Kapitel 10 - Vom Schicksal und der Liebe auf den ersten Blick

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Kapitel 10

Vom Schicksal und der Liebe auf den ersten Blick


~Sabrina~
6. Cecily 80'024 ☼IV – Turdus, Turdidae, Twos

Sie fuhr über die glatte Haut, die so frisch war, dass sie sich fast fremd anfühlte. Sie war wie der Flügel einer Libelle; zart, dünn und schimmernd. Unter der leicht gewölbten Membran sah man rotes Fleisch über ihrer Schlagader pulsieren.
»Das Schimmern wird noch ein paar Monate anhalten, das kommt von der Magie«, hatte der Wiruri, der elfische Mediziner mit dem Namen Valyn, gesagt, während er ihr sein Werk in einem kleinen Handspiegel vorführte. - Nur kurz, denn gleich darauf hatte der Elf ihn wieder in ein Tuch gewickelt und in ein Regal verstaut. Schliesslich waren Spiegel selbst in Turdus ein Tabu.
»Ganz verschwinden wird das Mal nicht, oder?«, hatte sie den Wiruri gefragt und mit zittrigen Fingern die Stelle an ihrem Hals berührt, die soeben noch eine hässliche Brandwunde gewesen und nun zu einer unfassbaren Narbe geworden war.
»Nor«, hatte der Elf geantwortet und betreten den kahlrasierten Kopf eingezogen. »Verzeiht ... Nein, wollte ich sagen. Die Göttin Bare, möge sie unser gnädig sein, schuf der weissen Magie Grenzen, die ich nicht überschreiten darf.«
Sabrina seufzte und wischte mit der Hand über den erneut beschlagenen Spiegel des Badezimmers. Ihr blasses Gesicht blinzelte ihr traurig entgegen. Nun war es frei von Schrammen und Blutergüssen – ebenfalls Valyns Werk – doch verheilt waren sie nur äusserlich. Sabrina fühlte sich noch immer verstört, unsicher und geschunden.
»Nicht zu lang hineinblicken, sonst findet Euch das Schicksal vielleicht nicht mehr.« Eine junge Zofe mit Mozartzopf schob sich in Sabrinas Blickfeld. Mit einer ausholenden Bewegung hob sie die Arme und warf ein Tuch über den Spiegel.
»Spielt ohnehin keine Rolle, solange die Ketzerin im Raum ist«, zischte eine ältere Zofe hinter ihr, die nun die Fenster öffnete, um den Dampf abziehen zu lassen.
Sabrina wickelte das raue Badetuch fester um sich, schob das nasse Haar aus ihrem Gesicht und blinzelte in Richtung Taami Sadaf. Es war klar, dass der Kommentar der alten Zofe ihr gegolten hatte, doch die Draconautin liess sich nichts anmerken. Stumm stand sie an der Tür des Badezimmers Wache, die Augen auf einen Punkt an der Wand geheftet. Das Licht des Kerzenhalters, der sich ein Stück neben ihr aus der gefliesten Mauer reckte, wurde von den vielen kleinen Spiegeln an ihrer Kleidung reflektiert, sodass es fast aussah, als wäre sie von einem Heiligenschein umgeben.
Nach Valyns Behandlung hatte Taami Sadaf sie auf ein Zimmer mit riesigem Himmelbett gebracht, wo sie sich hatte ausruhen können. Und oh, kaum hatte sie sich auf das Bett gelegt, war sie auch schon eingeschlafen. Ein herrlicher, traumloser, erholsamer Schlaf ... Bis sie von den beiden Zofen und der Draconautin geweckt worden war.
Taami Sadaf hatte ihr berichtet, dass König Drosselbart so begeistert von der Nachricht gewesen war, dass die Herrscher der Harmonie nach Twos zurückgekehrt waren, dass er die Rebellen zum Feiern aufgefordert hatte. Zum Empfang der Geschwister Beltran wollte er einen Ball veranstalten. Und für einen königlichen Ball wäre Sabrina zu schmutzig. Aus diesem Grund hatten sie die zwei Zofen in den nächsten Raum gescheucht, der sich als Badezimmer entpuppt hatte.
Erst hatte Sabrina sich gesträubt. - Das hatte ihr noch gefehlt, sich von irgendwelchen Zofen in einem Bottich den Rücken schrubben zu lassen, doch jeder Widerstand war zwecklos. Vor allem die ältere der Zofen - Sharona hatte sie sich ihr vorgestellt, glaubte Sabrina sich zu erinnern - eine Menschenfrau um die sechzig, liess nicht mit sich diskutieren und erinnerte sie stark an Iolanda.
Somit hatte sie sich irgendwann gefügt, sich bis auf den Obsidian um ihren Hals ausgezogen und war in die Wanne gestiegen, die mit warm dampfenden Wasser gefüllt war und tatsächlich war das Bad ein Segen gewesen.
›Wenigstens hab ich mir nun Leutnant Apto abwaschen können‹, dachte sie, während sie von der jüngeren Frau auf einen Stuhl vor einem rustikalen Tisch bugsiert wurde, wo sich Bürsten, Kämme, Pinselchen, Töpfchen und Tiegeln reihten.
»Ich hoffe, es ziept nicht zu sehr«, säuselte die Zofe, bei der es sich um eine dieser immer freundlichen und deshalb schrecklich nervigen Frohnaturen handeln musste, während sie einen Kamm durch ihr Haar zog.
»Ich kann das auch selbst machen«, sagte Sabrina, wie sie es den beiden Zofen in der letzten Stunde schon so oft gesagt hatte, doch wie zuvor lachten die beiden nur und schnatterten durcheinander; dies zieme sich nicht für die Eisprinzessin und man befände sich schliesslich nicht im barbarischen Guerrael oder düsteren Malakin.
So liess Sabrina den unfreiwilligen Friseurtermin über sich ergehen, bis ihr Haar zu einem festen Zopf geflochten war, der sich mit einem weissen Seidenband verschnürt über ihre Schulter legte, sodass die Spitze sie am Arm kitzelte.
»Gut gemacht, Madleina«, lobte die Alte. »Jetzt noch das Kleid und man könnte meinen, sie wäre tatsächlich eine Prinzessin ...«
Wäre es so gewesen, hätte Sabrina die olle Zofe für ihr loses Mundwerk vermutlich aus dem Fenster werfen lassen, doch erstens wollte sie alles andere sein als eine scheiss Prinzessin und zweitens war sie viel zu entsetzt.
»K-Kleid?«, brachte sie hervor, während Sharona sie vom Stuhl schob und ihr mit einem Knicks und einer weisenden Armbewegung den Vortritt aus dem Baderaum zurück in das Zimmer mit dem Himmelbett bot.
Madleina nickte entzückt. »Es sollte indes auf Euer Zimmer gebracht worden sein, Mylady.«
Damit sollte sie recht behalten. Jemand hatte einen Damendiener neben dem Bett aufgebaut und dieser stellte etwas zur Schau, was viele kleine Mädchenaugen zum Leuchten gebracht hätte, Sabrina jedoch nur blass werden, trocken schlucken und die Arme um sich schlingen liess. Suchend blickte sie sich nach den Sachen um, die sie von Red hatte, selbst um das Akhlutfell wäre sie nun froh gwesen, doch von ihren alten Klamotten fehlte jede Spur.
»Oh wie schön!«, schwärmte die junge Zofe. »Das hat bestimmt eine Fee gezaubert!«
»Madleina, red keinen Unsinn! Niemand ausser Königin Asha – möge Lux sie empfangen oder ziehen lassen - war jemals dumm genug, den Wunsch einer Fee so töricht zu verschwenden. Aber sie war auch nur ein dummes Gör wie du«, tadelte Sharona sie grimmig. Sie trat an das Kleid heran, stemmte die Arme in die Hüften und nickte. »So schöne Seide kann nur aus Dom Askur stammen.«
Es war wirklich ein schönes Kleid; bodenlang und so hellblau, dass es fast weiss wirkte. An manchen Stellen war es mit Schneeflocken bestickt, sodass es aussah, als wäre der seidene Stoff tatsächlich mit Frostblumen überzogen. Die Ärmel weiteten sich ab den Ellbogen in lange Schleier wie Nebelschwaden, die sich um den Rock züngelten.
Wunderschön, aber bestimmt nicht an ihr!
»I-ich kann das nicht anziehen.«
Abrupt wandten sich die Köpfe der Zofen und selbst die Draconautin, die sich nun vor der Flügeltür, die hinaus in den Flur führte, postiert hatte, runzelte die Stirn.
»Es ist klein geschnitten, es wird Euch sicher passen«, meinte Madleina freundlich verwirrt, da sie sich wohl keinen anderen Grund vorstellen konnte, weshalb man so ein Kleid ablehnen sollte.
»Das ist egal.« Nervös zupfte Sabrina an ihrem Handtuch herum und ballte die Faust um den Zipfel. »Ich trage keine Kleider.«
Sharona schnaubte. »Wie ist das denn gemeint?«
»Ich trage keine«, wiederholte sie und spürte, wie ihre Knie weich wurden.
»Ihr seid an den Ball eines Königs geladen. Nicht nur irgendeines Königs, König Drosselbarts! Anführer der Schwarzen Armee! Ist Euch bewusst, was das für eine Ehre ist?«, brauste Sharona auf und ihr dickes Gesicht lief rot an. »Ein Schneider hat sich die letzten Stunden, die Ihr geschlafen habt, die Finger in Eile wund geschuftet, um ein Kleid zu finden, dass er auf Eure Kümmerlichkeit umnähen konnte, damit Ihr Euch nicht zum Gespött macht! Und Ihr wollt es nicht?!«
»Ja. Ich will es nicht.« Sie schaffte es, die Worte heraus zu bekommen, bevor der Kloss in ihrem Hals sich dazwischendrängen konnte.
Die Alte warf die Hände in die Luft. »Pha!«
Madleina war an das Kleid herangetreten und fuhr beinahe andächtig über den schimmernden, blauen Stoff. Ihre Finger, grob und rau von ihrer Arbeit, schienen nicht in dieselbe Welt zu gehören wie der Stoff, der wie flüssiges, blaues Perlmutt aussah. »Wie schade«, sagte sie nur.
Sabrina spürte, wie ihre Blässe nun der Schamesröte wich. »Es tut mir leid, gibt es denn nichts anderes?«
»Ja, ihr solltet Euch schämen!«, rief die Alte, die die Veränderung in ihrem Gesicht bemerkt haben musste. »Wie könnt Ihr nur so undankbar und unverschämt sein! Ihr werdet jetzt dieses Kleid anziehen, junge Lady!«, befahl die alte Zofe und deutete energisch auf den Damendiener. »Sofort!«
»Achtet auf Euren Ton, Zofe!«, meldete sich da auf einmal Taami Sadaf aus ihrer Ecke. »Ihr sprecht noch immer mit einer Herrscherin.«
»Herrscherin. Herrscherin!« Sharona lachte so laut auf, dass selbst Madleina sie erstaunt anblickte. »Seht sie Euch an, Ketzerin!«, fauchte die Alte und zeigte mit ihrem Wurstfinger auf Sabrina. »Ihr habt es alle gesehen! Noch nie sah ich solch reine Haut. Keine Spuren von Krankheitsmalen, keine Narben. Nur die an ihrem Hals! Und Muskulatur hat sie auch keine. Woher kommt sie, dass das Leben keines seiner Zeichen an ihr hinterlassen hat? Und dumm wird sie obendrein sein, wie sie vorhin ohne Sorge in den Spiegel starrte. Möge das Schicksal ihrer Gnädig sein. Und uns! – Ach nein, das unsere liegt ja in ihren Händen!«
»Ihr habt doch keine Ahnung!«, brach es da auf einmal aus Sabrina heraus und ein lautes Schluchzen entwich ihrer Kehle. »Ich will das alles gar nicht! Ich will kein Kleid, keinen Ball, kein Schicksal ... Ich hasse es hier! Sch-scheiss Twos!« Sie hatte noch mehr sagen wollen, doch den Rest holten sich die Tränen. Also machte Sabrina auf der nackten Ferse kehrt, floh ins Badezimmer und schloss die Tür ab.

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterDonde viven las historias. Descúbrelo ahora