Kapitel 15 - Der Pirat und die Prinzessin

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Kapitel 15

Der Pirat und die Prinzessin


~Sabrina~
Nihil

Gestern war das Gras noch blau gewesen, heute war es schwarz.
Augenblicklich schloss sich erfahrene Furcht um ihre Brust, liess ihr Herz schneller schlagen und ihren Atem schwerer werden.
›Nicht schon wieder!‹
Sie rappelte sich auf die Knie und schlang die Arme um sich, während sie sich umblickte, doch wie jedes Mal, wenn sie in ihrer Traumwelt landete, war ihr die Umgebung fremd. Noch nie war sie zweimal an demselben Ort gewesen, jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern, dass es jemals so gewesen wäre. Jedes Mal waren es neue Wiesen, andere Wälder, fremde Steppen, unbekannte Pfade. Aber immer war alles schwarz, von dunklem Nebel verhangen und die weisse Sonne hing wie ein kalter Stern am Himmel. Die einzige Farbe schufen die Mohnblumen, die hier und überall in der Traumwelt wie Unkraut aus dem Boden sprossen.
Nur etwas war dieses Mal anders: Sabrina war nicht allein.
»Von weit her sind sie gekommen, kennen drei Monde, verschiedene Sonnen«, säuselte Mondkind vor sich hin, während sie sich, mit ihren kleinen Händen enorm geschickt, aus den blutroten Mohnblumen einen Kranz flocht. Ihre Augenbinde lag ihr zusammengeknüllt im Schoss. »Tag oder Nacht, was liegt - liegt denn was - dazwischen? Nimmt hin sein Schicksal mit Gewissen.«
»W-was machst du denn hier?«
Ihre Cousine hielt inne und sah auf. - Mit tief violetten Augen, denen die Pupillen fehlten.
Sabrina schnappte nach Luft und wich zurück. »W-was ist mit deinen Augen?!«
Die Kleine zuckte die Schultern. »Was soll mit ihnen sein?«
Sabrina schnaubte, den ersten Schrecken bereits überwunden. »Na, die haben keine Pupillen. Und ausserdem haben sie eine total unnatürliche Farbe!«
»Du wusstest doch, dass ich nicht mit den Augen sehe«, antwortete das Mädchen und zog das Näschen kraus.
Nun, da Sabrina sie ohne ihre Augenbinde sah, fiel ihr nebst der seltsamen Iriden noch etwas anderes auf: Ein rundes Gesicht, weit auseinanderstehende, leicht mandelförmige Augen ... War das mit dieser Mondkrankheit gemeint, von der Nebelfinger gesprochen hatte? Denn es schien, als wäre die Kleine nicht einfach nur an den Augen erkrankt. In diesem Traum hatte sie das Down-Syndrom!
Langsam krabbelte Sabrina näher an ihre Cousine heran. »Das ist seltsam. Ich träume eigentlich nie von Leuten, die ich kenne, wenn ich hier bin.« Ihre Hand schoss an ihren Hals, wo der Anhänger des Traumfängers ihr bisher gute Dienste geleistet hatte, doch ihre Finger tasteten vergebens. Der Anhänger war weg. Wie hatte sie ihn verlieren und es nicht bemerken können?
»Du träumst mich nicht, ich bin wirklich hier!«, meinte ihre Cousine kichernd, während sie ihren Kranz mit dem letzten Stängel vollendete. »Du hältst das doch nicht etwa für einen gewöhnlichen Traum? Das hier ist Nihil!«
Sabrina runzelte die Stirn. »Nihil? Was ist das? Ist das der Name dieser Traumwelt?«
Die Kleine nickte und kicherte wieder. »Wir sind in Nihil, ja. Aber es ist keine Welt. Es ist das, was sich ausserhalb der Welten befindet. Es ist das Nichts, das den Weltenbaum Omnos umgibt.« Sie grub eine Hand in die schwarze Erde. »Wir befinden uns auf einem seiner Äste. Vermutlich nicht der von Twos, ich habe jedenfalls noch keinen Schicksalsfaden gesehen, aber vielleicht sind wir auch nur mitten in einem Leerraum des Netzes gelandet ...«
Sabrina runzelte die Stirn und setzte sich wie ihre Cousine in den Schneidersitz. »Der Ast eines Baumes? Der Boden fühlt sich aber nicht an, als wäre er aus Holz.«
»Omnos ist gewaltig. Für ihn sind wir kleiner als Flöhe. Jedes Staubkorn ist hier eine Landschaft.«
»Dann wächst diese Wiese also auf einem Staubkorn?«, murmelte sie skeptisch.
»So ähnlich. Vielleicht.«
Sabrina gluckste. Sie wusste nicht recht, was sie von dieser Situation halten sollte. Ihr Leben lang hatte sie diese Traumwelt für nichts anderes als ein weiteres Höllensymptom ihrer Schizophrenie gehalten, aber da die ja gar nicht existierte ... Vielleicht sass da ja wirklich ihre vierjährige Tinten-Cousine neben ihr in einer Staubwiese im grossen, weiten Nichts ... Es erstaunte sie selbst, wie einfach es war, sich an diese Idee zu gewöhnen. Fremde Realitäten? Pha, nichts Neues ...
»Wenn es stimmt, was du sagst und wir uns wirklich im Nichts, diesem Nihil, befinden«, hakte Sabrina weiter nach, »wie sind wir dann hierher gekommen?«
Wieder kicherte die Kleine, wie kleine Kinder nun einmal lachten, wenn Erwachsene furchtbar dumme Fragen stellten, deren Antworten jeder kannte. »Du hast doch geträumt!«
»Man kann sich ins Nichts träumen?«
»Natürlich, wir sind doch Traumwandlerinnen!« Sie verdrehte die Amethystaugen. »Eigentlich könnten wir überall hin. Die anderen sagen, dass alles eine Frage von Wille und Zielorientierung ist. Man muss seinen Verstand leeren, bis nichts anderes mehr da ist, als der Gedanke an den Ort, wohin man will; dann träumt man sich dorthin. Wir könnten selbst die kleinsten Welten besuchen, aber die anderen haben gesagt, ich sollte das nicht versuchen, weil das gefährlich ist.«
Sie blinzelte verwirrt. »Die anderen? Wer sind die? Meinst du die Verlorenen? Weisst du all diese Dinge von ihnen?«
Nun kringelte die Kleine sich vor Lachen. »Neeeeein«, sagte sie gedehnt, als sie sich etwas beruhigt hatte. »Die anderen sind halt die anderen. Die wissen alles über alles. Ich sollte das auch, aber sie sagen, ich wäre noch zu klein, um es zu verstehen. Aber ich werde nicht älter, also wird es wohl so bleiben.«
Sabrina rieb sich die Schläfen. »Meine Güte, wenn ich doch nur einmal jemandem begegnete, der weiss, was eigentlich los ist und Klartext reden würde.« Sie liess die Hände sinken und musterte ihre Cousine, die in ihrem weissen, etwas zu grossen Kleidchen in all dem Schwarz leuchtete wie die Sonne über ihnen. »Du warst das, oder? Wegen dir bin ich jetzt hier.« Sie versuchte sich zu erinnern, was geschehen war, bevor sie hier aufgewacht war. »Du hast mir was ins Ohr geflüstert und auf einmal ... Du hast was mit mir gemacht!«
Schuldbewusst senkte Mondkind den Kopf, griff in eine der aufgenähten Taschen ihres Kleidchens und zog einen Sabrina wohlbekannten Traumfänger-Anhänger heraus. »Du hast doch was zu tun, Sabrina ...«
»Gib mir das!«, verlangte sie und streckte fordernd die Hand aus, doch da sprang Mondkind auf und rannte davon.
»Fang mich doch!«
»Hey! Bleib gefälligst stehen!«, rief sie der Kleinen nach, während sie sich eilig aufrappelte, um ihr nachzujagen.
Obwohl ihre Cousine noch so klein und zu allem Überfluss auch noch blind war, hatte sie ein ganz schönes Tempo drauf. Nachdem sie ihr mindestens fünf Minuten vergeblich hinterhergehetzt war, bekam sie sie endlich zu fassen, packte sie schnell unter den Armen und hob sie hoch, damit sie ihr ja nicht wieder entwischen konnte. »Her damit, verdammt nochmal!«, fluchte sie, doch da hob die Kleine beide Hände, spreizte alle zehn Finger und rief: »Verloren!«
Vor Schreck hätte sie ihre Cousine beinahe fallen gelassen. »Was?! Das kann doch nicht dein Ernst sein! Wo?«
»Weiss nicht. Irgendwo.«
»Grade eben?« Das Kleinkind noch immer in den Armen, drehte sie sich um sich selbst und liess den Blick über das schier endlose Feld streifen. Als würden die Gräser und Blumen verbergen wollen, wo sie eben gerannt waren, hatten sie sich bereits wieder zusammengebauscht. Keine Chance, das alles abzusuchen... »Oder etwa schon vorher?«
»Irgendwann«, gab die Kleine zu und nun musste Sabrina sich schon sehr zusammenreissen, ihr nicht irgendeine Beleidigung an den Kopf zu werfen oder ihr gar eine zu scheuern. Stattdessen setzte sie sie wieder ab.
»Toll. Wirklich toll«, fauchte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was soll denn der Scheiss, Mondkind? Warum hast du das gemacht?«
Sie streckte die Arme nach ihr aus, winkte sie näher heran und als Sabrina sich stöhnend zu ihr hinabbückte liess sie ihren Kopf beugen, sodass sie ihr die Mohnblumenkrone aufsetzen konnte, die sie noch immer bei sich hatte. Dann erklärte die Kleine fröhlich: »Weil du eine Aufgabe hast.«
Sabrina schob den Kranz zurecht und schnaubte. »Eine Aufgabe? Und die soll sein?«
Da holte Mondkind tief Luft und sinnierte feierlich: »Finde, was kein Schlüssel ist, Bruder misst, und dessen Fee, beides ist auf hoher See.«
»Was?« Irgendwie hatte sie das Bedürfnis, vor ihrer Cousine zurückzuweichen, doch sie widerstand dem Impuls und fragte stattdessen mit möglichst fester Stimme: »Woher weisst du von der Fee?«
Die Kleine lachte nur, machte auf dem blossen Absatz kehrt und rannte wieder durch die Wiese davon.
»Mondkind!«, rief sie ihr nach und wollte hinterher, doch auf einmal ... war sie verschwunden! »Mondkind?« Keine Antwort. Nichts. Nur Stille, Schwärze und leuchtend roter Mohn, wie Blut auf Kohle. »Mondkind!« Und sie rief ihren Namen wieder und wieder. »Mondkind!« Lange suchte sie nach dem Traumfänger in dem Feld, wurde aber nicht fündig. »Mondkind, wo?« Sie begann herumzuwandern. »Mondkind, wie?« Stunden, Tage... »Mondkind, bitte ...« Doch sie bekam keine Antwort und dieser schreckliche Traum endete nicht...


Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now