Kapitel 41 - Spieglein, Spieglein an der Wand

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Kapitel 41

Spieglein, Spieglein an der Wand


~Sabrina~
5. Erwaen 80'024 ☼IV – Tempus, Wiege der Welt, Twos

Der Horizont begann zu glühen, dunkelrot, dann hell wie Zinnober, und setzte die schwarzen Wipfel des Ezelwalds in Brand. Das Feuer des neugeborenen Tages würde das Tal noch eine Weile verschonen. Die Nacht hatte noch Zeit, ihre letzten Schatten zu verstecken, bevor der Morgen kam und sie verschlingen konnte.
Sie reckte einen Arm über den Kopf, hielt sich am Bugspriet fest und zog sich daran hoch. Nun stand sie auf der Reling, balancierte vorwärts, bis sie zum Kopf der Galionsfigur gelangte. Sie stellte sich auf den Scheitel. Über ihr stiess Kyoko ein lautes kreischen aus. Wie ein grauer Blitz jagte er durch den Himmel.
Tempus lag nur einen Schritt weiter und tausende Meter tief unter ihr. Die Strassenlaternen leuchteten wie Sterne ...
Sie schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und reckte sich nach einem frischen Windstoss, der ihr sanft durchs Haar strich. Sie hatte es sich geschnitten, einfach so. Schnitt für Schnitt, Strähne für Strähne, zu lang, zu kurz, ganz egal, einfach ab, ungenau, weg damit! Schulterlang war es nun und kitzelte sie am Hals.
Sie hangelte sich am Bugspriet entlang zurück auf den Galion. Hier stand sie jeden Morgen und wartete auf den nächsten Tag. Meist schleichend grau, versteckt im Nebel, aber manchmal auch wie heute; klar und feurig.
Die Jolly Roger knarzte vertraut und sie seufzte leise. Sie war müde, denn sie träumte zu viel und schlief zu wenig. Albträume, vom Töten und Getötet werden, von Gnade und Unbarmherzigkeit, Liebe, Freundschaft und Verlust, von sich, von anderen, vom Schicksal und vor allem von Falk ...
Sie hatte ihre Versuche aufgegeben, die Träume mit Schlummertulpe und Schlafmohn auszutricksen oder mit Hilfe von Traumfängern und Schutzzaubern fernzuhalten. Es waren zu viele. Selbst zu Revell hatte sie gebetet, doch der hatte ihr auch nicht geholfen ... Falls er sie überhaupt hörte, was Red ihr zwar versicherte, sie aber dennoch nicht richtig glaubte. Etwas besser war es, seit sie an Deck schlief. Vielleicht waren es die Gerüche, vielleicht die Geräusche, die Verbindung, die sie zu diesem Schiff hatte, die Atmosphäre dieses Ortes. Hier war es besser, aber nicht gut ...
Angespannt zog sie Falks Flachmann aus der Innentasche ihrer Jacke und nahm einen Schluck. Eine süsse Flüssigkeit rann ihre Kehle hinab.
»Sabrina?« Irgendwo unter ihr rief jemand ihren Namen.
Sie seufzte. ›Jetzt schon?‹
Wenig motiviert sprang sie am Bugspriet vorbei den Niedergang auf die Back hoch, überquerte das Vorschiff und das Hauptdeck bis Mittelschiff und lugte über das Schanzkleid hinab zu ihrem Balkon. Brée stand dort unten und winkte sie herab.
Wie auch Sookie war Brée dem Tod knapp entkommen, denn aus einer Laune heraus hatte sich Numan Fitcher die beiden Elfen für später aufgehoben, um seine Mordlust mit den Gaben des Klagekönigs an ihnen zu testen. Das war wirklich grosses Glück und Sabrina hätte ihre Freundin sehr vermisst. Doch heute schmälerte sich die Freude, Brée zu sehen, wenn sie an das dachte, was jetzt auf sie zukommen würde ...
Erneut seufzte Sabrina und begann, das Sicherheitstau um ihren Bauch zu schlingen, dann schwang sie sich über die Reling. Ihr Fuss fand halt auf einer der Sprossen der Strickleiter und sie kletterte hinunter.
Sie konnte nur hoffen, dass dieser Tag schnell vorbei war. Sie hatte es so lange herausgezögert, wie nur möglich. Sie würden diese Kronen noch lange genug tragen müssen.

Er lag in seiner gläsernen Vitrine. Schön hergerichtet, hübsch drapiert, wie die Attraktion einer Ausstellung und bewacht vom Boten des Winters, der wie eine Statue neben Falks Sarg stand. Warum Cernunnos noch immer bei ihnen blieb und nicht, wie Anuq es getan hatte, sie verliess, sobald er die Gelegenheit hatte, war wohl eine der Eigenschaften eines Boten des Winters. Vielleicht war es aber auch Sabrinas Sehnsucht, die auf ihn abgefärbt hatte. Genau wussten sie es nicht.
Auch dies war eines von Sabrinas Ritualen. Bevor der Tag richtig beginnen konnte, besuchte sie Falk und sprach mit ihm. Manchmal erzählte sie ihm von gestrigen Ereignissen, manchmal von den Ratssitzungen oder von ihren Entdeckungsausflügen mit Faritales und dem Herzkasper durch Tempus ...
Und er lag da und hörte zu? Falls er sie hörte. Falls er irgendwas wahrnahm.
Sie hatte noch einige Male versucht, in seinen Geist einzudringen und mit ihm zu sprechen, doch sie hatte ihn nie gefunden. Nur diesen Fuchs in ihm, Arams Seele, die so gar nichts mit Kyoko gemein hatte.
Kyoko ... Der Falke, den der Pirat nach einem verbotenen Gott benannt hatte, sprach nicht sehr viel. Dies lag wohl vermutlich auch eher daran, dass Kyoko noch nicht sehr alt war. Es wirkte tatsächlich, als wäre er noch ein Kind. Ein scheues, zurückhaltendes Kind, aber bestimmt nicht nur ein Vogel. Sabrina wusste nicht, wie es sich mit Animanoren verhielt, wie ähnlich sie ihrem ursprünglichen Geist wurden. Hoffnung machte ihr dafür, wie gut das Verhältnis von Peter Pan und dem Falken war. Die beiden schienen sich manchmal ohne Worte verständigen zu können, die Seelenverwandtschaft gab es dann wohl wirklich ...
»Vielleicht solltest du Peter den Falken und das Schiff überlassen«, hatte Red ihr einmal vorgeschlagen, als sie gemeinsam den Winterturm besucht hatten, um nachzusehen, wie sehr die Antagonisten dort ihr Unwesen getrieben hatten. Da die sechs dort den grössten Teil ihrer Usurpation verbracht hatten, war er in einem noch schlimmeren Zustand als viele Etagen des Sommerturms. Die Antagonisten waren wirklich schrecklich destruktive Geschöpfe gewesen ...
»Nein!«, hatte Sabrina sofort geantwortet. »Das ist seine Seele ... Ich kann sie doch nicht wegschicken!«
»Würdest du ja auch nicht«, hatte die Rote sanft geantwortet. »Du würdest sie seinem Bruder überlassen. Peter wird in seinem neuen Leben nie wieder die Möglichkeit haben, seine ganze Geschichte zu erfahren, denn die einzige Person, die wirklich alle Antworten hatte, sie ihm nicht mehr geben kann. Aber wenigstens hätte er seine Seele noch bei sich.« Sehr vorsichtig hatte sie angefügt: »Irgendwann wirst du ihn gehenlassen müssen. Ich sage nicht heute, nicht morgen, vielleicht erst in einem Jahr. Doch du wirst nicht ewig jeden Tag an diesen Sarg treten können und Monologe führen können. Du darfst nicht ewig einsam bleiben. Doch wenn du ständig seine Seele um dich hast, wirst du das nicht können.«
Sabrina hatte ihr gedankt, ihr aber gesagt, dass sie nicht mehr darüber reden wollte. Sie hatte damals schon gewusst, dass Red ins Schwarze traf, doch sie hatte es nicht akzeptieren wollen. Doch die Resonanz der Wörter blieb.
Seit Falk zum neuen Gefäss von Arams Seele geworden war, hatte niemand mehr versucht, Anspruch auf die Macht des toten Urherrschers zu erheben. Niemand wollte mehr vorschlagen, die Macht für den guten Zweck einzusetzen.
Sabrina konnte nicht sagen, ob das fair war. Es hatte dem Rat die Chance auf eine demokratische Abstimmung genommen, doch andererseits war es der Wille des Schicksals gewesen. Also ... musste es ja das Richtige gewesen sein, oder?
Das beschissene Schicksal. Nun, da die Prophezeiung erfüllt war, kam es ihr wie ein schlechter Scherz vor. Als wäre sie das Produkt eines Autors, der ihr Happy End vergessen hatte. Alle anderen wurden irgendwie glücklich und machten weiter mit ihrem Leben und sie sass fest. War das dieser Tiefpunkt, von dem Falk damals erzählt hatte und der einen so lange davon abhielt, sich weiterzuentwickeln, bis man es irgendwie schaffte, das Trauma zu verarbeiten?
Sabrina schüttelte den Kopf. Sie war kein Tintenwesen, sie war ... ein Mensch? Oder eine Herrscherin?
Falk war jedenfalls kein Mensch mehr, jedenfalls nicht mehr in den Augen des Rates. Falk war nun ein weiterer Schatz in der ohnehin schon zum Bersten vollen Kammer. – Immerhin würden sie dank Midas nicht arm werden ... Bald schon würde Falk genauso zur Legende werden, wie all die anderen Dinge, die sich hier in den Regalen reihten und die Truhen füllten. Ein weiteres, wertvolles Geheimnis.
Man bewahrte Falk in der Schatzkammer auf. Sein gläserner Sarg war seine Vitrine, sein Totenbett das Samtkissen, auf dem er lag, sein Wert die Macht, die in seinem Körper eingeschlossen war. Er atmete, hatte einen Puls, brauchte weder Essen noch Trinken.
Der Pirat, der Held, der Retter, der sie vor einem neuen Krieg bewahrt hatte.
»Ich wünschte, du wärst heute hier«, seufzte sie und sah zu, wie Kyoko auf der anderen Seite des Sargs das Sturmglas betrachtete, das sie neben Falks Körper deponiert hatte. »Nur während dieser Krönung.« Sie blickte an sich herab und zupfte an der leichten Rüstung, in die sie für diesen besonderen Tag angezogen hatte. Viel Silber, viel Weiss, viel Hellblau. Ein federleichtes Kettenhemd lugte unter der Mi-Parti-Tunika hervor, vertikal geteilt, auf der weissen Seite prangte zur Hälfte der schwarze Rabe der Rebellen, eine Krone in den Krallen, auf der blauen der weisse Rabe mit dem Schlüssel – das neue Wappen der Herrscher. Eine Hommage sowohl an Nebelfinger, als auch an Falk.
Fast sah sie es vor sich, sein spöttisches Lächeln, mit dem er diese Heraldik verspottet hätte. Aber nur fast.
Als Mile sie wie versprochen für die Zeremonie abholte, liess sie Kyoko bei Falk, damit wenigstens einer von ihnen nicht alleine war.

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now