschützer jener, die diese ebenfalls lieben und hüten, weshalb er der beliebteste Gott der Hirten ist.«
Twos, so schrecklich es hier zu Beginn gewesen war; Angst und Schmerz in allen Massen, war auch voll Wunder und schön, das sah sie nun.
Bald zwei Wochen flogen die Drachen nun schon über das Delta. Xhafer war Twos' Gott der Süssgewässer und da dieses Schwemmland seine gewaltigste Schöpfung auf dem Kontinent war, wurde es Xhafers Krone genannt. Auch das hatte ihr Taami erklärt, die wie ein Buch quasseln konnte, wenn es um die zweite Lehre des Enigmanums und ihre Götter ging.
Eril hingegen war ein eher ruhiger Kerl. Er konnte schon auch aufdrehen, wenn der Schalk in ihm hochkam, doch meist flog er still und diese Flüge waren die, die Sabrina am meisten gefielen.
Tatsächlich genoss sie diese Reise sehr und das hatte niemanden mehr überrascht als sie selbst.
Miles Gewitter hatte ein paar Tage angehalten, weshalb Sabrina es zu Beginn vorgezogen hatte, sich mit Jeremy oder Hänsel eine Gondel zu teilen. Doch als die Wolken sich erst verzogen hatten und ihr Regen versiegt war, hatte sie es nicht mehr lange in der stickigen Gondel ausgehalten. Eril und Taami wechselten sich ab, ihren Sattel mit ihr zu teilen und oh, wie wohl es ihrer Seele tat. Es war einfach so himmlisch ruhig, so weit weg von allem ...
Deshalb war Sabrina sich nun auch nicht sicher, was sie über ihre baldige Ankunft auf Nimmerland denken sollte. Die Ruhe würde dahin sein, ganz sicher!
Angeblich war diese Insel so was wie ein Gefängnis, in das man Tintenwesen verbannte, die zwar eigentlich zu den Guten gehörten, aber irgendwas getan hatten, was nicht ungestraft bleiben konnte. Man schickte sie auf Nimmerland ins Exil und das für so lange, bis die Herrscher ihre Schuld als beglichen empfanden.
Und dies war für Peter Pan nun der Fall, denn Sabrina würde ihn begnadigen, sollte er ihnen im Gegenzug einen Wunsch seiner Fee überlassen.
Das fühlte sich irgendwie ziemlich scheinheilig an. Sie würde ihn begnadigen, weil er eine Fee hatte?
Sie konnte sich das auch gar nicht vorstellen. Wie begnadigte man jemanden? Musste sie ihm die Hand auflegen? Ihm mit einem Schwert auf die Schultern tippen wie bei einem Ritterschlag? Bekam er ein Smiley in sein Gefängnisheft?
»Mensch, ich würde lieber noch eine Woche weiter fliegen...«, sprach sie ihren finalen Gedanken schliesslich aus und Eril wandte ihr den Kopf halb zu.
»Warum? Bist du denn nicht neugierig? Ich hörte, du hättest Familie auf Nimmerland.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kenne die ja gar nicht. Und ausserdem wurden die ja verbannt, weil sie irgendwas verbrochen haben...«
Er wog den Kopf. »Gut, das kann ich sogar verstehen.«
»Ich weiss ja, dass du ein Rastaban bist, aber du kommst doch aus Dom Askur, nicht? Hast du da noch Familie?«, fragte sie und beobachtete, wie ein Fisch aus dem Wasser sprang, um ein Insekt aus der Luft zu schnappen. Erst als Eril ungewöhnlich lang brauchte, um ihr zu antworten, fiel ihr wieder ein, was nach ihrer ersten Ratssitzung im Schloss in Turdus geschehen war...
»Ich habe keine Familie«, erklärte der Draconaut. »Tatsächlich hatte ich nie wirklich eine und die Elfen, die am nächsten daran herangekommen waren, sind schon lange tot.«
»Das ist schlimm«, sagte Sabrina, die sich mit seinem Schmerz identifizieren konnte. »Tut mir leid.«
Nun zuckte er die Schultern. »Ist lange her.«
Und doch war Sabrina zu neugierig, um feinfühlig zu sein. »Wenn du keine Familie hast, warum hatte sich Amiéle als deine ›Mama‹ bezeichnet?«
Der Elf versteifte sich. »Sie nannte sich Myrmir. Woher wusstest du, was es bedeutet?«
Sabrina lächelte entschuldigend, obwohl er sie nicht sah. »Taami hat es mir erzählt, aber ich habe sie gedrängt und sie wollte mir auch nicht mehr verraten«, versuchte sie die Lamia zu verteidigen.
Er seufzte und brummte etwas Unverständliches auf Feléen.
Sabrina liess nicht locker. »Sie ... ist nicht wirklich deine Mutter, oder?«
Eril schnaubte. »Hah! Natürlich nicht. Sie ist so unfruchtbar wie fast alle Elfen.«
»Aber...?« Sie stiess ihm mit einem Finger in den Rücken. »Komm schon, du wolltest mir doch irgendwann erzählen, warum du so schlecht auf die Elfen zu sprechen bist. Das hat doch bestimmt damit zu tun, nicht?«
Endlich ergab sich der Elf. »Dass Amiéle sich als meine Mutter bezeichnet hat, hängt mit dem Kastensystem und der Unfruchtbarkeit der weiblichen Elfen zusammen. Mancherorts spricht von einem Aussterben der Elfen«, erklärte er und holte tief Luft, bevor er mit seiner ausführlichen Erklärung begann. »Heutzutage blutet kaum noch eine Elfe und jede die es tut, wird wie ein Wunder behandelt und zugleich als Zuchtstute missbraucht. Fruchtbare Elfen werden – egal aus welcher Kaste sie kommen und ich glaube, dass das selbst für die Kastenlosen gilt – in die achte und oberste Kaste, die Oktamri, gesteckt. Diese wurde dem System neu hinzugefügt, als die Unfruchtbarkeit ein immer schwerwiegendres Problem geworden war. Regelmässig erhalten die Oktamri in ihren Wohn-Kokons in Dom Askur ›Männerbesuch‹, um es zu verharmlosen.«
Ein ganz übles Gefühl überkam Sabrina. »Manchen das diese Oktamri denn freiwillig?«
Eril wog den Kopf. Seine Stimme klang bitter, als er sagte: »Naja, entweder man fügt sich dem System oder man wird ein Iddyn, ein Kastenloser. Das bedeutet, du darfst den Baum nicht mehr betreten und du hast von dem zu leben, was von den Ästen geworfen wird. Mit dir darf nicht gesprochen werden und du hast keine Rechte.«
»Man hat also die Wahl, ob man wie eine Zuchtstute oder wie Abfall behandelt werden soll?«
Er nickte.
»Das ist ja schrecklich!«
Der Elf lachte bitter auf. »Ich sage ja, dass dieses Volk ein Zustand ist!« Kurz kaute er noch etwas auf seinem Ärger rum, dann fuhr er fort: »Die Elfen haben immer eine Frau auf dem Thron sitzen und die Krone wird immer an die Fähigste ihrer Töchter weitergegeben. Welche das ist, entscheidet die Mutter. Jedenfalls war das so, als die Königinnen der Elfen noch Kinder bekommen konnten. Nun müssen auch dafür einige erlesene Oktamri hinhalten.
Wenn es darum geht, eine Thronfolgerin zu züchten, sucht sich die amtierende Königin zu Beginn ihrer Regentschaft drei Frauen der achten Kaste aus. Zudem nimmt sie sich drei Ehemänner. Diese dürfen dann einmal im Monat mit einer dieser drei Oktamri schlafen und versuchen, ihr ein Kind zu machen. Gelingt es und ein Mädchen kommt zur Welt, schreien alle laut hurra. Aber wenn es ein Junge wird, wird der Säugling einfach vom Baum geworfen.«
»Er wird vom Baum geworfen?! Ein Baby?«
Er nickte und sie konnten es beide nicht fassen.
»Das ist grausam. Warum tut da niemand was dagegen?«
»Die Elfen sind ein sturer Haufen und Amiéle ist die Schlimmste. Du müsstest ihnen den Krieg erklären, nur um sie zum Zuhören zu bringen.«
»Wer weiss, vielleicht mache ich das noch«, witzelte sie.
Der Elf gluckste und trieb seinem Drachen mit einem Klaps seines Speers die Faxen aus, da dieser leicht zu bocken begonnen hatte. »Wenn es soweit ist, sagst du mir Bescheid, da werde ich natürlich auf deiner Seite kämpfen.«
»Klar, dann schicke ich zur Rekrutierung eine semiontische Nachricht an Erylion Dolorkane, den-« Sie stockte. »Den Gefallenen?« Sie heftete ihren Blick auf seinen Hinterkopf. »Eril, warst du einer dieser Jungen?«
Er schien sich erst nicht sicher zu sein, ob er ihr auf diese Frage antworten wollte, doch schliesslich sagte er: »Ja. Amiéle, meine Mutter, warf mich vom höchsten Ast Dom Askurs. Doch ich überlebte. Und deshalb hasst mich Amiéle auch so sehr. In ihren Augen sollte ich tot sein, doch da ich es nicht bin, sieht sie mich als Bedrohung.
Der Mann, der mich fand und der für mich das war, was einem Vater am nächsten kam, hatte immer behauptet, es wäre der Segen des Gottes Nalins gewesen, der mich gerettet hätte. Angeblich wurde ich in dessen goldener Stunde geboren, doch gegen diese Theorie habe ich mich immer gewehrt. Zudem bin ich nun einmal ein Rastaban; ich halte nichts von Göttern. Er aber hielt daran fest. Ach, ich vermisse ihn ...«
»Olve?«, hakte sie den Namen von Erils Vaterfigur nach, woraufhin er sich erstaunt zu ihr umwandte. »Du hast ihn erwähnt. In LaRuh.«
»Du bist sehr aufmerksam«, meinte er und nickte. »Olve, ja. Oh der Gute ... Er fand mich im Laub. Den Jungen, den sie nicht hatten töten können. Den Jungen, der gefallen war ... Er zog mich auf und kümmerte sich um mich bis zu dem Tag, an dem er starb. Überdosis Jethro. Ein halbes Jahr später verliess ich die Elfen, liess mein Dasein als Iddyn hinter mir und schloss mich den Rastaban an.«
»Nun verstehe ich, warum du die Elfen so hasst.« Nur eine Frage hatte sie noch: »Was ist Nalin für ein Gott?«
»Der Gott allen Leidens«, antwortete der Draconaut. »Von Hunger, Krankheit und Schmerz.«

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now