Kapitel 31 - Deine wunderschönen Lügen

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Kapitel 31

Deine wunderschönen Lügen


~Theodor~
24. September 2019- United Kingdom, Modo

Von dem Geld, das Theodor nicht für Hot Dogs ausgegeben hatte und dem, was der Zirkusdirektor in dem Portemonnaie gehabt hatte, bezahlten sie das Zugticket zurück nach London.
Ausgerechnet nach London hatte Bonnie gewollt. Aber wo sollten sie auch sonst hin?
»Ich habe Freunde dort«, erklärte sie ihm. »Dort können wir bleiben.«
Theodor hatte nicht gewusst, was Bonnie im Zirkus durchgemacht hatte, doch er hatte gespürt, dass er nun mit ihr auf der Flucht war. Sie hatte keine Miene verzogen, als sie ihren Onkel tot am Boden fand. Sie war nur dagestanden und hatte ihn angestarrt. Irgendwann war sie hingekniet und hatte ihm sein Portemonnaie aus der Tasche gezogen. Dann hatte sie sich umgedreht, zu Theodor aufgesehen und mit einem sehr müden Ausdruck gesagt, dass sie gehen wollte.
Die Nacht war lang und kalt gewesen. Sie hatten nicht geschlafen, Stunden auf einer Bank in einer Kabine am Bahnhof auf den ersten Zug gewartet, der ihre Strecke fuhr. Sie waren völlig durchfroren. Beide nass bis auf die Socken und Bonnie nur in der dünnen, knappen Artistinnen-Kleidung, mit der sie zuvor von Trapez zu Trapez geflogen war. Um nicht zu erfrieren, hatten sie sich dicht nebeneinander gedrückt. Gigas war zu einem grossen Schwan geworden und hatte sie unter seinen weissen Schwingen zugedeckt. Um nicht einzuschlafen, hatten sie viel miteinander gesprochen. Nun gut, das meiste Reden hatte Bonnie übernommen. Er hatte eigentlich nur Fragen gestellt und so mehr und mehr ihre traurige Lebensgeschichte erfahren. Dank Jared hatte er ja zuvor schon ein recht grobes Bild davon gehabt, doch aus ihrem eigenen Mund hatte alles mehr Substanz bekommen. Zudem wurde auch seine Theorie, dass sich die Diagnose des ›Psychologen‹ aus Russland um Schwachsinn handelte, bestätigt. Das waren alles nur die krummen Machenschaften ihres Onkels gewesen, der seine Goldene Gans für sich hatte behalten wollen. Wie ihm das jedoch in zivilisierteren Ländern gelungen war, durchzuziehen, blieb ihnen beiden ein Rätsel.
Nun sassen sie endlich auf den roten Sitzen und sahen der Welt zu, wie sie an dem Fenster vorbeiflog. Sie hatten nicht viel Gesellschaft, nur ein paar Geschäftsleute mit grossen Aktentaschen und Laptops auf dem Schoss.
Bonnie fielen irgendwann die Augen zu, Gigas in Gestalt eines Kolibris auf ihrer Schulter, doch Theodor konnte nicht schlafen. Man könnte meinen, dass sie es hätte sein müssen, die der Anblick des Toten verfolgte, doch so war es nicht. Und das lag daran, dass Theodor etwas gesehen hatte, was Bonnie scheinbar nicht hatte wahrnehmen können: Kurz bevor Gordon Gantrovo sein letztes Röcheln ausgestossen hatte, war Theodor Ainsley McArran erschienen. Sie war mit einem Mal einfach vor ihm gestanden und hatte die Hand ausgestreckt. Ihr Blick und das Deuten ihres Fingers ging durch den Wohnwagen hindurch, hinter dem sich Bonnie und er versteckt hatten und vor dem der Mord begangen worden war. Und dann hatte Annie geschrien. Ein langgezogener, gellender, markerschütternder schrei.
Dann war sie wieder verschwunden.
Was geschah da bloss mit ihm? War er nun doch verrückt geworden?
Gott, wieso konnte er seine Gedanken nicht einfach abstellen?
Nervös wippte er mit dem Bein und starrte aus dem Fenster. Ein Typ mit strähnigem Haar und einer Sonnenbrille blickte ihm entgegen und Theodor zog sich die Kapuze seines Jäckchens hoch. So wie er aussah, würde ihn wenigstens niemand auf der Strasse erkennen.
»Entschuldigung, ist neben dir noch frei?«, fragte eine wunderschön volle, melodische Stimme.
Theodor wandte sich um und blickte zu einem jungen Mann auf, etwas grösser als er, aber in seinem Alter. Er wirkte ein wenig zerlumpt, trug ein etwas schäbiges Tweet-Sakko, ein graues Hemd unter einer Weste, aus deren Tasche die Kette einer Taschenuhr hing, eine fleckige Hose, deren Träger ihm von den Hüften hingen, ausgelatschte Lederstiefel und eine Schiebermütze auf dem Kopf. – Alles wirkte altmodisch, war buchstäblich verstaubt, wie aus einer anderen Zeit. Sein Haar hing ihm in dunklen, öligen Strähnen in das Gesicht, das wie seine Hände mit Russ oder Öl verschmiert war.
Ehe Theodor ihm antworten konnte, liess sich der junge Mann auf dem Sitz neben ihm fallen. »Cole Baskin«, stellte er sich vor, hielt ihm die schmutzige Hand hin und grinste ihn aus Bernsteinaugen an.
Theodor konnte nur starren. »S-Sewin?«, stammelte er verwirrt.
»Sehe ich vielleicht aus wie ein Fuchs?«, lachte der Fremde. »Cole Baskin ist mein Name, sagte ich doch schon.« Er liess die Hand wieder sinken. »Sieh mich nicht so an! Es ist doch nicht das erste Mal, dass du einen Geist siehst!«
Theodor vergass beinahe zu blinzeln, als sich ihm der Sinn von Cole Baskins Worten erschloss und er die leichte Transparenz seines Gegenübers bemerkte. Mit zittrigen Fingern streckte er die Hand nach dem Fremden aus und langte ihm durch die Brust.
»Das ist nicht sehr höflich«, meinte der Geist ein wenig pikiert.
»Wer ... bist du?!«, rief Theodor, der sich zu spät bewusst wurde, dass er gerade einen Geist anschrie und einige der Anzugträger ihm einen irritierten Blick zuwarfen.
»Einer deiner Vorgänger«, erklärte Cole ungerührt. »Dein Bruder.«
Theodor schüttelte den Kopf. »B-Bruder?«
»Na ja, Halbbruder.«
»Ich habe keine Geschwister«, schnaubte Theodor nun und rutschte ein Stück vor dem Geist weg. »Ich ... weiss nicht, wer Sie sind und bitte Sie, mich in Ruhe zu lassen.«
Der Geist seufzte. »Können wir das ›Ich glaube dir nicht!‹ ›Es gibt keine Geister!‹ und ›Werde ich verrückt?‹ bitte überspringen? Denn die Antworten darauf sind nein, doch und nein.« Er holte Luft, dann begann er seine Erklärungen runter zu rattern. »Mein Name ist Cole Baskin, ich starb im Jahr 1890, als ich mich von dem Zug warf, auf dem ich als Heizer arbeitete, aber das ist alles nicht so wichtig. Was du wissen musst, dass wir – zu unser beider Leidwesen – denselben Vater haben. Dieser kommt alle dreiunddreissig Jahre am 2. November für einige Wochen aus der Totenwelt emporgestiegen, um dann eine Frau zu schinden, die ihm dann möglichst einen Sohn gebärt. Das war bei mir vor 152 Jahren bei mir der Fall und bei dir ... Na ja, neun Monate vor deiner Geburt, nehme ich an.«
Theodor lachte auf. »Sie sind verrückt.«
Der Geist gluckste nur grimmig. »Ah! Die Phase also. In Ordnung, ich komme dann in ein paar Stunden wieder vorbei, wenn die Informationen ein wenig sacken konnten.«
»Sie werden nichts dergleichen tun!«, fauchte Theodor, der sich bemühte, leise zu sprechen. »Sie werden mich in Ruhe lassen!«
Cole Baskin verdrehte die Augen und richtete sich auf. »Ich war einmal wie du. Auch ich habe diesen Fuchs gesehen und meine Mutter hat mich ebenfalls gehasst. Ich weiss ganz genau, wie du dich fühlst, Bruder.«
Theodor bekam es immer mehr mit der Angst zu tun. Was sollte das alles, woher wusste dieser Typ all diese Dinge über ihn?! »Gehen Sie!«
»Also gut!«, meinte Cole Baskin lässig. »Bis später.« Schon wandte er sich um, doch dann schien ihm etwas einzufallen und er hielt inne. »Du solltest vielleicht deine Klamotten wechseln. Du stehst in der Zeitung, weisst du. In diesem Motel gab es Kameras und darauf wurdest du erkannt, Theodor Stark.« Dann zwinkerte er ihm zu und im nächsten Moment war er verschwunden.

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt