Kapitel 44 - ... dann leben sie noch heute

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Triggerwarnung: Sexuelle und häusliche Gewalt

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Kapitel 44

... dann leben sie noch heute


~Sabrina~
5. Erwaen 80'024 ☼IV - Tempus, Wiege der Welt, Twos

Alles was nach Falk geschehen war, hatte der Adrenalinrausch beinahe restlos aus ihrem Gedächtnis gespült. Selbst die Erinnerungen, wie es ihnen gelungen war, aus dem Turm zu gelangen, waren nicht mehr als verschwommene Fetzen. 
Sie hatten es nur mit vereinten Kräften aus der Schatzkammer geschafft, jeden mitgenommen, den sie auf ihrer Flucht getroffen hatten und waren die Treppen hinauf, hinauf, hinaus gejagt, bis in Sabrinas Gemach, von wo aus sie an Bord der Jolly Roger geklettert waren. Trotz des Sturms war es ihnen gelungen, das Luftschiff auf Ebene des Thronsaals zu steuern, um wenigstens den Senat - die neue Regierung und Hoffnung Arkans - vor dem Tod zu bewahren. Anschliessend waren sie bis in den späten Nachmittag über Tempus geflogen und hatten nach Überlebenden Ausschau gehalten. Doch auch die Toten hatten sie gerettet. - Jedenfalls die, die es nur auf Zeit waren: Wie durch ein Wunder hatte das Inkoleum standgehalten. Jeden einzelnen Sarg hatten sie aus dem Gewölbe geholt. Nun waren sie im Lagerraum verstaut. Was für ein unvorstellbares Glück an diesem schlimmsten aller Tage.
Und während dieses gesamten Albtraums hatte Sabrina Falks Hand nicht losgelassen. Nicht, wenn es nicht unbedingt nötig gewesen war. Sie waren so gut wie unzertrennlich, klebten jede freie Minute aneinander wie Fouling und Schiffsrumpf, und doch hatten sie noch kein ernstes Gespräch unter vier Augen führen können. Und nun waren keine freien Minuten mehr. Als gekrönte Herrscherin dieser Welt musste sie andere Prioritäten setzten. Es war keine Zeit zum Reden, geschweige denn zum Schlafen oder Essen. Jetzt musste sie ihre ganze Konzentration auf die Katastrophensitzung des geretteten Senats fokussieren, die zu diesem Zeitpunkt in der Sitzungskabine der Jolly Roger abgehalten wurde.
Jeremy Topper, der kein bisschen ausgeschlafener als sie selbst aussah, hatte sein Flipchart aus dem Hut gezogen und eben begonnen, darauf herumzukritzeln.
Abgesehen vom Hutmacher war niemand anwesend, der nicht zum Senat oder der Blutsverwandtschaft der Beltran-Familie gehörte. Zwar hatten sie auch die Monarchen und glücklicherweise auch alle Mitglieder des einstigen Rats gerettet, doch sie hatten die Entscheidung gefällt, dass die Zukunft in den Händen der Regierung liegen sollte, die dafür gewählt worden war.
»Wir wissen, dass diese Katastrophe durch den wohl schwersten Bruch einer Prophezeiung ausgelöst wurde, den diese Welt seit Urzeiten je erlebt hat«, plapperte der Hutmacher, während er auf seinem Flipchart ein kleines Das-ist-das-Haus-vom-Ni-ko-laus vorführte und es mit ›Kristallturm‹ betitelte. »Und da dieser Bruch im Turm geschehen ist, ist er auch das Epizentrum dieser Katastrophe.« Schwungvoll malte er ein paar Kreise um das Strich-Häuschen.
»Prophezeiung?«, fragte Ratu, die Senatorin der Vampire, mit hörbarem Spott. »Seit wann beginnt wegen irgendeinem Aberglauben die Erde zu beben und ein Sturm aufzuziehen?«
Der Hüter hob einen Finger und machte den Mund auf, um die bleiche Senatorin eines Besseren zu belehren, als ihm jemand zuvorkam: »Daran gibt es keinen Zweifel.« Miles Stimme war streng. So streng, dass er fremd klang und Sabrina sich überrascht zu ihm umwandte.
Ihr Bruder sah blass aus, hatte gerötete Augen und einige üble Schrammen. Es ging ihm sichtlich schlecht. Nicht wegen seiner physischen Verletzungen, um die hatte sich bereits Valyn gekümmert, der glücklicherweise  unter den Überlebenden war. Mile hatte von dieser Katastrophe viel schlimmere Wunde erlitten. Wunden in Geist und Seele, die tiefe Narben hinterlassen würden, sollten sie sich jemals schliessen.  Auch der Lichterlord wäre jetzt lieber anderswo oder bei jemand anderem, doch auch er hatte seine persönlichen Bedürfnisse hintenanstellen müssen.
Sabrina griff unterm Tisch nach der Hand ihres Bruders, sie konnte sich nicht vorstellen, was in ihm vorging. . Es tat unendlich weh, ihn so leiden zu sehen, doch es gab nichts, was sie tun könnte. Er konnte sich jetzt nicht die Zeit nehmen, den Verlust seines ungeborenen Kindes zu verarbeiten und Trost bei seiner Partnerin zu suchen. Er konnte sich von seinen Pflichten, seiner Verantwortung, seiner Schuld nicht lossagen. Twos brauchte seine Herrscher, heute mehr denn je.
»Schon gut, Mylord.« Der Paladin machte eine beschwichtigende Geste in Miles Richtung, ohne den Blick von der blasphemischen Vampirin zu lösen. »Senatorin, was seid Ihr töricht, mich zu hinterfragen! Ihr wisst so gut wie jeder in diesem Raum, dass ich nicht ohne Grund Hüter der Prophezeiungen genannt werde. Das ist kein Geheimnis.«
»Und doch glaube ich nicht an Prophezeiungen, Orakel oder was Ihr uns sonst noch auftischen wollt. Diese Dinge mag es vor langer Zeit gegeben haben, aber jeder weiss doch, dass sie heute nicht mehr existieren!« Ratu verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das kalkweisse Kinn in die Höhe.
Topper stiess ein entnervtes Stöhnen aus. »Ich bitte Euch! Wenn Ihr eine andere Erklärung für die Katastrophe dort draussen habt, dann nur zu! Teilt sie uns mit!«
Die untote Senatorin verengte die Augen zu schlitzen und rümpfte verachtend die Nase, sodass die Spitzen ihrer Eckzähne zum Vorschein kamen - und schwieg.
»Na bitte«, seufzte der Hüter der Prophezeiungen und wollte sich wieder seinem Flipchart zuwenden, da wurde er erneut aufgehalten.
»Aber was ist denn überhaupt passiert?«, meldete sich Eliza Abascal zu Wort und lächelte zuckersüss in Miles Richtung. »Lasst hören, Mylord. Woher habt Ihr die Gewissheit, die jeden Zweifel illegitimiert?«
Schlagartig wurde Miles Hand so heiss, dass Sabrina ihn loslassen musste. Seine Züge entglitten ihm; erst schoss ihm die Röte ins Gesicht, dann wurde er blass wie ein Laken. »I-ich ...«, begann er zu stammeln doch Jeremy kam ihm zuvor: »Für das haben wir jetzt keine Zeit!« Bestimmt pochte er mit seinem Kohlestift auf das Flipchart und zog ein paar Pfeile aus den Kreisen des gezeichneten Epizentrums. »Das Wichtigste ist, dass wir erst einmal die Bevölkerung aus Tempus evakuieren und ein neues Kapitol für diese Regierung finden. Wir haben den Krieg gerade erst gewonnen, wir dürfen nicht zulassen, dass uns das entgleitet.«
»Für das erste Problem haben wir ja bereits eine Lösung«, stellte Ikarus mit Stolz fest. »Mein Vater, König Dädalus, hat uns bereits Truppen gesendet. Diese sollten in ein paar Stunden eintreffen und die Überlebenden unter meinem Kommando aus der Stadt führen. Auch König Orion hat Boten nach Kapahn Strar ausgesandt, um Hilfe nach Tempus zu schicken. Sobald die Zwerge Tempus erreichen, werden sie beginnen, in den Trümmern nach weiteren Überlebenden zu graben.«
»Und am besten führt ihr sie gleich aus dem ganzen Tal!«, meinte der Hutmacher. »Die Zerstörung begrenzt sich momentan noch auf die Wiege der Welt, doch sie wird schon bald beginnen, sich auszubreiten. Ich schlage vor, wir nehmen Kontakt mit der machthabenden Instanz in Malakin auf, um-«
»Malakin?!« Empört sprang Muhme Trude mit klappernden Knochenkette auf. »Malakin ist eines der Reiche, das sich von Tempus losgesagt hat! Es steht in Verdacht, unseren Feinden Obdach zu gewähren, es ist abtrünnig! Wir würden die Überlebenden aus dem Regen in die Traufe senden!«
»Ich weiss, ich weiss, ich weiss!« Topper nickte wild. »Aber wohin sollen sie sonst? Es ist wichtig, dass die Evakuierten soweit von dem Tal weg können wie möglich. Von Malakin aus werden die Flüchtlinge durch die Finnbarros Om'agris und weiter in den Süden ziehen.«
»Ich weiss nicht, ob mein Volk das gutheissen würde«, gab Sookie zu bedenken. »Om'agri ist neutrales Terrain. Selbst zu Kriegszeiten wurde diese Neutralität gewahrt. Nicht einmal die Rebellen haben durch die Wälder reisen dürfen.«
»Was ist mit den Zwergenlabyrinth?«, schlug Jessica Frihir vor. »Das erstreckt sich doch unter ganz Arkan. Können die Flüchtlinge nicht unterirdisch in den Süden reisen?«
»Die meisten von den Tunneln sind schon seit der Nacht der roten Kronen nicht mehr begehbar oder so schwer beschädigt, dass man lebensmüde sein müsste, um sie zu betreten«, antwortete ihm Tohock Beryn und kämmte sich den filzigen Bart mit den wulstigen Fingern. »Nach dem Erdbeben heute werden die meisten Tunnel in der Nähe der Stadt ohnehin verschüttet sein. Und wenn stimmt, was der Hutmacher uns eben erzählt hat und das gestern war nur der Anfang ... Einem solchen Beben wird kein Zwergentunnel standhalten.«
Mit einem etwas grimmigen Blick blinzelte er in Sookies Richtung. »Ausserdem sind die Kriegszeiten vorbei. Noch nie gab es einen besseren Zeitpunkt für die Elfen, endlich über ihren Schatten zu springen und die feige Neutralität, hinter der sie sich schon so lange verstecken, für das Allgemeinwohl zu opfern.«
In Sookies Kopf ratterten sichtlich die Zahnräder. »Königin Amiéle wird das nicht zulassen.«
»Königin Amiéle hat nicht länger das Sagen, wenn es um Politik ausserhalb ihres Reiches geht. Die Länder der Elfen sind Vasallenstaaten der Herrscher.« Sabrina wusste nicht, woher ihr Mut auf einmal kam, doch sie spürte ihn durch ihre Adern rauschen und sie wachsen lassen, als sich die Augen des Senats auf sie legten. Man nahm sie ernst. »Wir alle haben die Schnauze voll von der Arroganz der Elfen! Wenn mein Bruder und ich es verlangen, wird Om'agri seine Tore öffnen!« Sanfter blinzelte in Sookies Richtug. »Nichts für Ungut, Senatorin.«
Die Elfe nickte. »Das Volk hat mich zur Senatorin gewählt und ich unterstütze diese Entscheidung. Königin Amiéle wird sich Senat und Herrschern beugen.«
»Was das neue Kapitol und den Regierungssitz angeht«, mischte sich nun auch Ratu wieder in die Diskussion ein, »schlage ich unsere ehemalige Rebellenbasis vor. Turdidae war die Wiege der Rebellen, es gäbe keinen perfekteren Ort. Und dank LaRuh, das dort unterirdisch liegt, wird auch immer genug Platz für die Flüchtlinge sein.«
»Dann soll die gesamte Bevölkerung des Nordens nach Turdus gehen? Ist das der Plan?«, fragte Silas Vicini, Faun und Senator der Minderheiten unter all den Völkern Twos'.
»Die Zwerge leben seit Anbeginn der Zeit im Ondorgebirge. Sie werden Kapahn Strar niemals aufgeben!«, brummte Tohock sofort und zuckte mit den breiten Schultern.
»Ich glaube auch nicht, dass es darum geht, irgendjemanden zu zwingen.« Des Herzkaspers sanfte Stimme passte so gar nicht zu seinen vor Schreck weit aufgerissenen Augen. »Es ist jedem selbst überlassen, ob er diese Gefahr ernst nimmt, aber die Option sollte mit Sicherheit offenstehen. Ich schlage vor, dass jeder Senator dafür sorgt, dass die ihm unterstellten Völker über alles unterrichtet werden. Jedes einzelne Wesen wird daraufhin die Chance haben, seinen eigenen Weg zu gehen. Wir dürfen nicht zu aggressiv vorgehen, sonst stossen wir allzu schnell auf Widerstand. Die Welt vor dem Bösen zu retten ist vermutlich einfacher, als sie vor Dummheit zu bewahren.«
Der Hutmacher kratzte sich hinterm Ohr. »Die meisten Völker werden die Gefahr erst ernst nehmen, wenn die Katastrophe sie schon erreicht hat. Wir sollten LaRuh also von Anfang an auf grössere Wellen an Flüchtlingen vorbereiten. Ich vermute, dass die Zerstörung sich vor allem zu Beginn eher langsam ausbreiten wird, doch wer weiss das schon genau? Wir sollten auf alles vorbereitet sein!«
Die Senatoren nickten. Das schien alle zufrieden zu stellen.
»Damit hätten wir jedoch noch immer das Problem mit Malakin«, warf Silas ein. »Warum gehen wir statt nach Osten nach Westen und von dort aus nach Süden? Oder nach Norden ins Ondorgebirge?«
»Nach Norden zu gehen wäre keine längerfristige Lösung«, widersprach Jeremy Topper. »Das Ondorgebirge ist der Wiege der Welt zu nah, weshalb ich es auch den Zwergen dringendst anraten würde, sich mit dem Gedanken, Kapahn Strar verlassen zu müssen, anzufreunden. Und Richtung Westen und von dort aus in den Süden zu fliehen, macht auch keinen Sinn. Malakin ist ein Risiko, ja. Aber gingen wir nach Westen, müssten wir durch Wa'illa, Basilon, Ularsar, Apium und Palyas! Und die sind alle Staaten, die sich von Tempus abgewandt und als unabhängig erklärt haben. Malakin mag das gefährlichste all dieser Reiche sein, aber es erstreckt sich nicht über den halben Kontinent. Es ist nur ein Reich. Der Westen besteht nur aus Verrätern!« Topper blickte in die Runde, streckte ihr herausfordernd das Kinn entgegen. »Der Norden ist eine Sackgasse, im Westen lauern kilometerweit Feinde. Und südlich des Ezelwalds erstrecken sich die Waldgärten von Wyr, in die keiner von uns je wieder einen Fuss setzen würde. Es gibt keine andere Möglichkeit, als uns durch Malakin zu wagen und von dort aus durch Om'agri zu fliehen. Wir müssen in den Süden fliehen, dort wird die Zerstörung zuletzt eintreffen!«
»Ihr sprecht ständig davon, dass sich die Zerstörung ausbreiten wird«, hakte Tibelia nach, die alte Schildkröte und Senatorin der Animanoren. »Was meint Ihr damit?«
Ein leises Raunen ging durch die Kabine, die zum Sitzungszimmer des Senats geworden war.
Der Hutmacher hob den Arm und deutete aus einem der Fenster, durch das verschwommen die Flammen der brennenden Stadt durch die Dunkelheit glommen. »Die Zerstörung ist das, was dort draussen vor sich geht. Die Erdbeben, die Stürme, die Katastrophen. Das alles geschieht, weil das Schicksalsnetzt, das unsere Welt beschützt hat, zerrissen wurde. Ich weiss nicht, wie lange es dauern wird, ich weiss nicht, wie viel Zeit Twos noch bleibt, doch die Zerstörung wird sich ausweiten. Tempus ist nur der Anfang.«
»Der Anfang von was?«, fragte der Herzkasper. »Was beginnt, Hutmacher?«
Jeremy Topper fuhr sich übers Gesicht und blinzelte müde in die Runde. »Das Ende.«

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now