Kapitel 18 - Graue Momente

960 69 128
                                    


Kapitel 18

Graue Momente


~Mile~
11. Moja 80'024 ☼IV - Ebenen von Hebrorie, Jeshin, Twos

Der Junge ohne Seele blinzelte aus blutunterlaufenen, milchigen Augen in das bläuliche Licht der Wyrselsteine, die Muhme Trude ihm ins angenähte Gesicht hielt. Mit der anderen Hand umklammerte sie sein Kinn, zwang ihn den Kopf zu heben und zu drehen.
»Mach ›Aah‹!«, krächzte die Zauberin und schob Pinocchio die knorrigen Finger zwischen die Lippen, damit er den Mund aufsperrte. »Mhm, jaja«, machte sie, während sie seine Zähne inspizierte, das runzlige Gesicht vor Anstrengung noch faltiger.
»Die Medici und Wiruri haben den Jungen bereits untersucht, Trude«, seufzte Königin Amiéle gelangweilt. »Ich habe den Bericht der Medici Bonnair gelesen. Es ist alles in Ordnung mit der ... Kreatur.«
Die Zauberin grunzte abschätzig. »Die Fähigkeiten der Medici und Eurer Wiruri in Ehren, aber weder die Mediziner noch deren Elfenkaste ist für so was nicht qualifiziert. Da bräuchte es schon Eure Magri; Elfen Eurer Magier-Kaste. Ein gewöhnlicher Heiler, selbst ein Wiruri, übersieht die wahren Gefahren. Also nein, ich lasse es nicht! Ich traue keinem Ding, das Kontakt mit den Antagonisten gehabt hat.«
»Er ist ein Mensch, kein Ding«, mahnte Agaue Fluc die Muhme mit plätschernder Stimme, doch ihr Blick lag auf der Elfenkönigin. »Es wäre schön, könntet auch Ihr euch das merken, Majestät!«
»Ein Homunkulus. Das ist kein richtiger Mensch«, tat die alte Zauberin ab, trotzdem liess sie den Jungen sein, machte einen Schritt zurück und straffte ihr Strickkleid.
»Mensch oder nicht«, knurrte Dougal, der etwas abseits von ihnen an der Zeltwand stand. Seine Ketten rasselten, als er sich mit einem Finger an die Schläfe tippte. »Ihm fehlt noch immer eine Seele, er hat kein Gewissen, vergesst das nicht!«
Die Ratsmitglieder murmelten zustimmend und nickten.
»Hier, Kleiner«, brummte Drosselbart warm, der nun hinter Pinocchio trat, um ihm ein Akhlutfell über die mageren Schultern zu legen.
»D-danke«, stammelte dieser mit einer Stimme, die rau und kratzig war, da er sie so lange nicht mehr benutzt hatte.
Pinocchio war mehr eine Flickenpuppe aus Fleisch, als eine Marionette, doch nun, da er wieder atmete, sich bewegte und sprach, war sein Aussehen nicht mehr ganz so grausig. Vor allem tat er Mile leid, wie er so dasass, in sich gesunken, verängstigt und offenbar ziemlich verwirrt. Wer könnte es ihm verübeln? Wer war schon voll funktionsfähig auf den Beinen, wenn man die letzten Monate tot gewesen war?
»Können wir ihn denn nicht erst zu seinem Vater lassen, bevor wir ihn verhören?«, flüsterte Mile Ikarus zu, der neben ihm in seiner Draconauten-Rüstung stand und ungeduldig von den Zehen auf die Fersen wippte.
»Wir wollen kein Risiko eingehen«, antwortete der General der Scopter, Rastaban und Lamier. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.«
Mile gefiel das nicht. »Aber er ist doch noch ein kleiner Junge.«
Ikarus lachte leise, sodass sein Schlangentattoo zuzuschnappen schien. »Er mag so aussehen, aber Ihr vergesst, dass der Homunkulus auch ein Tintenwesen ist. Der Kleine hat schon mehrere Jahrhunderte auf dem zusammengeflickten Buckel.«
Zwar hatte Geppetto ihnen in LaRuh versichert, seine Schöpfung wäre nicht fähig, zu lügen, doch der Rat der Rebellen blieb misstrauisch und Mile konnte es ihnen nicht einmal verübeln.Es wäre vermutlich etwas anderes gewesen, hätte Dougal einfach Pinocchios Gedanken lesen können, doch leider - wie der Lauscher ihnen berichtet hatte - ging das nicht, wenn der zu Belauschende keine Seele hatte. Andererseits war es vielleicht auch besser so. Mile würde jedem ein solches Erlebnis ersparen wollen.
Am Eingang des Sitzungszelts des Rates rumorte es, ein Gardist wurde hereingelassen, der mit einem Tablett beladen war, auf dem er einen Teller voll dampfendem Brei und eine Kanne Wasser balancierte. Er stellte es vor den Jungen auf den Tisch, salutierte und verliess das Zelt wieder.
Pinocchio stürzte sich auf Essen und Trinken und innerhalb weniger Minuten war der Brei verschwunden und das Wasser bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken.
»Vielleicht können wir ja jetzt mit dem Verhör beginnen?«, knurrte Jilva Frihir aus einer Ecke des Zelts und liess ihre Silberaugen aufblitzen.
»Nun denn«, räusperte sich Drosselbart und liess sich vor Pinocchio auf die Knie, sodass dieser sich staunend in dessen Krone spiegeln konnte. »Kannst du dich noch erinnern, mein Junge? Du sagtest, du hättest wichtige Informationen für die Rebellen. Wir sind deren Anführer.«
Der Kleine blinzelte scheu. »Ist ... Babbo ... M-mein Vater, ist er hier?«
Deron nickte sanft. »Deinem Vater geht es gut. Maestro Geppetto ist hier, du wirst ihn bald sehen können. Aber erst musst du mit uns sprechen, ja?«
Pinocchio schlang das Akhlutfell noch fester um sich, doch er nickte.
»Dann mach nicht so spannend! Was führen die Antagonisten im Schilde? Du warst doch ihr Gefangener, nicht wahr?«, donnerte da Häuptling Azzarro durchs Zelt und Mile hätte laut aufstöhnen können. Dieser Mann hatte so viel Feingefühl wie ein Backstein.
Bei der Erwähnung der Usurpatoren zuckte der Kleine augenblicklich zurück, als hätte der Guerraeli eben seine Streitaxt aus dem Gürtel gerissen, doch Drosselbart beruhigte ihn schnell wieder. Er streckte mit einer langsamen Bewegung den Arm nach Pinocchio aus und legte ihm seine grosse Hand auf die Schulter.
»Es ist alles in Ordnung, Pinocchio. Du bist hier nun sicher, niemand wird dir etwas antun, du stehst unter meinem Schutz.« Er lächelte auf seine einnehmend herzliche Art und zwinkerte dem Jungen zu. »Und hör bloss nicht auf diese ungeduldige Gesellschaft, in der wir uns hier befinden. Die haben nicht viel zu sagen, wenn ich im Raum bin. Also nimm dir Zeit ...«
Tatsächlich entspannte sich der Homunculus da ein wenig und er begann zu erzählen, zwar stockend und langsam, doch jedes der Ratsmitglieder hing an den tintenen Kinderlippen.
»Sie ... liessen mich immer wieder aus meiner Zelle holen und ... untersuchten mich. Meistens musste ich zuvor irgendwelches Zeug trinken, das mich ganz komisch fühlen liess - ganz müde ... Deshalb habe ich Vieles nicht mitbekommen; ich schlief.« Der Junge schüttelte den Kopf, die Erinnerungen nagten an ihm.
»Wer hat dich untersucht? Die Antagonisten?«, hakte Rosanna nach, die sich, wie die Maus vor den Löwen, vor ihren Vater schob. »Alle sechs oder nur ein paar?«
Pinocchio wurde ganz blass, als er erklärte: »Zu Beginn meistens nur die Hexen. Damaris und Hedwig Malefizius. Später kam der Blaubart, Numan Fitcher, dazu. Gegen Ende waren auch Midas und die Herzkönigin dabei.«
»Was ist mit Nevis?«, hörte Mile sich mit einem Mal fragen. »War sie auch dort?«
»Hat wohl Sehnsucht nach der Tante«, zischte Rosanna ihrem Vater zu, der laut gluckste, doch Mile tat, als bekäme er es nicht mit.
Der Seelenlose nickte träge. »Aber nur am Schluss.«
»Interessant ...«, murmelte Dougal leise und sein roter Blick kreuzte Miles, der schnell wegsah.
»Weisst du auch, warum die Antagonisten dieses Interesse an dir hatten?«, erklang Löwenherz' tiefes Schnurren aus den Schatten des Zelts. Er hatte sich etwas zurückgezogen, wohl in der Annahme, dass ein kleiner Junge vielleicht Angst vor einem riesigen Raubtier wie ihm haben könnte, doch der Junge antwortete ihm ohne Furcht, als er zu den glühenden Augen des Animanorenkönigs aufsah.
»Wegen meines Kerns«, sagte er und legte eine Hand auf seinen Bauch.
Drosselbart beugte sich vor, holte mit einem fragenden Blick das Einverständnis des Jungen ein, zog ihm das Hemd aus der Hose und hob es an, sodass alle seinen Bauch sehen konnten.
Von der gähnende Wunde, die dort geklafft und alle im Inkoleum gesehen hatten, war nichts mehr zu sehen. Unter einem Flickenteppich verschiedener Hauttöne pulsierte dort, wo Pinocchio keinen Bauchnabel hatte, ein warmes Licht, wie von einer Kerze.
»Feenmagie«, brummte Muhme Trude zufrieden.
»Du meinst mit deinem Kern den Talisman, nicht wahr?«, fragte Ikarus fasziniert. »Dein Vater hat uns schon einiges über dieses Objekt berichtet. Er fand ihn im Bauch eines Wals und setzte ihn dir ein. Aus ihm hast du die scheinbar unerschöpfliche Energie - oder Magie - gezogen, die dich am Leben erhielt.« Er ging leicht in die Hocke, die Hände auf die Knie gestützt, den Wissensdurst nur so ins Gesicht geschrieben. »Was ist das für ein Kästchen?«
Pinocchio schüttelte den Kopf. »Ich weiss nicht, was es war, doch ich weiss, wozu die Antagonisten es benutzten!«
Orion lachte und schlug sich mit der Hand auf den Schenkel. »Das klingt gut! Schiess los, Junge!«
Eifrig nickte Pinocchio und patschte sich auf den Bauch. »Die längste Zeit liessen sie mir den Kern im Bauch, haben ihn nicht rausgenommen. Sie konnten ihn ja auch so verwenden. Jedes Mal haben sie mich davor ihre Tränke trinken lassen, sodass ich schlief, doch einmal bin ich aufgewacht.« Er löste die Hände von seinem Rumpf und faltete sie im Schoss. »Es ist verschwommen, ich kann mich nicht ganz erinnern. Aber ich sah Hedwig und Damaris, sie hatten die Hände auf meinen Bauch gelegt, murmelten irgendwas ...« Er verzog das Gesicht. »Es hat wehgetan, als würden tausend Bienen in mir drin toben und stechen ...« Die Erinnerungen schienen ihn nun mehr einzuholen. Er begann zu zittern, trotz des Akhlutfells.
»Eine Beschwörung!«, fauchte Trude und fuhr aufgeregt durch ihre heissgeliebte Knochenkette. »Was war es? Ein Dämon? Ein böser Geist? Gar ein Astral?«
Pinocchio zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich kann mich nur erinnern, dass es irgendwann einfach aufhörte. Es wollte ihnen nicht mehr gelingen, die Kreatur zu beschwören. Ich weiss das, weil ich einmal von ihren Streitereien geweckt worden bin, da sie sich gegenseitig anklagten, schuld an diesen Misserfolgen zu sein. Dabei hat einer von ihnen die Kreatur als Lichterfresser bezeichnet.«
»Wie sah er aus, dieser Lichterfresser? Kannst du das beschreiben?«, versuchte es die Nereide sanft und klimperte mit ihren Hailidern.
Der Junge knetete angespannt seine Finger. »Als es erschienen ist, war nur alles schwarz. Als wäre mit einem Mal tiefste Nacht, aber ohne Sterne.«
Da wurde es im Zelt mit einem Mal mucksmäuschenstill. Niemand sagte etwas. Alle starrten nur den Homunculus an. Nur nicht Mile, der zwar wie alle anderen erraten hatte, was das zu bedeuten hatte, für den das Mitternachtsmassaker jedoch nur eine düstere Geschichte war. Nichts, was er gar selbst erlebt hatte. So legte er den Kopf schief und fragte gerade heraus: »Er spricht vom Schatten, nicht wahr?«

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now