Kapitel 3 - Der blinde Bibliothekar

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Kapitel 3

Der blinde Bibliothekar


~Mile~
12. August 2019 - Wolfsbach, Deutschland, Modo

In der Grundschule hatte er einmal beobachtet, wie ein Junge Sabrina verhauen hatte.
Es war während der grossen Pause geschehen. Der Lehrer hatte Miles Klasse im Zimmer behalten und die Pause versetzt, da er eine Aufgabe mit ihnen beenden wollte. Doch ein Blick aus dem Fenster hatte Mile jede Autorität vergessen und alles stehen und liegen lassen, um auf den Pausenplatz zu stürmen.
Draussen hatte sich ein Ring aus Kindern gebildet. Sie johlten und grölten und feuerten an, worum sie sich gesammelt hatten.
Mile war wie ein Eisbrecher durch die Menge gefahren, hatte Sabrina unter ihrem Peiniger hervorgezogen und diesem mit voller Wucht mehrmals die Faust ins Gesicht gedroschen. Er wusste nicht mehr, wie oft er zugeschlagen hatte. Weder die Tränen noch das Blut des Jungen hatten ihn gebremst. Erst als ein Erwachsener eingeschritten war und ihn von seinem Opfer gezerrt hatte, war er aus seiner tranceartigen Wut erwacht.
Mile hatte dem Jungen zwei Zähne ausgeschlagen und die Nase gebrochen, doch das hatte ihn kaum gerührt. Schockiert hatte ihn einzig der Blick, mit dem Sabrina ihn angesehen hatte. Als würde sie ihn nicht wiedererkennen.
Er hatte riesigen Ärger bekommen, was er ja auch verstand. Doch das war es wert gewesen; seither hatte niemand mehr gewagt, Sabrina was zu tun.
Als hätte dieses Ereignis etwas in ihm ausgelöst, war er fortan immer öfter wütend geworden. Sein Zorn wurde zu einem zweiten Gesicht, denn wenn es ihn überkam, war er nicht mehr derselbe.
Alec Fraser, bei dem sie damals seit knapp einem Jahr gelebt hatten, war mit der Situation völlig überfordert gewesen. Als Mile dann während einem seiner Wutanfälle eine Tür eingetreten hatte, war klar geworden, dass er professionelle Hilfe brauchte. Sie waren zu einem Psychologen gegangen und dieser hatte das ADHS für Miles Impulsivität verantwortlich gemacht.
Seither hatte er die Tabletten geschluckt. Doch nun würde er endgültig damit aufhören ...

Die Kindersicherung des Tablettendöschens klickte einige Male, bevor es sich öffnete.
»Bye bye«, brummte er und kippte den Plastikbehälter, sodass die gelben Kapseln allesamt ins Klo regneten. »Und tschüss!«
›Was Pater nicht weiss, macht Pater nicht heiss‹, dachte er und grinste breit. Abi-Jahr hin oder her, er würde das packen. Er glaubte einfach nicht, dass er das Zeug brauchte. Okay, er war impulsiver und aufbrausender, wenn er seine Medikamente nicht nahm, aber das mit der Konzentration hatte er im Griff. Und mit genug Sport war die Hyperaktivität auch Geschichte. Er war 19, er sollte mittlerweile selbst für sich entscheiden können. Und nun war der Pater weit weg und konnte ihm nicht mehr ins Gewissen reden. Schluss mit Ritalin, nie wieder Methylphenidat!
Die Kapseln hatten unterdessen begonnen, sich im Wasser aufzulösen. Aus einer von ihnen brach ein schwarzes Pulver und schwebte auf den Grund.
Mile rümpfte die Nase und drückte die Spülung. Dieses Zeug konnte doch nicht gesund sein!

Etwas Gutes hatte der Umzug zu den Tallos gehabt: Die Schule fing in Hessen eine ganze Woche später an, was ihnen sieben zusätzliche Ferientage verschafft hatte, in denen sie nach Herzenslust bei den Tallos herumschnüffeln konnten. Sogar im Südflügel, doch leider hatten sie nichts Sonderbares gefunden. Das einzige, was den Tabu-Gebäudetrakt von den anderen unterschied, waren die Waffen, die überall zur Zierde an den Wänden hingen. Bögen, Schwerter, Lanzen, Schilder. Lauter Mittelalterquatsch. Warum hatten die Tallos ihnen verboten, diese Räume zu betreten? Hatten sie Angst, sie würden sich an den Schwertern schneiden?
Ziemlich frustrierend, dass hinter Tobi Tallos Beweggründen, sie nach Wolfsbach zu kriegen, tatsächlich nur ein gewöhnliches Familiendrama zu stecken schien. - Zu dieser Einsicht war Mile jedenfalls gekommen, auch wenn seine Schwester noch immer Zweifel hatte. Doch Mile war sich sicher, dass sie diesen im Angesicht des Schulalltags, mit dem sie heute konfrontiert wurden, von ihren Verschwörungstheorien ablassen würde. Es gab schliesslich nichts Entmystifizierenderes, als in aller Früh an einer verlassenen Haltestelle auf den Bus zu warten.
Normalerweise wäre Mile den Weg zur Grimm-Gesamtschule einfach mit dem Board gefahren, besonders weit war es nicht, aber Sabrina zuliebe nahm er heute die Öffis.
Tatsächlich war der Bus sogar pünktlich. Zudem gehörten sie zu den ersten Passagieren. Sie waren die einzigen, abgesehen von vier Grundschülern, die sich gerade darüber stritten, ob Lugia oder Panferno das coolste Pokémon aus den ersten vier Generationen war - was Mile natürlich nicht unkommentiert hatte lassen können und seine Stimme Panferno gab, woraufhin die Kinder auf seiner Seite ihm »Ghettofaust« anboten.
»Hier, dein Essen. Hat mir die Filch in die Hand gedrückt, während du dich im Bad hübsch gemacht hast«, meinte Sabrina, als sie sich die Plätze ganz vorn im Bus geschnappt hatten, da Mile auf jedem anderen Sitz schlecht wurde - ein weiterer Grund, weshalb er sein Board bevorzugte.
»Wirst du sie jemals wieder Iolanda nennen?«, fragte er belustigt, während er das in einer Tupperdose verstaute Sandwich entgegennahm.
Seine Schwester schüttelte den Kopf. »Nö. Es ist zwar echt nett, dass Dark-DuckTales-Frieda angeboten hat, uns Brötchen zu schmieren, aber auf meinem sind Tomaten drauf. Ich habe ihr gestern extra noch gesagt, dass ich die nicht mag. Die hat sie garantiert absichtlich draufgemacht!«
Er lachte. »Du bist verwöhnt. Immerhin hast du was zum Mittagessen.«
»Mit Tomate kontaminiert!« Sie zog eine Grimasse.
Mile seufzte und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ach Kleine, du hast ja wieder eine Laune!«
»Lass mich. Montag, erster Schultag und ich bin die Neue. Natürlich habe ich eine Scheisslaune!« Grimmig steckte sie die Hand in die Bauchtasche ihres Hoodies, um dort an ihrem Tablettendöschen für Notfälle zu nesteln - wie immer, wenn sie nervös war.
Nachdenklich kaute Mile auf seiner Wange und suchte nach einem Argument, mit dem er ihre Einstellung der neuen Schule gegenüber etwas bessern könnte. So würde sie immer anecken, dabei hätte sie doch nun die Chance auf einen Neuanfang. Was musste sie auch so stur sein? »Ich bin auch neu«, meinte er schliesslich und bereute es sofort.
»Du bist auch du.« Missmutig zog sie ihre Kopfhörer von den Schultern, die sie sich immer locker um den Nacken legte wie ein Pfarrer seine Stola, stöpselte sie sich in die Ohren, verschränkte die Arme vor der Brust und machte dicht.
Mile seufzte tief. Wenn sie doch nur nicht immer so stur wäre!

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now