Kapitel 24 - Atem

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Kapitel 24

Atem


~Mile~
3. Jomiko 80'024 IV – Mondtal, Jeshin, Twos

Keiner von ihnen verhielt sich wie ein ehrwürdiger Herrscher, als sie einander entgegenrannten und heulend in die Arme fielen.
Mile packte seine Schwester unter den Armen und wirbelte sie herum, so wie es Vater früher und später immer nur er mit ihr getan hatte. Sie schien etwas sagen zu wollen, genau wie er, doch sie konnte nicht vor lauter Lachen, genau wie er.
Irgendwann setzte er sie wieder auf die Füsse, doch sie beide fielen vor Schwindel hin, woraufhin sie noch mehr lachen mussten.
»Sabrina, Sabrina!«, rief er, noch immer kichernd. »Sieh nur, wie gross du geworden bist!«
Sabrina hielt sich den Bauch und blinzelte verwirrt an sich herab.
Nun grölte Mile los. »Oh, da habe ich mich wohl getäuscht. Bist noch immer ein Knirps!«
»Ah, du Blödian!«, rief sie und knuffte ihm in die Seite, sodass er nach Luft ringen musste. »Blödian, Blödian, Blödian!«
Er wand sich unter ihr. »Halt! Lass Gnade walten! Du bringst mich um!«
Da hielt sie mit einem Mal inne und zog sich zurück.
Verwundert sah er auf. Sofort merkte er, dass etwas nicht stimmte.
Sie hatte diesen Blick drauf. Den, den sie immer hatte, wenn gerade irgendwas besonders scheisse war. Ein Blick, der von ihrer langen, beschwerlichen Reise berichtete.
»Ich hab dich so verdammt vermisst.« Sie wog den Kopf und nun lächelte sie matt. »Manchmal, meine ich natürlich.«
Er zog sie an sich und drückte sie so fest er konnte, bis sie protestierte. »Ich dich auch ... ab und zu.«
Erst jetzt bemerkte Mile die Soldaten, die sich neben ihnen postiert hatten. Die Realität drängte sich den Geschwistern auf und ihrem Wiedersehen wurde ein Ende geboten.
»Sabrina! Willkommen zurück, mein Kind!«, donnerte ihnen Drosselbarts Tenor entgegen. Gefolgt von einigen Soldaten, darunter auch der aufgeregt mit den Schnurrhaaren zuckende Floyd, stapfte er zu ihnen herab. Eine Wand übriger Gardisten schirmte die Fluten Rebellen vor ihnen ab, die dem König und Mile aus dem Stadttor gefolgt waren.
Eilig rappelten sich die Geschwister aus dem Kies des Ufers des Onwasees, in dem die gewaltige Galeone gelandet war. Mit kleinen Booten waren einige der Neuankömmlinge an den steinigen Strand gerudert, wohl nicht die gesamte Besatzung des Schiffs, es wirkte mehr wie ein bunter Haufen aus Kindern, einigen zerlumpten Jugendlichen und einer Handvoll Seeleute. In ihren semiontischen Nachrichten hatte Sabrina ihnen zwar verschlüsselte Hinweise darauf gegeben, wer ihre neuen Verbündeten waren, doch nun, da sie vor ihm standen, war Mile schon recht skeptisch. Dafür freute er sich, Hänsel und den Hutmacher wiederzusehen.
Sabrina liess sich in eine herzhafte Umarmung Drosselbarts schliessen.
»Schön, dich zu sehen, Deron!«, sagte sie fröhlich und lächelte den Rebellenkönig an. »Und Euch natürlich auch, Meister Murr«, fügte sie hinzu und bückte sich hinab, um Floyd die Pfote zu schütteln, was diesen zufrieden schnurren liess. »Darf ich euch vorstellen?«, rief Sabrina dann und wandte sich ihrer eigenen Gefolgschaft um. »Zum einen haben wir hier die einstigen Verlorenen, darunter auch Miles und meine Cousins und Cousine, die Sonnenprinzen- und Prinzessin – die Kinder unseres Onkels.« Eine Reihe dunkelhäutiger Jungs und junger Männer, in der auch ein ungewöhnlich weisser Junge mit einem Kleinkind auf dem Arm stand, beugten den Kopf. »Das sind Nimmertiger, Schattenkrieger, Nachtauge, Regenherz, Lichterfänger, Stilletänzer, Nebelfinger und Mondkind. Sie gehörten einst zu den Verlorenen, aber ich habe sie begnadigt.«
Mile musterte seine Verwandten interessiert, runzelte jedoch die Stirn wegen der seltsamen Namen. Tatsächlich fielen ihm vereinzelt Ähnlichkeiten zu dem alten Tobi Tallo auf. Er verdächtigte diesen ja schon seit Red ihm zum ersten Mal von seinem verschollenen Onkel, dem Sonnenkönig, erzählt hatte, dass auch er aus Twos stammte.
Sabrina fuhr munter fort: »Die Kinder gehörten zu ihnen. Das sind Wendy, John und Michael Darling. Da oben schwebt Peter Pan – ja genau der. Die anderen sind die Verlorenen Jungs Amadeus, Wolke, Bolle, Murmel, Knochen und Knopf. Und der düstere Seebär dort drüben ist Bernard Fokke, der Fliegende Holländer.«
Mile blinzelte verwirrt wegen der vielen neuen und überaus ungewöhnlichen Namen. Als er sich nach seiner Schwester umwandte, zuckte die nur die Schultern und flüsterte: »Man gewöhnt sich dran.«
Der grösste und scheinbar auch älteste seiner Cousins trat vor und verbeugte sich tief vor Drosselbart. »Ihr mögt Euch vielleicht an den Namen erinnern, den mein Vater mir einst gab, Majestät«, sprach er den Rebellenkönig an. »Ich bin Prinz Prim von Geysiria und dies sind meine Geschwister und mein Gefolge.« Er wies auf den Haufen lumpiger Kinder und den Holländer, während er fortfuhr. »Ich erhebe keinen Anspruch auf das Recht meiner Krone. Ein Fluch lastet auf mir und meinen Geschwistern, ich weiss, wie uns das in der Gesellschaft einordnen wird. Dennoch will ich nur Rüstung und Schwert, um in Eurer Armee zu dienen. Dank des Freispruchs der Eisprinzessin wurden wir von unserer Schuld erlöst. Somit haben wir die Freiheit, Euch unsere Bitte zu unterbreiten, uns einstige Verlorene bei den Rebellen aufzunehmen, sodass wir Euch im Kampf gegen die Antagonisten beistehen können.«
Der Rebellenkönig musterte den jungen Mann mit dem goldenen Ring durch die Nase und der aufrichtigen, ein wenig gebieterischen, aber dennoch respektvollen Haltung. »Wir haben jedes Kind unter dem Alter von sechzehn Jahren in unserer Basis zurückgelassen. Kinder sollten nicht in Kriegen kämpfen.«
»Mit Verlaub«, setzte Nimmertiger an, ihm zu widersprechen. »Wir sind allesamt Tintenwesen und älter als jeder sterbliche Greis. Lasst die, die alt genug sind, das Schwarz tragen und die Übrigen ihren Beitrag mit Blut leisten.«
Deron schien eine Weile nachzudenken, doch schliesslich nickte er. »So sei es. Doch jedes Kind, das sich nicht zu verteidigen weiss, werde ich mit Geleit nach Turdus zurücksenden, bevor wir Aramesia verlassen und weiterziehen. Mein endgültiges Urteil werde ich sprechen, sobald ihr alle einer Lauscherprüfung unterzogen wurdet.«
Das schien Nimmertiger zu genügen, denn erneut senkte er den Kopf mit den kurzen Dreadlocks und schritt zurück in die Reihen seiner Brüder.
Nun meldete Sabrina sich wieder zu Wort. Als ihr Cousin gesprochen hatte, war ihre Miene ein wenige säuerlich gewesen, doch nun glätteten sich ihre Züge. Sie deutete auf eine kleinere Gruppe der Piraten.
Die der Crew des Schiffs angehörigen Männer und Frauen schienen sich nicht recht wohl zu fühlen. Sie wirkten mit ihren Holzbeinen und Augenklappen auch ein wenig fehl am Platz.
»Das sind der Bootsmann Smee, der Quartiermeister Ed Teynte, die Matrosen Kurzer Karl und Alf Mason und die Kanoniere Bill Jukes und Robert Mullins – einige der Piraten der Jolly Roger. Und das«, sie winkte einen der Himmelspiraten zu sich heran, »ist ihr Kapitän. Käpt'n Falk James Jesper Hook.«
Zögernd löste sich der berühmte Käpt'n Hook aus dem Schutz seiner Leute, sodass Mile ihn besser mustern konnte.
Er schien in seinem Alter zu sein, wenn sein Bartwuchs sichtlich erfolgreicher war, als der kümmerliche orangene Flaum, den er sich alle Tage abrasieren musste. Sein Gesicht war scharf geschnitten und hatte weit abstehende Segelohren, was nur noch mehr auffiel, da er sich die schwarzen Locken im Nacken zusammengebunden hatte. Seine Augen waren irritierend Blau, als trage er Kontaktlinsen. Das liess sich jedoch schnell ausschliessen, denn Mile beobachtete, wie die Iriden des Piraten mit jedem Schritt, den er auf sie zutat, dunkler wurden. Das konnten keine Linsen sein, da steckte irgendwas Magisches dahinter.
»Seid gegrüsst«, brummte Käpt'n Hook mit rauer Stimme und verbeugte sich noch tiefer als Nimmertiger. Der Haken an seiner Rechten blitzte in der hellen Morgensonne.
»Seid gegrüsst«, antworteten Drosselbart und Mile und warteten neugierig darauf, was der Pirat zu sagen hatte.
Hook schenkte Sabrina einen verhaltenen Seitenblick, die ihm daraufhin kaum merklich zunickte. Mile entging es dennoch nicht.
»Auch ich masse mir an, dieselbe Bitte für mich und meine Crew vorzubringen«, erklärte der Kapitän langsam. »Auch wir erhielten eine Freisprechung Sabrinas – der Eisprinzessin, meinte ich.« Kurz hielt er inne, dann straffte er die Schultern. »Niemand von uns ist ein Prinz oder eine Prinzessin. Wir sind Piraten, Eure Majestät. Unser Schicksal war das Kapern und Entern und Brandschatzen, wir sind Diebe, Räuber – Die Antagonisten unserer Geschichten. Doch wir sind dem Gott Kaitou treu, nicht dem herzlosen Nalin. Wir erbitten eine Chance, um unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Wir wollen der Schwarzen Armee beitreten!«
Alle Augen richteten sich auf Drosselbart, der sich nachdenklich am Kinn kratzte und den Blick über die Piraten wandern liess. »Ihr wollt die Seiten wechseln?«
Hook nickte. »Aye!«
Der König verengte die Augen. »Die gesamte Crew?«
Wieder nickte der Pirat. »Aye. Ich habe mit jedem gesprochen, vom Pulverjungen bis zum Rigger. Jeder ist bereit, unter dem Wappen der Rebellen zu segeln. Meine Leute vertrauen mir, sie würden mir in den Tod folgen.«
»Und warum?«, wollte Deron mit strenger Stimme wissen.
Der Blick des Piraten flackerte, er schien nervös zu werden. »Wie meint Ihr?«
»Warum wollt Ihr die Seiten wechseln?«, erklärte Drosselbart seine Frage ruhig. »Ihr müsst wissen, Pirat, wir nehmen keine Söldner auf. Wer sich der Schwarzen Armee anschliesst, tut dies aus Überzeugung.«
»Es geht uns nicht ums Gold, Majestät«, versicherte der Pirat. Nun warf er einen Blick über die Schulter zu seinen Leuten. »Niemand von uns hat sich sein Schicksal ausgesucht. Wir sind keine bösen Menschen. Wir folgten den Pfaden, die das Schicksal bestimmt hatte.« Er langte sich in den Kragen seines Hemdes, was die Gardisten um sie herum ihre Armbrüste fester fassen liess. Doch als der Pirat die Hand wieder hob, entspannten sie sich wieder, den zwischen seinen Fingern baumelte nur ein silbernes Kettchen mit einem Dreiecksanhänger, der mit dem Netz einer Spinne gefüllt war. »Ich bin Fatuit«, erklärte Hook und bettete das Schmuckstück auf seiner Brust. »Ich bin willens, mein Schicksal zu erfüllen, was es auch sein möge. Und doch hoffe ich, dass ich nicht länger auf der Seite der Nacht stehen muss.« Er umfasste seinen Haken. »Ich kann nicht mehr tun, als um Vergebung zu bitten und versuchen, meine Sünden wieder gut zu machen. Ob ich heute diesen Schritt tun kann, liegt in Euren Händen, Majestät.«
Drosselbart hatte ihm zugehört, wie nur er vermochte, den Menschen zuzuhören und als Hook geendet hatte, liess er die Stille für einen Moment verweilen, gefüllt vom Rauschen des Sees und den Rufen der Rebellen in ihrem Rücken. Nur ein lautes »Pha« störte sie, was Drosselbart nicht ablenken, Mile hingegen den Kopf in die Richtung drehen liess, aus der der abfällige Laut gekommen war. Er identifizierte den über den Köpfen der übrigen Verlorenen schwebenden Peter Pan als den Übeltäter.
›Klar‹, dachte Mile. ›Peter Pan kann kaum etwas Gutes an Käpt'n Hook finden.‹
Endlich nickte der Rebellenkönig, denn er hatte eine Entscheidung gefällt. »Natürlich werdet Ihr und Eure Crew sich wie die Verlorenen, die sich uns anschliessen wollen, der Prüfung eines Lauschers unterziehen, doch wenn ihr diese besteht, sehe ich keinen Grund, euch nicht das Schwarz der Rebellen tragen zu lassen! Bis dahin dürft Ihr Eure Galeone im Hafen Aramesias anlegen lassen, Käpt'n.«
»Yes!«, hörte Mile seine Schwester neben sich im Flüsterton jubeln und auch der Kapitän der Jolly Roger schien aufzuatmen. Sofort wirkten seine Augen heller. Als könne er es nicht recht wahrhaben, fragte er unsicher: »Bedeutet das-«
Drosselbart nickte. »Ich glaube Euch, Pirat.«


Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now