Kapitel 32 - Das blinde Recht

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Kapitel 32

Das blinde Recht

~Mile~
31. Nanne 80'024 ☼IV – Waldgärten von Wyr, Twos

Das Wesen gab ein ohrenbetäubendes Kreischen von sich. Ein Geräusch, als würde jemand mit seinen Fingernägeln über eine Tafel kratzen, nur um tausende Dezibel verstärkt. Es warf den haarigen, braunen Kopf zur Seite und seine gebogenen, von kleinen Haken besetzten, äussersten Zangen, jede der beiden so lang wie eine Strassenlaterne, fegten über den Rand des Trichters hinweg.
»Ducken!«, brüllte Rosanna, während sie sich flach auf den Boden warf. Hänsel zögerte nicht lange und tat es ihr gleich, doch Mile dachte gar nicht daran. Er hatte eine andere Idee.
Die erste der Zangen peitschte in seine Richtung, Mile hob Kayat über den Kopf, packte den Griff fester, sprang und stiess zu. Die geflammte Klinge bohrte sich in das Chitin. Das nächste, was Mile wahrnahm, war, dass er durch die Luft gerissen wurde.
Die Bestie schrie vor Wut, doch Rosanna schaffte es tatsächlich, sie zu übertönen. »Du Sohn einer Kneipenhure!«, keifte sie. »Trottel! Vollidiot!«
Die Myrmekes hielt auf einmal still, was Mile nutzte, um sich an Kayat hochzuziehen. Nun stand er auf der riesenhaften Zange und starrte in die metallisch glänzenden Facettenaugen.
Die Myrmekes, auch Goldameise genannt, war ein Fabelwesen, von dem man seinen Kindern nur dann vor dem ins Bett gehen erzählte, wenn man ihnen eine Nacht voller Albträume bescheren wollte. Auf Monster traf man in den Waldgärten von Wyr an jeder Ecke. Wendigowak, Dämonen und böswillige Faune hatten die Rebellen in den letzten Tagen schon so manches Leben gekostet. Die Irrlichter leisteten auch ganze Arbeit! Zahlreiche Soldaten hatten sich von den Geisterwesen bereits in die Irre führen lassen und waren im Dickicht der Waldgärten verschwunden. Das Schlimmste war jedoch der Nebel. Er war nicht mehr ganz so dicht wie er am Rande der Waldgärten gewesen war, dennoch verlor man sich allzu leicht in ihm. Und aus dem Unterholz zurück auf den Weg gelangte man nur durch ein Wunder. Nur ab und zu verschonte der Wald sie von seiner Suppe und lichtete sich zu unvorhersehbarer Zeit, wie es auch jetzt der Fall war. Das war bisher auch das einzige, was sie von Cecilys Segen bekommen hatten, selbst Hans verirrte sich immer wieder, auch wenn er es nicht zugeben wollte. Dennoch hatte sich heute der Nebel gerade rechtzeitig gelichtet, sonst wäre die Schwarze Armee der Myrmekes blindlings in den Sandtrichter gestolpert.
Die Goldameise war so etwas wie ein Ameisenlöwe in dreifacher Lastwagengrösse, berechnete man die Länge der Zangen nicht mit. Ihr Körper hatte eine beige-braune Färbung, war von dicken Haaren übersät und ihr Körperbau liess sich in drei Teile ordnen. Sie bestand aus einem Kopf, dem langen und sehr beweglichen Mittelteil – dem Hals - aus dem weiter hinten ihre dürren Beine ragten und dem gigantischen Hintern. Die wahre Grösse letzteres war jedoch nur schätzen, da dieses grösstenteils im Erdreich verschwand. Wie Ameisenlöwen lebte das Monster in einem selbstgegrabenen Sandtrichter, der jedem, der ihm zu nahe kam, zum Verhängnis wurde, da der Sand leicht ins Rutschen kam und man ungebremst in das Maul der Myrmekes fiel. Dieses Maul war von mehreren Zangen bestückt, von denen die meisten, abgesehen von den beiden äussersten, eher klein waren. Geschlossen wurde das Maul durch Klappen, die gleichzeitig wohl auch als Grabwerkzeugt benutzt werden konnten. Dahinter befanden sich mehrere Reihen spitzer Zähne, angeordnet wie das Innere einer Kaffeemühle.
Goldameisen waren die Rebellen auf ihrem Marsch durch die Waldgärten von Wyr, der nun schon über einen Monat dauerte, schon einige Male begegnet und hatten nur mit vereinten Kräften besiegt werden können. Da selbst die Quari so ihre Probleme gehabt hatten, war nun vom Rat entschieden worden, die Kämpfe gegen Monster wie diese würden sich perfekt für das Training der Xilsar eignen. Das war ihnen nun auch schon einige Male geglückt, doch bisher war noch keine der Goldameisen derart gross wie diese hier. Heute war es Rosannas, Hänsels und Miles Aufgabe, die Bestie zu bezwingen, während der Rest der Eliteeinheit zusah. Die Rebellen gingen dem Ungetüm lieber aus dem Weg und stapften in einigen hundert Metern Distanz an dem riesigen Sandtrichter vorbei.
Mile riss Kayat aus dem Exoskelett und rannte über die Zange auf den Kopf der Myrmekes zu. Wieder kreischte das Wesen auf und zeigte seine Kaffeemühlenzähne. Mile liess sich nicht beeindrucken. Den Schwung seines Sprints nutzend, ging er in die Knie, stiess sich mit all seiner Kraft ab und sprang ...
Früher hätte Mile sich das nie getraut. Seine Höhenangst hätte das nicht zugelassen, doch seit seinem Geburtstag war ihm irgendwie bewusst geworden, dass seine Ängste irgendwie lächerlich nichtig waren. Er war der Lichterlord, er konnte sich keine Angst leisten!
»Mile! Nicht!«, vernahm er hinter sich Red und Sabrina im Chor schreien. Trauten sie ihm etwa nicht zu, die Bestie ...
Etwas Grosses, Hartes traf ihn an der linken Seite. Irgendetwas knackte ungesund. In Stirn und Brust explodierte der Schmerz. Mile fühlte, wie er durch die Luft geschleudert wurde, dann traf er irgendwo unsanft auf. Er rutschte. Sand rieselte ihm in die Augen. Es klingelte ihm in den Ohren, in der Ferne schrien irgendwelche Leute irgendwelche Dinge, doch er verstand sie nicht.
Es war ihm kaum möglich, einen klaren Gedanken zu fassen, jeder Atemzug jagte ihm höllische Schmerzen durch den Körper, doch auf einmal war es, als würden sich seine Überlebensinstinkte einschalten und ihm wurde klar: Er rutschte! Er rutschte und er musste alles daran setzen, sich irgendwo festzuhalten. Also packte er Kayat fester, das wie durch ein Wunder noch immer in seiner Hand lag, und stiess das Schwert tief in den Untergrund. Ruckartig hielt er an und blieb hängen, während er gegen die bestialischen Schmerzen ankämpfte, die in seiner Seite tobten. Mile hustete. Er versuchte, Luft zu holen, doch bei jedem Atemzug brannte es ihm an der Seite. Bildete er es sich nur ein, oder knirschte es in seinem Brustkorb? Vielleicht war das auch nur der Sand zwischen seinen Zähnen ...
Langsam gelang es ihm, die Augen zu öffnen. Das grelle Licht war verschwunden, doch alles, was er sah, verschwamm vor seinen Augen. So konnte er sich nur ein undeutliches Bild seiner Lage machen: Der gigantische, beigen Fleck, den er als Myrmekes identifizierte, war ihm gefährlich nahe. Sie schien sich momentan jedoch weniger für ihn als für einen kleinen braunen Flecken zu interessieren, der, da er ihn bis zu sich herüber toben und keifen hören konnte, Rosanna sein musste. Die Barbarentochter machte einen ohrenbetäubenden Lärm, indem sie mit ihrem Speer auf ihren Schild einschlug.
Mile schüttelte den Kopf und strengte seine Sinne an. Langsam klärte sich seine Sicht, wie auch sein von Schmerzen gepeinigter Verstand. Er musste raus aus diesem Sandtrichter! Er sah sich um, versuchte irgendetwas zu entdecken, an dem er sich hochziehen konnte, doch da war nur Sand und ein paar vereinzelte, herausragende Knochen früherer Opfer der Goldameise.
Plötzlich kam der Sand wieder ins Rutschen und Mile sackte einige Meter in die Tiefe. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Die Zuschauer schrien erneut auf und Mile wurde schlecht, als er die Stimme seiner Schwester unter ihnen heraushörte.
Diese Trainingslektion hätte ganz anders laufen sollen...
Wieder sackte er ein Stück in die Tiefe, doch dieses Mal erkannte er den Grund dafür: Die Myrmekes bewegte sich. Sie schien sich unter dem Sand zu drehen!
Mile legte den Kopf in den Nacken und sah zu der Bestie auf. Das Vieh schnappte um sich. Seine Zangen ratschten gegeneinander. Es versuchte, den brennenden Pfeilen, die auf ihn abgeschossen wurden, auszuweichen. Miles Blick folgte der Flugbahn und entdeckte einige Quari sowie Hänsel, die einen Pfeil nach dem anderen in eine Fackel hielten und das nun brennende Flugobjekt auf die Goldameise schossen.
Das Monster kreischte. Das Mistvieh hasste alles, was mit Feuer und Licht zu tun hatte, weshalb es meist nur im Zwielicht und in der Nacht aus seinem Trichter gekrochen kam. So auch heute, als die Rebellen im Dämmerlicht nichts ahnend an dem Sandtrichter, der von einigen Bäumen versteckt gewesen war, vorbeimarschiert waren. Diese Sorglosigkeit war schnell der blanken Panik gewichen, als auf einmal dieses Monstrum aus dem Erdboden geschossen war und glatt ein halbes Dutzend Zwerge verschlungen hatte.
Mile starrte auf den Teil des Wesens, den er als dessen Bauch vermutete. Er konnte sich schönere Wege zu sterben vorstellen, als von einem riesigen Insektenmonster gefressen zu werden.
Da auch hier unten, gefühlte zehn Meter im Trichter des Todes, nichts zu finden war, um sich hochzuziehen und Mile nicht einfach tatenlos herumhängen wollte, entschloss er, etwas ziemlich Dummes zu tun: Er machte der Bestie Feuer unter dem Hintern.

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now