Kapitel 6 - Buntes Blut

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Kapitel 6

Buntes Blut


~Sabrina~
1. Cecily 80'024 ☼IV – Ertrunkener Wald, Keo, Twos

Benommen erwachte Sabrina mit Schmerzen am ganzen Körper und einem flauen Gefühl im Bauch. Bei letzterem stellte sie fest, dass es sich um Hunger handelte. Sie schlug die Augen auf, ihre Wimpern strichen über irgendetwas, sie konnte nichts sehen. Ihre übrigen Sinne waren jedoch voll da. Es roch nach Rauch, Erde und gebratenem Fleisch. Ihr Magen knurrte laut, was jedoch von den Umgebungsgeräuschen übertönt wurde: Das Knistern eines Feuers, das Brutzeln von Fett in einer Pfanne und eine gesummte Melodie, die Sabrina nicht kannte. Die Stimme klang wie die einer Frau ...
Es war kalt, richtig kalt und Sabrina versuchte, sich von dem harten, ohne Zweifel gefrorenen Boden zu stemmen. Doch als sie sich rührte, spürte sie fasrige Seile in ihre Hand- und Fussgelenke schneiden.
Mittlerweile war Sabrina klar genug, um Angst zu haben. Was war geschehen? Wo war sie? Und wo war Mile? - Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war, wie sie Auto gefahren waren und gemeinsam gelacht hatten ...
Sie stöhnte, als es ihr endlich gelang, sich aufzusetzen und da verstummte das Summen.
»Hallo?«, fragte Sabrina unsicher und blinzelte angestrengt, wobei ihre Wimpern wieder über Stoff strichen. »Ist da wer?«
Etwas scharrte über den Boden, Schritte traten heran, dann raunte eine harte, aber melodische Frauenstimme vor ihr: »Wer bist du?«
Sabrina zuckte zurück und prallte mit dem Rücken gegen eine Wand, die sich wie nasser Fels anfühlte. »W-wer sind Sie? Machen Sie mich los!« Panisch wand sie sich in ihren Fesseln. Als sie gepackt und festgehalten wurde, wehrte sie sich nur noch heftiger. Doch der fremde Griff war wie ein Schraubstock, presste sie an die Wand, sie konnte sich nicht befreien. Sabrina versuchte, zu treten und zu schlagen, doch ihre Fesseln sassen zu stramm und die rauen Hanfseile schnitten ihr schmerzhaft ins Fleisch. Also begann sie zu schreien, rief nach Hilfe, rief nach Mile, da presste sich eine Hand auf ihren Mund. Sie schmeckte Erde und Asche und wollte zubeissen, da riss ihr jemand die Augenbinde vom Kopf. Geblendet von dem gleissend hellen Licht, musste Sabrina die Lider zusammenkneifen.
»Ruhe! Oder willst du uns alle umbringen?!«, zischte die harsche Stimme, deren Besitzerin langsam Gestalt annahm, während Sabrina sich blinzelnd an die Helligkeit gewöhnte.
Die Fremde war ein paar Jahre älter als sie und hatte braunes, goldstichiges Haar, das ihr in wuscheligen Locken mit einer weissen Strähne über die Schultern fiel. Ihre Lippen waren bläulich verfärbt, was wohl auf die Kälte zurückzuführen war, ihre Nase schlank und spitz und sie hatte Augen, wie sie Sabrina noch nie gesehen hatte. - Die Iriden waren so hell, dass sie beinahe weiss wirkten.
Als die Frau Sabrinas Starren bemerkte, wich sie befremdet zurück und wandte sich um, wobei ihr langer, roter Umhang gefährlich nah an einem Lagerfeuer vorbeischwang. Erst jetzt wurde Sabrina auf die seltsame Kleidung ihrer Kidnapperin aufmerksam: Mehr als altmodisch, eher mittelalterlich. Unter dem roten Samtumhang trug sie mehrere Schichten Wollhemden, darüber eine wildlederne, ärmellose Tunika, ein Paar abgetragene Stiefel und eine dunkle Lederhose. An ihrem Gürtel hingen einige Säckchen und ein langes, schlankes, in einer ledernen Scheide steckendes Schwert.
Nun liess die Fremde sich neben dem Feuer nieder. Mit einem Stock stocherte sie in der grob geschmiedeten Pfanne herum, die auf der Glut stand und in der ein Stück Fleisch in seinem Fett brutzelte.
Gern hätte Sabrina sich über die Augen gerieben. War das wieder eine ihrer Psychosen? Oder gar einer ihrer Träume? Sie sah sich um, hoffte fast, ihre schwarze Traumwelt vorzufinden, doch dem war nicht so. Sie schienen sich in einer Art Höhle zu befinden, die aus dem Wurzelgeflecht eines umgestürzten Baumes bestand. Vor dem Höhleneingang lag eine Lichtung, bedeckt von einer hohen Schneedecke und umgeben von einem modrigen Bruchwald. Beinahe perfekt in der Mitte dieser Lichtung standen drei grosse Felsen, die so aufeinanderlagen, dass sie eine Höhle bildeten. ›Warum hat diese seltsame Frau nicht dort ihr Lager aufgeschlagen?‹, dachte sich Sabrina. ›Sieht viel komfortabler aus, als dieses Erdloch hier.‹ Sie liess ihren Blick durch ihren behelfsmässigen Unterstand gleiten. Der entwurzelte Baum musste riesig gewesen sein, denn seine Wurzelhöhle hätte Platz für einen Kleinwagen geboten. Von der Decke hingen dünnere Wurzelstränge, an denen sich hier und da kleinere Eiszapfen gebildet hatten. War in Wolfsbach etwa eine spontane Eiszeit ausgebrochen?
Hier wohnte die Frau jedenfalls nicht, denn abgesehen von der Feuerstelle lagen in der Höhle nur eine über den unebenen Boden ausgebreitete Felldecke, eine grosse Umhängetasche und zwei Rucksäcke. Aus einem ragte ein Skateboard. - Mile!
Der Schreck fuhr ihr durch die Glieder und machte sie endgültig wach. »Was hast du mit meinem Bruder gemacht?«
Die Frau in Rot sah von ihrer Pfanne auf. »Der Grosse mit dem Kupferhaar?«
Sabrina nickte hastig, während sie die Knie anzog und dahinter heimlich versuchte, die Hanfseile ihrer Handfesseln zu lösen. Ein aussichtsloser Versuch, denn sowohl ihre Finger als auch das Seil waren ganz steif vor Kälte.
Die Rote stand auf und zog die Wolldecke neben Sabrina ein Stück weg. Darunter kam Miles Kopf zum Vorschein. Er war bewusstlos, seine Kleider waren zerrissen, er war ganz schmutzig, als hätte er sich im Dreck gewälzt und wie sie war er gefesselt. Was war nur geschehen? Sah sie etwa auch so aus?
»Seltsam ...«, murmelte die Fremde. »Er wird einfach nicht warm ...«
Bei genauerem Hinsehen erkannte Sabrina, dass Mile zitterte wie Espenlaub und seine Lippen ganz blau waren. »Er sieht aus, als würde er gleich erfrieren!«
Die Frau packte Mile und rollte ihn in die Felldecke ein, sodass es wie ein pelziger Kokon aussah und nur noch seine sommersprossige Nasenspitze herausschaute.
»Das bringt doch nichts! Die Decke ist bestimmt schon ganz durchweicht«, versuchte Sabrina auf ihre Kidnapperin einzureden. »Zieh ihn näher ans Feuer!«
»Das ist das Fell eines Akhluts, unter dem kann einem gar nicht kalt werden!« Trotzdem zerrte die Fremde Mile näher an die Flammen und bettete seinen Kopf vorsichtig auf ihrer Umhängetasche.
»Was soll denn ein Akhlut sein?«
Die Rote ignorierte ihre Frage und stellte stattdessen eine eigene: »Wer und was seid ihr?«
Sabrina runzelte die Stirn. Die Frau schien ihr nicht wirklich gefährlich zu sein, also wagte sie, ihren gewohnten Sarkasmus anzuwenden: »Homo sapiens sapiens. Und du? Homo rudolfensis?«
Das schien die Fremde nicht zu verstehen. Wortlos drehte sie sich zu ihrem Gepäck um und begann, Sabrinas Rucksack auszuräumen.
»Hey!«, beschwerte diese sich. »Lass mein Zeug in Ruhe!«
Ihre Kidnapperin begann mit den Seitentaschen. Die Reissverschlüsse schienen sie erst zu irritieren, doch sie hatte den Dreh schnell raus. »Seid ihr Spiegelschmuggler?«, fragte sie, als sie Sabrinas Taschenspiegel in dem Make-up-Täschchen fand.
»Klar. Der Schwarzmarkt in Wolfsbach ist ganz verrückt danach!«
»Du bist ein sehr sarkastisches Mädchen«, stellte die Rote fest.
»Mag sein.«
Die Fremde warf ihr den Spiegel vor die Füsse, sodass er brach und Sabrina sich doppelt sah. Ihr Anblick erschreckte sie. Wie Mile war sie überall von Schlammstriemen bedeckt und ihre schwarze Sweatshirt-Jacke, die kaum gegen die Kälte schützte, war an einigen Stellen zerrissen. Dafür hing ein kantiger, schwarzer Stein, ähnlich jener, die sie in der Küche der Tallos gefunden hatten, an einem Lederband um ihren Hals. Ob die Fremde ihr den umgelegt hatte? Das Erschreckendste war jedoch ihr Gesicht, das ganz entstellt von Schrammen und Schnitten war. ›Der BMW!‹, schoss es ihr durch den Kopf. »Hatten wir einen Unfall?«
Die Rote schwieg wieder. Sie hatte gerade die Tüte Haribo gefunden, sich eines der Gummibärchen in den Mund gesteckt und es angewidert ausgespuckt.
»Wir sind gefahren«, liess Sabrina nicht locker. »In einem blauen Auto, einem BMW ...«
»Wenn du damit das Monster meinst, das Oskar angegriffen hat, dann ja, das habe ich gesehen.« Sie hatte die Tampons entdeckt, schien aber nicht zu wissen, wofür die gut waren und versuchte sie sich samt der Plastikhülle in den Mund zu stopfen.
Kurz konnte Sabrina nicht anders, als sie dabei mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Belustigung zu beobachten, dann hakte sie weiter nach: »Ein ... Monster?«
Die Fremde spuckte die Tampons aus und warf die restlichen in den Schnee. Da die Seitentaschen sie nicht befriedigt zu haben schienen, begann sie nun, den Rucksack aufzuknüpfen. »Ihr habt dringesessen. Es wollte Oskar anfallen, aber der hat es gerammt, sodass es sich überschlagen hat, bis es hilflos auf dem Rücken lag. Dann hat dich der Kupferhaarige rausgetragen und mich zu jagen begonnen.«
Wage tauchten Erinnerungen vor ihrem inneren Auge auf, wie ein schwarzes Etwas aus dem Wald auf die Strasse sprang. Ob die Fremde das mit Oskar meinte? »Mile hat dich ... gejagt?«
»Seid ihr Weltenflüchtlinge? Ist in Modo ein Krieg ausgebrochen?« Nun hatte die Rote das Windspiel entdeckt. Sie hielt es in die Höhe und schüttelte es sacht, um die Klangstäbe zum Klingen zu bringen, doch wie immer gab das Ding keinen Ton von sich. Achtlos warf sie es beiseite.
Sabrina seufzte. »Ich habe keine Ahnung, was du damit meinst.«
Ihre Kidnapperin musterte sie, während sie nachdenklich Sabrinas Zahnbürste zwischen den Fingern drehte. »Das muss ihre erste Weltenreise sein, beide haben heftig reagiert. Besonders begabt scheinen sie jedoch auch nicht zu sein«, murmelte sie, scheinbar mehr an sich selbst, als an Sabrina gewandt. »Aber sie haben buntes Blut ...«
Sabrina war nahe dran, wieder loszuschreien und Erklärungen zu verlangen, als sich Miles Fellkokon auf einmal zu winden begann.



Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt