Kapitel 34 - Das blinde Glück

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Kapitel 34

Das blinde Glück


~Sabrina~
Nimbus

Eben waren die Waldgärten von Wyr noch bunt gewesen, nun waren sie nur noch schwarz. Jedes Blatt, jeder Ast, jeder Baum, alles wirkte irgendwie welk oder verdorrt.
Sie hing nicht in Isras Armen, wie das letzte Mal, sondern lag an genau der Stelle im Wald, wo Falk gestorben war. Und nun auch sie ...
Es war seltsam, aus sich selbst aufzustehen und dann auf den eigenen toten Körper herabzublicken. Hoffentlich würde er nicht zu lange tot bleiben, hoffentlich würden ihre Freunde sie lang genug wiederbeleben, hoffentlich würde sie Falk finden ...
Sabrina wandte sich ab, sie durfte keine Zeit verlieren. Wo konnte er nur sein?
Als sie den Blick über die dunklen Bäume gleiten liess, entdeckte sie ihre Seele, den weissen Raben, der nicht weit von ihr auf einem Baum hockte. Er legte den Kopf schräg und musterte sie aus eisblauen Augen.
Sabrina grüsste ihren Seelenvogel mit einem knappen Nicken.
»Falk?«, rief sie, doch niemand antwortete ihr. »Falk!«
Ihre Seele krächzte laut und Sabrina sah zu ihr auf. »Weisst du, wo er hin ist? Kannst du mich zu ihm führen?«
Der Rabe wippte auf und ab, dann breitete er die Flügel aus und stiess sich von seinem Ast ab. Der grosse Vogel kurvte geschickt um die Baumstämme und stiess immer wieder heisere Laute aus, wie um Sabrina den Weg zu weisen. Also lief sie ihm nach.
»Falk!«, rief sie immer wieder, doch niemand antwortete mit einem rauen »Aye« oder winkte ihr mit dem Haken durch das Dickicht entgegen ... Bis sie irgendwann seine Stimme hörte.
»Was soll das heissen, keine Überfahrt ohne Perle?!«
Falk!
Es tat gut, so, so gut, seine Stimme zu hören, dass Sabrinas Herz einen Satz machte und sie zu rennen begann. Beinahe wäre sie ihr das zum Verhängnis geworden, denn als sie aus dem Dickicht brach, konnte sie gerade noch das Gleichgewicht halten, bevor sie in den Ahti gefallen wäre. Denn was zuvor noch ein Bächlein gewesen war, war nun das schier endlose Ufer des reissenden Flusses der Totenwelt.
Nicht weit von entfernt ihr hörte sie Falk fluchen: »Ich lasse mir doch nicht von irgendeinem verdammten Charonen vorschreiben, wie und wann ich irgendein Gewässer zu überfahren habe! Ich bin ein Kind Klyuss'!«
Sabrina hastete um einen breiten Baumstamm herum und wurde so Zeugin, wie Falk die Laterne mit seiner erloschenen Lebenskerze abstellte, dem Fährmann das Paddel aus den klammen, knochigen Fingern rang und ihm damit so heftig eins über die Rübe zog, dass der Charon mit wehender Robe aus seiner Fähre fiel und in den Ahti klatschte.
Sabrina konnte nicht anders, sie musste lachen. Sie lachte und weinte gleichzeitig.
»Sabrina?« Entgeistert blickte der Pirat sich nach ihr um ... und liess das Paddel fallen. Der Pirat und die Prinzessin fielen einander in die Arme, drückten sich, küssten sich und hielten einander fest, als würden sie sich nie wieder loslassen wollte. Bis Sabrina mit einem Mal die Wut überkam.
»Warum hast du das gemacht?«, schimpfte sie und schlug mit den Fäusten auf seine Brust ein. »Wie konntest du nur?«
»Es ... war meine Schuld«, erklärte er, während er vor ihren Schlägen zurückwich. »Dieses Vieh wollte nur denjenigen, der die Blume gepflückt hatte!«
»Und da opferst du dich einfach, du verdammter Blödmann?!«, keifte sie.
»Aye, aber für euch. Red, Topper, Hänsel und vor allem dich!«
Ungläubig schüttelte Sabrina den Kopf. »Meine Güte, du bist schlimmer als Mile. Der ist wenigstens einfach nur dämlich, aber du ...«
»Ich würde ja sagen, dass es mir leidtut«, meinte der Pirat und lächelte spöttisch, »aber meine Seele hockt da hinten auf einem Baum«, er deutete auf eine kleine Esche, die sich über den Ahti krümmte und auf deren untersten Ast ein stattlicher Falke hockte und aus grossen, ozeanblauen Augen zu ihnen herüber starrte. »Der Gute wartet wohl darauf, dass ich die Fähre besteige ...« Mit einem Mal veränderte sich seine Miene und mit grosser Besorgnis musterte er Sabrina. »Aber wie ... wie kannst du überhaupt hier sein, Sabrina? Du bist doch nicht etwa ...«
»Ach was!«, schnaubte sie und winkte ab. »Ich schätze, es ist wie damals, als Isra mich in den Nimbus gebracht hat. Nur habe ich es dieses Mal wohl aus eigener Kraft geschafft ...«
Nun, da sie einander nicht mehr in den Armen lagen, konnte sie ihn ein mustern. Typisch für einen Geist war er leicht transparent, aber er war derselbe. Noch immer trug er seinen geliebten Marine-Uniformrock, Pistolen und Degen am Gürtel und um seinen Hals baumelte die Kette mit dem Fatuitenanhänger; das Dreieck mit dem Spinnennetz. Und doch hatte sich etwas verändert; er hatte beide Hände.
»Scheinbar kommt man am Stück in den Nimbus«, brummte er, als er ihren Blick bemerkte und drehte und ballte die Hand, als wäre sie ihm noch ungewohnt.
Sabrina besann sie sich, nahm ihn eilig an der Hand, hob seine Laterne auf und zog ihn mit sich. »Komm!«, wies sie ihn an. »Wir müssen zurück!«
»Zurück wohin?«, fragte er verwirrt und wollte stehenbleiben.
Sabrina liess ihn nicht los, zerrte an ihm. »Zu unseren Körpern! Komm schon!«
»Aber ich kann nicht Sabrina!« Er entwand sich ihren Fingern. »Ich ... ich bin tot!«
Es war wie ein Faustschlag ins Gesicht. »Doch!«, rief sie, jämmerlich trotzig. »Es gibt immer einen Weg! Los jetzt!«
»Aber Sabrina, ich will ja auch, aber ...«
Die Weltenreisende wirbelte herum. »Da draussen im Wald liegt irgendwo meine Leiche, die hoffentlich noch immer von unseren drei Freunden reanimiert wird. Und wenn wir uns nicht beeilen, werde ich genauso sterben wie du, also lass uns bitte so schnell wie möglich zurückgehen!« Zittrig holte sie Luft. Wie ernst sie ihre nächsten Worte meinte, wusste sie selbst nicht. »Ich gehe nicht ohne dich, Falk!«

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now