Kapitel 21 - Das verkaufte Schicksal

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Kapitel 21

Das verkaufte Schicksal


~Mile~
27. Moja 80'024 ☼IV - Aramesia, Jeshin, Twos

Er hatte Stunden gebraucht, um aus dem verdammten Schacht zu klettern. Zerschrammt und müde hatte er sich über die Kante gefalzt, jedoch erfüllt von wütendem Tatendrang. Oskar war unterdessen wieder zum Wolf geworden und Floyd hatte, nachdem er von Mord und Mörder erfahren hatte, sofort den Schwanz eingezogen und wimmernd geschworen, auf keinen Fall gegen Dougal auszusagen. Man legte sich nicht mit einem Lauscher an. Er veranlasste zwar, dass sich Feivels Ermordung herumsprach und auch Drosselbart davon erfuhr, doch alles andere überliess er Mile.
Dem war das nur recht. Es war nur eine weitere Chance, sich zu beweisen. Er würde Dougal überführen. Diesen Verräter würde nicht entkommen lassen, auf keinen Fall!
Pünktlich zur täglichen Sitzung war er ins Rathaus zurückgekehrt.
Es wurde nicht von ihm erwartet, jeder der Sitzungen in dem stickigen Zimmer im Rathaus beizuwohnen, wo sie sich jeden Tag an einem runden Tisch versammelten. Hier zu sein, war für Mile ohnehin mehr eine Studie, als dass er etwas dazu beitragen könnte, doch er versuchte, so oft wie möglich zu gehen. Die Rebellenanführer sprachen viel über Heerführung, Truppenbewegung und Angriffsstrategien, um Tempus einzunehmen. Vermehrt ging es auch darum, wie sie ihre Reise fortsetzen wollten, denn vor allem die Waldgärten von Wyr, die zwischen den Holen Hügeln und dem Fluss Dalit lagen, grub tiefe Sorgenfalten in die Gesichter einiger Ratsmitglieder.
Was heute auf dem Traktandenplan stand, war Mile schnurzpiepegal, er wollte nur eines auf den Tisch bringen, konnte es kaum erwarten.
Kaum hatte Drosselbart die Runde damit eröffnet, der Versammlung die Nachricht von Feivels Ermordung zu überbringen, wollte er den Mund aufmachen, aufspringen, anklagend auf den Geist zeigend, der zur Sitzung erschienen war, als wäre nichts geschehen, doch ... Mile konnte nicht. Seine Glieder gehorchten ihm nicht, seine Lippen liessen sich nicht bewegen, er war eingeschlossen in seinem Körper, unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen.
Und da blickte Dougal ihn an, die glühendroten Augen blitzten amüsiert.
›Du!‹, dachte Mile. ›Er macht dasselbe mit mir, was er mit den Wachen gemacht hat!‹
›Entspannt Euch, Mylord‹, säuselte Dougals Stimme in seinem Kopf. ›Ich sagte doch, Ihr solltet lieber vergessen, was Ihr gesehen habt.‹
»Wissen wir, wer es war?«, erkundige sich eben König Orion, der sich betroffen durch den Bart fuhr.
»Eine der Wachen«, seufzte Deron. Die Unruhe trieb ihn auf die Füsse und der Anführer der Rebellen begann langsam im Sitzungszimmer auf und ab zu tigern. »Er war von Geburt an ein Rebell, ist in LaRuh geboren worden. Es ist erschreckend, wie lang die Fühler der Antagonisten sind, dass sie einen wie ihn haben umdrehen können ...«
»Aber warum?«, fragte Rosanna und beugte sich tiefer über den Tisch, um besser in die Runde blicken zu können. »Warum sollten sie ihn umbringen wollen? Er wusste doch nichts, das hat Dougal doch abgeklärt.« Die Barbarentochter verengte die Augen zu Schlitzen und sah zu dem Geist auf. »Dem ist doch so, oder?«
Ausnahmsweise war Mile ganz auf Rosannas Seite.
Dougal ahmte ihre Miene nach. »So ist es!«, knurrte er und liess seine Ketten klirren.
»Ich will hier kein böses Blut, nicht während der Sitzungen, ja?«, mischte sich Drosselbart ein und stellte sich hinter den Geist. »Dougal geniesst mein vollstes Vertrauen.«
Hätte er gekonnt, hätte Mile laut aufgestöhnt, doch natürlich ging das nicht. Oh, wie er diesen Geist gerade hasste! Mile wollte toben, in Raserei verfallen, den Lauscher angreifen, ihm eine Feuerwand entgegenfahren lassen, doch er konnte nicht brennen, selbst das konnte Dougal steuern ...
Mit einem Mal kam Mile ein Gedanke, der ihn, wäre er nicht bereits erstarrt, vor Schreck gelähmt hätte. Wenn Dougal ein Verräter war und er sein Feuer kontrollieren konnte, was hielt ihn davon ab, das Rathaus mitsamt seiner Bewohner abzufackeln?
›Nicht doch, junger Lord‹, erklang es da wieder in seinem Kopf. ›Ich bin kein Feind der Rebellen.‹
Mile kochte. ›Und was seid Ihr dann?‹
›Die Vernunft, mein Herrscher, die Vernunft ...‹
»Aber meines nicht«, fauchte nun Königin Amiéle und warf schwungvoll das mahagonirote Haar zurück. »Seid Ihr sicher, dass Ihr Euren Geist im Griff habt, Drosselbart?«
Der Rebellenkönig nickte entschieden. »Wir können ihm trauen. Er hat nur das Beste für uns im Sinn.«
»Wundervoll«, knurrte Jilva und fuhr sich übers Gesicht. »Und was werden wir nun unternehmen? Sollen wir erneut alle Gardisten von einem Lauscher untersuchen lassen?«
»Das wäre Zeitverschwendung«, knurrte Azzarro, dem das Stadtleben schlechte Laune bereitete. »Lieber sollten wir uns darauf konzentrieren, dass wir in Tempus ankommen. Die Waldgärten von Wyr und was in ihnen lauert, bereiten mir viel mehr Kopfschmerzen als der Tod eines Mannes, der ohnehin unser Feind war.«
»Vielleicht habt ihr recht«, seufzte Drosselbart. »Die Toten lassen sich nicht wieder zum Leben erwecken, also sollten wir uns lieber auf das Wohl der Lebenden konzentrieren. Beginnen wir mit dem nächsten Traktandum: Die Waldgärten von Wyr.«
»Häuptling Azzarro hat einen guten Punkt genannt«, begann Muhme Trude. Sich gemütlich in ihrem Schaukelstuhl neben dem Kamin wiegend, liess sie ihre Stricknadeln klappern. Was sie da Masche um Masche entstehen liess, war noch nicht zu erkennen. »Die Waldgärten von Wyr sind ein Habitat für die exotischsten Kreaturen und die wenigsten davon gelten als freundlich.«
»Meines Wissens wird dieses Gebiet auch gern als ›Hexenwald‹ bezeichnet«, stichelte Ikarus und grinste frech in Trudes Richtung.
Die Alte liess ihr Strickzeug sinken. »Das stimmt, törichter Bengel. Und wisst ihr auch, warum das so ist?«
»Weil die Waldgärten Domizil vieler bösartiger Hexen und Magier war«, beantwortete Agaue Fluc die Frage mit perlender Stimme. »Sind sie nicht sogar nach einem dieser Schwarzmagier benannt?«
Trude, die sich zurück in ihre Rolle als Dozentin an der Akademie Lexikas versetzt zu fühlen schien, richtete sich so weit auf, wie es ihr Buckel erlaubte. »Stimmt genau, meine liebe«, krächzte sie. »Vesemir Wyrsel war ein Schwarzmagier, ein Kind Zillas, dennoch hat er in den Waldgärten etwas entdeckt, was uns allen zugutekommt: Die Wyrselsteine. Er war es, der ihre Lumineszenz entdeckte und sie zu züchten begann. Ein äusserst begabter Magier, nur huldigte er leider der falschen Magiegöttin ...«
›Ich lasse Euch los‹, hallte Dougals Stimme wieder durch Miles Kopf. ›Ihr seid frei, solange Ihr nicht vorhabt, eine Dummheit zu begehen, junger Lord. Und ich weiss es, wenn Ihr es erneut versuchen solltet. Schliesslich kann ich Gedanken lesen ...‹
Es fühlte sich an, als würde ein Film über seine Haut gezogen werden, wie eine unsichtbare zweite Haut, die ihn umschlossen hatte und nun von ihm abfiel. Augenblicklich holte Mile Luft und liess die Schultern kreisen.
Rosanna, die das natürlich beobachtet hatte, sah ihn schräg von der Seite an und rümpfte die Nase, ersparte ihm jedoch einen dummen Kommentar.
»Euer Bedenken ist nicht unverdient, jedoch bleibt uns nichts anderes übrig«, erklärte Löwenherz der Runde. »Durch die Waldgärten von Wyr ist der direkteste Weg. Im Westen liegt Ularsar, das sich den Antagonisten freiwillig angeschlossen hat - wir können dort also kaum Sympathien der Bevölkerung erwarten - und im Osten beginnen die Finnbarro Om'agris.«
»Das wäre kein Problem, würden die Elfen nicht so ein Geschiss machen ...«, knurrte Orion und liess streitlustig die Knöchel seiner groben Faust knacken.
»Die Elfen machen gar nichts«, fauchte Amiéle und verengte die Augen zu Schlitzen. »Om'agri ist neutrales Terrain. Kein anderes Heer, ausgenommen der Quari, wird diese Wälder betreten. So war das schon immer und so wird es auch bleiben!«
»Nicht zu fassen, nicht zu fassen«, brummte der Zwergenkönig und schüttelte den Kopf. »Einmal mehr müssen die Elfen dem Wohl der Mehrheit erhaben sein.«
Zustimmendes Gemurmel wurde laut und Amiéles Puppengesicht wurde fast so dunkelrot wie ihr Haar.
»Aufhören! Schluss damit!«, donnerte da der König der Rebellen mit einem Mal und augenblicklich verstummte das Getuschel. »Die Schwarze Armee ist ein Bund vieler verschiedener Völker und Spezies. Wir können keine Streitereien untereinander gebrauchen!« Er wandte sich an Amiéle. »So sehr auch ich mir wünschte, dass Ihr diese alten Gesetze Eures Volkes ausser Acht lassen würdet für eine so wichtige Situation wie diese, habt Ihr dieses Recht natürlich. Dennoch möchte ich euch ermahnen, dieselbe Umsicht zu haben, wenn es um die Konflikte Eures Volks mit den Hybriden geht.«
Die Elfenkönigin verdrehte die Augen. »Was soll ich machen, Drosselbart? Blut zu mischen ist gegen die Philosophie meines Volkes.«
»Pha, das sind doch einfach nur Rassisten«, zischte Ikarus seiner Freundin Jilva zu, doch die Elfe hatte gute Ohren.
»Sagt ausgerechnet der, dessen Volk kaum eine andere Rasse als die Menschen an seiner Universität studieren lässt«, fauchte Amiéle und ihre mit Kohle umrahmten Augen funkelten gefährlich. Sie hatte nicht die Statur einer Quari, doch Mile würde darauf wetten, dass sie einem trotzdem sehr gefährlich werden konnte. Als Feindin würde er sie nicht wollen.
Ikarus schien die Elfenkönigin kaum zu beeindrucken. »Wir nehmen Elfen bei uns auf, aber nur die, die Ihr nicht auf Eure Bäume lasst. Die Differenz- und Äthermagie war immer schon Werkzeug derer, die lieber ihren Verstand anstelle von Gewalt nutzen.«
»Bitte!«, schnaubte, die Elfe und stand abrupt von ihrem Stuhl auf. »Wer lieber die Creatr'gwey in dieser Runde sehen würde, als das Elfenvolk, kann das haben!« Mit rauchenden Gewändern verliess sie das Zimmer.
»Creatr-was?«, fragte Mile, während sie den Staubflocken zusahen, die das energische Zuwerfen der Tür aufgewirbelt hatte. Er hatte dieses Wort schon einmal gehört ... Diese Wache, die Red damals nicht nach LaRuh einlassen wollte, hatte es ebenfalls benutzt. Ihrer darauffolgenden Reaktion zu urteilen, konnte es sich kaum um ein Kompliment handeln.
»Dieses Wort ist verboten«, knurrte Drosselbart verärgert, den strengen Blick über die Versammelten schweifen lassend. »So bezeichnen die Elfen die Hybriden. Wörtlich bedeutet es ›Nie-Kreatur‹. Verstehen lässt es sich als Bezeichnung für ein Wesen, dessen Existenz als Frevel gilt.«
»Unrein«, ergänzte Löwenherz. »Das Gegenteil der elfischen Werte, die sich sehr auf ihre Cith'salri - die Reinblütigkeit - konzentrieren.«
»Ich habe dieses Wort schon lange niemanden mehr sagen hören«, plätscherte Agaue Fluc leise und strich sich beklommen über die Perlmutthaut ihrer nackten Oberarme.
»Da müsst Ihr Euch in gehobeneren Kreisen als ich bewegen«, seufzte Ikarus. »Auf den Strassen ist es wieder Alltag geworden. Bei den Elfen sicherlich am schlimmsten, doch auch die Werwölfe, die Menschen und gelegentlich auch die Zwerge bedienen sich vermehrt diesem Vokabular. Da habe ich auch schon ab und an das Wort ›Azblaka‹ aufschnappen müssen. Das ist noch eine Stufe übler. - Bedeutet so viel wie ›Bestie‹!«
»Woran liegt das nur?«, seufzte Drosselbart und fuhr sich müde übers Gesicht.
»Na ja ...«, machte Azzarro dunkel und wog den Kopf. »Soweit ich das beurteilen kann, wegen ihm hier ...«
Zu Miles Überraschung lag der stechende Blick der kleinen Augen des Häuptlings auf ihm.
»Wie bitte?«, fragte er entgeistert und hob die Hände. »Was soll ich denn-«
»Wegen der Frau«, unterbrach ihn Rosanna genervt. »Die mit den Silberaugen und der weissen Strähne.«
Da wurde ihm ganz anders. »R-Red?«
Jilva knurrte wissend. »Red Farkash. Die Kleine mit Wolfs- und Menschenblut. Die rote Deserteurin.«
»Eine Deserteurin?«, rief Azzarro und verschluckte sich beinahe dabei. »Möge Junaid sie verfluchen!«
»Ihre Reputation ist wahrlich nicht die beste«, gab Löwenherz zu.
»Schluss damit!«, verlangte Mile entrüstet. »Red wurde begnadigt. Und ... alles andere geht niemanden was an!« ›Sie ist mein Schicksal, sie steht in meiner Prophezeiung, schwarz auf weiss, also wagt nicht, euch zwischen uns zu stellen!‹
»Vielleicht solltet Ihr Euch eine Weile lang ... nicht mehr öffentlich mit ihr blicken lassen ...«, schlug Muhme Trude vor.
»N-nein!« Mile schüttelte den Kopf aufs Heftigste. »Ganz bestimmt nicht!«
»Nur bis sich die Wogen glätten«, versuchte es Ikarus.
»Das ist doch einfach nicht gerechtfertigt!«, schnaubte Mile. Er musste daran denken, wie Red, wann immer sie sich in der Öffentlichkeit zeigte, sich ihre Kapuze ins Gesicht zog, damit man sie nicht gleich erkannte. Nur wenn sie gemeinsam trainierten, zeigte sie sich ohne. Vielleicht, weil sie sich mit einem Schwert in der Hand sicher genug fühlte? »Die Hybriden haben dieselben Rechte wie jedes andere Volk.«
»Das sind Dinge, die Ihr nicht versteht«, knurrte Dougal und sein Rubinblick taxierte Mile. »Der Konflikt mit den Hybriden reicht bis zu Zeiten der ersten Sonne zurück. Ihr seid zu emotional, Ihr müsst-«
Mile fuhr von seinem Stuhl hoch. »Ich lasse mir nichts vorschreiben von einem ...« ›... Verräter!‹ Das letzte Wort verklang in seinen Gedanken und der Geist grinste wissend. Mile spürte, wie seine Knie sich bogen und er steif auf seinen Stuhl gesetzt wurde. Erneut war er die Marionette Dougals geworden.
»Genug mit dem Gezanke«, seufze Drosselbart. »Ich muss euch allen Recht geben. Dieser Konflikt lässt sich nicht so einfach aus der Welt schaffen, doch ich sehe auch nicht ein, wie Red Farkash daran etwas ändern würde. Sie mag in vieler Augen Kontroversitäten schaffen, doch sie zu verleugnen, würde die Dinge auch nicht nachhaltig verändern.« Er hob sich seine Krone vom Kopf und legte sie auf den runden Tisch. Das Licht der Wyrselsteine, das durch die Fensterscharten in den Raum fiel, brach sich in den Kristallen, die in das Gold eingesetzt waren und verteilte bunte Lichtspiele über das Holz. »Ich schlage vor, wir vertagen diese Sitzung bis auf weiteres. Ohne die Anwesenheit Königin Amiéles können wir ohnehin nicht weitermachen.«

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt