Kapitel 20 - Die Götter und die Gottlosen

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Kapitel 20

Die Götter und die Gottlosen


~Mile~
26. Moja 80'024 ☼IV – Aramesia, Jeshin, Twos

Ihre Kutsche holperte über das Pflaster. Draussen hörte man die Leute jubeln, denn ihr König hatte Kopf und Arm aus dem Fenster gestreckt, um ihnen zuzuwinken.
Eben zog Drosselbart sich wieder in die Kutsche zurück, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Vergnügt zwirbelte er seinen Bart, doch mit einem Mal liess er die Hand sinken und seine Miene verdüsterte sich.
»Was ist?«, fragte Mile, der diese Stimmungsschwankung beobachtet hatte. »Was geht dir durch den Kopf?«
Deron lächelte entschuldigend. »Ach, entschuldige, Junge. Ich hatte eben nur ein Déjà-vu. Als die Schwarze Armee das letzte Mal in Aramesia eintraf, war die Stimmung genauso euphorisch. Damals hatten wir um die Stadt noch nicht einmal kämpfen müssen, sie war noch unter Kontrolle der Rebellen, doch die Soldaten feierten mit den Einheimischen, als wäre unser Sieg über die Antagonisten bereits entschieden. Und nur wenige Monate später lag die Hälfte der Rebellen tot am Rande der Waldgärten von Wyr.« Der Rebellenkönig seufzte schwer und lehnte den Kopf an das Polster. »Es ist töricht, einen vergleichsweise unwichtigen Sieg wie diesen hier so zu feiern. Überhaupt ist es töricht, zu feiern! Wir haben Verluste zu beklagen, seit wir LaRuh verlassen haben. Wir mussten die Kiter-Flotte der Rastaban wegschicken, zwischen den Hybriden und den humanoiden Völkern – vor allem den Elfen – gibt es vermehrt Spannungen und wir haben ein zunehmendes Jethro-Problem!« Betrübt rieb er sich die müden Augen. »Ich hoffe nur, das uns das nicht noch um die Ohren fliegt.«
»Nicht doch«, redete Mile ihm gut zu, obwohl er bei der Erwähnung der Droge mit seinem Gewissen zu kämpfen hatte. »Wir schaffen das auch ohne diese Riesenechsen, die Hybriden sind hart im Nehmen und das mit dem Jethro ... da finden wir noch eine Lösung!«
»Oh Mile«, seufzte Drosselbart. »Ich habe euch Lichterlords schon immer um euren unerschütterlichen Optimismus beneidet.«
Mile musste sich bemühen, nicht auf seine Lippe zu beissen, woran Sabrina ihn jedes Mal beim Lügen ertappte. Grund für diesen Drang war, dass sein Trupp Drosselbart nicht verraten hatte, dass Maestro Geppetto jethroabhängig war. Niemandem hatten sie es erzählt, denn es bestand die Gefahr, dass man dem Scopter sonst seinen Sohn weggenommen hätte und Ann-Susann Bonnair wäre ziemlich sicher bestraft worden. Somit hatte sich der Trupp des Westtors darauf geeinigt, dass es ein Geheimnis bleiben würde. Gretel hatte die Anmerkung fallen lassen, dass ihr die Sache ohnehin komplett am Arsch vorbei ging, Rosanna schien tatsächlich so was wie Verständnis für den Scopter zu haben und Sookie wie auch Jilvas Tochter Jessie – die ihrer Mutter in Menschengestalt tatsächlich sehr ähnlich sah – hatten nur darauf bestanden, dass Geppetto einen Entzug machte. Der Kreis schloss sich, indem Ann-Susann angeboten hatte, für Letzteres zu sorgen, da auch dies zur Ausbildung einer Medici gehörte. Somit war der Scopter in Behandlung der Frau, die ihn überhaupt erst von der Droge abhängig gemacht hatte. Das mochte auf den ersten Blick unverantwortlich wirken, doch es gab der jungen Vampirin die Möglichkeit, ihre Schuld wiedergutzumachen. Zudem lenkte es sie von Frederick de Montos Tod und ihrem gebrochenen Herzen ab. Bei Vampiren wirkte die Droge ohnehin nicht, also war ein Interessenkonflikt ausgeschlossen.
Der einzige grosse Nachteil war somit, dass Geppetto offiziell noch immer die Kutsche des Rebellenkönigs fahren durfte. Zwar hatte man Mile versichert, dass das Jethro sich nicht gross auf die Motorik auswirkte, doch die Erinnerungen an seinen eigenen Rausch liessen ihn zweifeln.
Trotzdem erreichten Rebellenkönig und Lichterlord gesund und munter ihr Ziel: Der Eingang der Gefängniskatakomben Aramesias.

Der Treppenaufgang, der nicht weit vom Aramsdom zu finden war, wurde stark bewacht. Die Gardisten salutierten und liessen Drosselbart und Mile vorbei, sodass sie die Treppe hinabsteigen konnten, die in den Teil des Tunnelsystems der Stadt führten, der als einziger nicht als Weinkeller genutzt wurde.
Hier unten war alles mit schwarzem Gestein ausgekleidet. Das war Obsidian, Mile wusste das instinktiv, denn sobald er zusammen mit Drosselbart und gefolgt von ihren Gardisten das Treppengewölbe betrat, konnte er die immerwährende Glut in sich ersticken spüren und das war ein scheussliches Gefühl.
Die Stufen führten in breite, von Fackeln und Wyrselsteinen erhellte Flure, in deren Wände in regelmässigen Abständen Zellen eingelassen waren. Nur wenige waren besetzt, Anuq hatte kaum Graue übriggelassen. Nur hier und da wurde einer entdeckt, der sich in einem der Hochhäuser verbarrikadiert oder in dunklen Winkeln verwinkelter, enger Gassen versteckt hatte. Deshalb musste man auf sich achtgeben, wenn man allein in Aramesia unterwegs war.
Die meisten der überlebenden Grauen waren Menschen, vereinzelt Elfen oder Zwerge und hauptsätzlich Soldaten Midas' Armee mit dem goldenen Handsymbol auf dem Gambeson. Einstige Waisenkinder, die Rumpelstilzchen alias Omino di Burro alias Midas o'Mooneys Locken gefolgt und sich den Antagonisten angeschlossen hatten. All diese verblendeten Kreaturen in Grau brachten sie hier unten hinter Gitter, in der Hoffnung, Informationen aus ihnen herauszubekommen, jedoch ohne Erfolg. Vor allem Midas' Adoptivkinder schwiegen. Nicht aus einem war ein Wort rauszubekommen und selbst die Lauscher hatten Schwierigkeiten damit, ihnen in die Köpfe einzudringen. Viele von ihnen wussten, wie sie sich Telepathie widersetzen konnten und bei den übrigen, hatte der Einsatz der Lauscher keine Durchbrüche erzielt.
Diese Soldaten waren von klein auf darauf gedrillt worden, das Gute zu jagen und zu töten und als sie nun an den Gittertüren vorbeischritten, spürte Mile die kalten Blicke der grauen Männer und Frauen auf sich.
Was wäre geschehen, wären Eira und Ignatz nicht nach Modo geflohen? Wenn Sabrina und er ohne ein Pflegekindersystem, ohne jemanden wie den Pater hätten aufwachsen müssen ... Sie wären Waisen in Twos gewesen, wie diese Soldaten. Ob auch sie sich in ihrer Verzweiflung den Antagonisten angeschlossen hätten? Oder hätte jemand der Guten sie vorher gefunden und sie zur Schwarzen Armee gebracht? Unvorstellbar, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte Eira ihre Kinder in diese Welt geboren ...
Je tiefer sie in die Katakomben vordrangen, desto feuchter und modriger wurde die Luft. Immer öfter sah Mile Ratten durch die Gitterstäbe huschen, ihr fiepen hallte von den schwarzen Wänden wider. Die Nager waren wegen Feivel hier, die Biester scharten sich um ihn wie Ameisen um ihre Königin.
Als sie die Zelle des Rattenfängers von Hameln erreichten, hatten sich davor die übrigen Ratsmitglieder bereits eingefunden. Sie wurden mit einem synchronen Nicken begrüsst, nur Rosanna, die neben ihrem Vater, der den Kopf einziehen musste, um ihn sich nicht an der Decke zu stossen, an der Wand lehnte, kommentierte ihre Ankunft mit einem abfälligen Schnauben.
»Ihr seid spät dran«, grollte eine tiefe Stimme rechts von ihnen. Der Animanorenkönig schob sich aus dem Schatten und schob zur Begrüssung den grossen Schädel unter Drosselbarts Hand.
Deron fuhr ihm durch die ergrauende Mähne und zwinkerte Löwenherz zu. »Schlechte Angewohnheit.«
»Seht Euch das an, Drosselbart!«, rief ihnen Orion entgegen, während sie sich zu den übrigen Monarchen und Generälen gesellten. »Der Obsidian ist nur Teilweise gemauert und gefliest worden. Teile sind aus dem natürlichen Steinvorkommen geschliffen, ähnlich wie die Zwerge es mit ihren Städten zu tun pflege. - Hier zum Beispiel.« Der Zwergenkönig stand ganz fasziniert an der Wand des Katakombengangs und strich mit den wulstigen Fingern über das schwarze Gestein. Nun drückte er das Ohr auf den Obsidian, klopfte mit den Fingerknöcheln dagegen und lauschte, als könnte er das Echo im Stein verklingen hören. Dem schien auch so, denn als er sich wieder von der Wand löste, leuchteten die dunklen Augen und aufgeregt brummte er: »Überall unter der Stadt finden sich riesige Obsidianadern!«
»Das konntet Ihr hören, als Ihr an die Wand geklopft habt?«, nahm die ungläubig dreinblickende Jilva Frihir Mile das Fragen ab.
Der Grosskönig nickte stolz. »So hat Jaeeli uns geschaffen«, knurrte er und strich sich über den Bart. Wieder an Drosselbart gewandt, fuhr er fort: »Das ist ungewöhnlich! Obsidian kommt sonst nur im Schwarzen Berg und entlang der westlichen bis südwestlichen Küsten vor.« Er machte eine Pause und deutete auf die Lodbrocks. »In Guerrael beispielsweise auch.« Er liess den Arm sinken und wog den Kopf. »Vereinzelt in der Goldwüste Aurea und vermutlich auch auf Etamin. Aber hier? Im Tiefland macht das keinen Sinn!«
»Könnte er nicht durch den Sturz des Mondes entstanden sein?«, schlug Ikarus vor. »Das könnte doch auch in diesem Gebiet vulkanische Aktivitäten ausgelöst haben.«
Der Zwerg zuckte die Schultern. »Onwas Fall? Könnte sein ...«
»Dies ist wohl kaum von Priorität. Wir sollten uns nun dem widmen, weshalb wir wirklich hier sind«, bemerkte Königin Amiéle spitz, raffte ihr Seidenkleid, schürzte die Lippen und scheuchte einen der Gardisten zur Zelltür, damit er sie aufschloss.

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterOnde histórias criam vida. Descubra agora