Kapitel 30 - Der König ist tot

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Kapitel 30

Der König ist tot


~Mile~
22. Jomiko 80'024 ☼IV – Hohle Hügel, Jeshin, Twos

»Warum?«, schrie Mile, so laut und so verzweifelt, dass es ihm in Brust und Kehle brannte.
»Nein!«, rief Red schrill. Sie liess sich neben dem Lichterlord auf die Knie sinken, suchte Derons Puls ... »Oh nein.«
»Warum?« Um Mile drehte sich alles. »Nein! Bitte, nein!«
Es tat so weh. Waren es seine Stimmbänder, die schmerzten? War es der Verlust, der seinen Torso sprengen wollte? Nichts von beidem, denn in Wahrheit war es Feuer.
»Mörder!« Mile langte nach Geppetto, der gerade versucht hatte, aufzustehen, um zu fliehen. Er erwischte ihn am Bein, riss ihn von den Füssen.
»Pietà! Pietà!«, kreischte der alte Mann und hob schützend die tintenschwarzen Hände über den Kopf, als der lodernde Lichterlord sich über ihm aufbaute, um ihn zu verbrennen. »Pietà, per favore!«
Doch Mile war nicht gnädig. Er war nur so, so wütend. »Mörder!«, schrie er wieder, dann packte er den Verräter mit brennender Linken an der Kehle, riss ihn hoch und drückte ihm die Rechte ins Gesicht.
Geppetto schrie, als das Feuer sein Fleisch verzehrte.
Mile brüllte, denn der Flammenhass tat dasselbe mit ihm.
»Mile! Nicht!«
Mit einem Mal war da etwas Rotes, das an ihm zog, an ihm zerrte.
»Hör auf!«
Etwas traf ihn am Hinterkopf, so hart, dass er kurz nichts sah und hinfiel, den Mörder losliess.
»Nein!«, schrie Mile. »Halt!« Schon sprang er wieder auf, um den sich am Boden windenden Geppetto weiter zu foltern, doch etwas stellte sich ihm in den Weg. Etwas Rotes.
»Bitte!«
Mile schlug zu, sein Hindernis fiel zu Boden, er konnte weiter. Schon stand er wieder über dem alten Scopter.
Geppetto konnte nur noch brüllen. Kein verständliches Wort war mehr zu hören.
Mile streckte die flammenden Finger aus, wollte sie tief in die Augenhöhlen des Verräters drücken, ihn von innen verbrennen ...
Mit einem Mal wurde er am Kragen gepackt. Etwas riss ihn zu Boden und drückte ihm das Gesicht in die aufgeweichte Erde. Hustend wand er sich, schlug um sich, bis er wieder hochgezogen wurde und in ein kantiges Gesicht mit Prinz Eisenherz-Frisur aufblickte.
»Man schlägt keine alten Männer und Frauen, du Arsch!«, blaffte der blonde Mann und donnerte ihm die Faust auf den Schädel, sodass Mile nur noch tanzende Lichter sah.

Als Mile wieder zu sich kam, war sein erster Gedanke: ›Wo bin ich?‹ Mit seinem zweiten kamen die Erinnerungen zurück: ›Drosselbart!‹ Und sein dritter war voller Hass: ›Geppetto!‹ Er würde den Verräter nicht entkommen lassen! Er würde ihn ... Sein Blick fiel auf Red und er keuchte.
»Oh ... Oh nein, Red!«
Sie lag im Gras, eine hässliche Schramme auf der Wange. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht -verwirrt, schmerzverzerrt und zutiefst verletzt - war wie ein Gong in seinem Kopf und endlich war Mile wieder klar.
»War ich das etwa?« Er hatte sie nicht erkannt, einfach nicht gesehen, blind zugeschlagen ... Er kroch auf sie zu, streckte die Hände nach ihr aus, dann sah er das ganze schwarze Blut daran ... Ihres? Geppettos? Drosselbarts? Er blickte sich zu der im Nebel liegenden Leiche um, dann erbrach er und heulte auf.
»Oh Gott«, röchelte er und würgte erneut. »Oh Götter!« Das Blut rauschte in seinen Ohren, sein Herz trommelte gegen seine Brust. Vor sich im Gras sah er den Seelenanhänger liegen, den Drosselbart ihm eben noch gegeben hatte. Er musste ihn verloren haben, als er Geppetto angegriffen hatte. Mit zittrigen Fingern legte er sich das Lederband um, dann blicke er sich um. Wo waren sie? Er hatte völlig die Orientierung verloren. Es schien, als hätte Geppetto sie aus dem Rebellenlager hinausgefahren. »Scheisse, scheisse, scheisse ... « Das musste ein Traum sein. Bitte, es musste ein Traum sein!
Mit einem Mal drang das jämmerliche Klagen eines Kinders zu ihm durch. »Babo! Nein!«
Fahrig hob Mile den Kopf und erblickte einen Jungen neben dem sich windenden Körper des Königmörders kauern. Ein kleiner Junge ...
»Pinocchio?«, fragte Mile, doch da begann der Kleine noch viel lauter zu weinen.
»Götter, Mile«, zischte Red, die sich von seinem glühenden Schlag, der ihr die Haut vom Fleisch gebrannt hatte, bereits wieder erholte. »Was fährt da manchmal in dich?« Auf allen Vieren krabbelte sie auf Geppetto zu, um bei diesem erste Hilfe Massnamen zu leisten.
Mile wollte aufstehen, ihr folgen, doch Prinz Eisenherz liess ihn nicht.
»Bleib ja, wo du bist!«, knurrte er und hob drohend die Faust, mit der er eben noch sein Gesicht in die nasse Erde gedrückt hatte. »Zum Glück bin ich gerade hier vorbeigekommen. Wollte eigentlich nur kurz pullern gehen ...«
Mile glaubte, nicht recht zu hören. Vorsichtig machte er erneut Anstalten, sich aufzurichten. Langsam, mit erhobenen Händen und nun liess ihn der Fremde.
»Bist du ... Hans Urner?«, murmelte er, als er stand und den Blonden auf Augenhöhe mustern konnte, um seine Frage gleich darauf selbst zu beantworten. »Du bist es! Du bist der Typ mit der Armbrust in LaRuh!«
»Du hast meine Show gesehen?«, grinste Hans und seine Brust schwellte sich vor Stolz. Zu spät schien er sich seiner Taktlosigkeit bewusst zu werden und liess mit dümmlicher Miene die Schultern wieder sinken.
Mile wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Sein Körper entschied sich für beides und liess ein irres Giggeln seinen Lippen entweichen, während ihm kochende Tränen über die Wangen liefen.
Er wusste selbst nicht, wieso er sich so verhielt, er konnte einfach nicht anders. Es genügte jedoch, um Pinocchio noch mehr zu verstören. Heulend und stolpernd rannte der Junge davon.
»Nicht! Warte!«, rief Red, doch der kleine Homunculus war bereits vom Nebel verschluckt worden. »Skath!«, fluchte sie. »Beruhig dich, Mile!«, befahl sie nun. Sie schaffte es, dem alten Scopter den verbrannten Mund aufzureissen, um ihm einige Blätter Schlummertulpe in den Mund zu stopfen. »Ach du ... Oh verdammt, das erklärt einiges«, murmelte sie da, scheinbar hatte sie eine Entdeckung gemacht.
»Was?«, wollte Mile wissen. »Was ist?«
»Seine Zähne sind knallorange«, brummte sie. »Von wegen, Geppetto hat einen Entzug gemacht! Götter! Der Färbung nach zu urteilen, hat der Höchstdosen konsumiert! - Egal! Dafür haben wir jetzt keine Zeit!« Sie wandte sich an Hans. »Ihr da!«, rief sie dem Glückskind zu, das eben damit beschäftigt gewesen war, sich Drosselbarts Krone genauer anzusehen. »Ihr würdet uns sehr helfen, wenn Ihr die Leiche dort in die Kutsche laden könntet!«
Hans nickte. »Das ist Drosselbart, stimmts? Scheisse, ich habe einen Königsmord mitangesehen! Wenn ich das meinen Kumpeln erzähle, die werden mir das nie glauben! Ich verdammter Glückspilz!«
Mile musste sich beherrschen, nicht auch noch Cecilys Kind an die Kehle zu springen, doch da lenkte Red seine Aufmerksamkeit wieder auf sich.
»Schnell jetzt, Mile!«, wies sie ihn an. »Komm her und hilf mir, wir müssen ihn hier wegbringen!«
Mile machte ein paar Schritte auf sie zu, doch weiter kam er nicht. Er würgte. Es roch widerlich süsslich nach Barbecue. »Ich kann nicht«, keuchte er.
Mile hatte schon Schlimmeres gesehen, er hatte getötet. Wie naiv er gewesen war, zu denken, dass ihn Wunden und Tod nicht mehr schocken würden. Es war nun einmal etwas ganz anderes, wenn es Leute betraf, die man kannte oder gar liebte.
»Er braucht dringend medizinische Behandlung! Wehtun kannst du ihm nicht mehr, falls dich das kümmert«, schnaubt die Rote gestresst. »Du hast ihm jeden Nerv weggebrannt. Er hat wahrscheinlich nur noch vor Panik geschrien.« Sie schüttelte den Kopf, während sie nun allein versuchte, den Alten hochzuhieven. »Wie konntest du nur, Mile?«
»Er ... er hat Drosselbart getötet!«, brachte er erstickt hervor.
»Ja, hat er«, antwortete sie knapp und traurig. »Aber so was kannst du nicht tun!« Etwas leiser fügte sie hinzu: »Nicht vor den Augen seines Sohnes!«
Mile vergrub das Gesicht in den Händen. Das hier war die Hölle!
»Ich kann das nicht«, sagte er schliesslich. »Tut mir leid.« Dann rannte auch er in den Nebel davon.


Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now