Kapitel 9 - Der Sommermacher

2.3K 104 392
                                    


Kapitel 9

Der Sommermacher


~Mile~
6. Cecily 80'024 ☼IV – Delánsee, Turdidae, Twos

»Steh auf!« Mile packte seine Schwester an den Schultern und zog sie auf die Beine. Beim Anblick des Drachen war sie zur glotzenden Salzsäule erstarrt und er musste zugeben; zuerst war es ihm genauso ergangen. Nun hatte er sich aber wieder besonnen und ohne das Ungeheuer, das in Schräglage dicht über dem Eis seine Kreise um sie zog, aus den Augen zu lassen, lotste er Sabrina über das Packeis hinter sich her, bis er an Reds Seite war.
Die rote Kriegerin hatte ihre Armbrust gesenkt. Auch sie starrte den Drachen an, jedoch nicht überraschte oder ängstliche; sie wirkte nur sehr zornig...
»Wir müssen hier weg!«, versuchte Mile, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und als sie nicht reagierte, rüttelte er ihre von Blut und Tran bedeckten Schultern. Dieser Kampf war nicht so sauber über die Bühne gelaufen, wie der Hinterhalt, der die ganzen Grauen im Ertrunkenen Wald das Leben gekostet hatte.
Seine Bemühungen blieben erfolglos und frustriert liess Mile die Hände sinken. Als er hinter sich Hänsel »Warst du das?« schimpfen hörte, wandte er um.
Die Björkson-Zwillinge stapften in ihre Richtung, der Hüne den verwundeten Oskar durch den Schnee zerrend, seine Schwester die eingewickelte Kinderleiche tragend.
»Jemand musste ja vernünftig sein!«, antwortete Gretel ihrem narbigen Bruder auf seine Frage und warf Pinocchios Kadaver achtlos in den Schnee vor Miles Füsse.
»Du warst das?!« Auf einmal kam wieder Leben in die Rote und richtete ihre Wut gegen die Monsterschlächterin. »Meine Befehle waren ausdrücklich, den Rat nicht zu informieren!«
Da Red nun wieder Teil des Weltgeschehens geworden war, verlor Mile keine Zeit. Wie ein Kind zupfte er an ihrem durchweichten Ärmel und deutete auf das riesige Monster, das noch immer das kleinere Monster in den Fängen hatte. »Da ist ein Drache!«, rief er, doch niemand nahm Notiz von ihm.
»Dann steht eine einfache Kommandantin neuerdings über dem Willen der Herrscher der Harmonie?« Gretel grinste so breit, dass sie dabei einen Silberzahn entblösste, der Mile zuvor nicht aufgefallen war. Sie nickte in Sabrinas Richtung. »Ich half nur Ihrer Majestät, sich durchzusetzen.«
»Drache!«, wiederholte Mile, der einfach nicht fassen konnte, wie wenig die Tatsache, dass eine geflügelte und wahrscheinlich feuerspuckende Riesenechse sie umkreiste, seine Mitstreiter zu jucken schien. »Da ist ein riesiger Drache, der uns fressen wird!«
Tatsächlich mass der grün geschuppte Riese vom Nasenhorn bis zur Schwanzspitze rund sechs Meter, was die Spannweite seiner Flügel sogar noch übertraf, das schätzte Mile jedenfalls auf die Entfernung. Der Kopf sass auf einem langen Hals, die vier Beine waren im Flug an den kräftigen, aber schlanken Rumpf angezogen. - Der Anblick dieses gestaltgewordenen Mythos'; ein Drachen, der so nah über dem Eis flog, dass er den Pulverschnee aufwirbelte; war atemberaubend. Und furchteinflössend.
»Nur die Ruhe, Mylord«, versuchte Hänsel Mile zu beschwichtigen. »Niemand wird-«
Auf einmal brach der Drache aus seinem Kreisen aus. Mit weit ausgebreiteten Schwingen segelte es aus seiner Schräglage und glitt auf sie zu.
»Er kommt!«, brüllte Mile und taumelte rückwärts, wobei er das Gleichgewicht verlor und in den Schnee fiel.
Der Drache setzte vorsichtig auf dem Eis auf, ganz sanft, damit es nicht brach. Der Untergrund gab ein Knirschen und Knacken von sich, doch er hielt. Etwa zweihundert Meter von ihnen entfernt kam der Drache zum Stehen und begann, den Akhlut zu verspeisen.
»Jetzt beruhige dich, der Drache wird uns nichts tun!« Red zog ihn auf die Füsse und legte ihm beruhigend die Hände auf die Schultern. »Niemandem wird etwas passieren.« Sie deutete auf das Ungeheuer. »Siehst du diesen Kasten, der an den Bauch geschnallt ist und das Wappen darauf? Das ist eine Gondel. Der Rat hat ihn geschickt.«
»D-der Rat?«, wiederholte Mile verwirrt. Er besah sich den Drachen genauer und nun erkannte auch er den in der Farbe des Schnees getarnten Kasten, der mit lächerlich kleinen Fenstern ausgestattet war. An ledernen Riemen war er um Bauch und Brust des Drachen gezurrt. Eine Gondel. Die war ihm in seiner Panik gar nicht aufgefallen ...
Die Rote nickte, als sie sicher zu sein schien, dass er nicht weiter durchdrehen würde und liess von ihm ab. Nun richtete sie anklagend den Finger auf Gretel. »Du hast meine Befehle missachtet!« Und mit einem Blick in Sabrinas Richtung fügte sie hinzu: »Und ich nehme an, Goldhaar hat dir dabei geholfen. Ich kenne keinen Wilden, der schreiben kann ...«
»Ich bin keine Wilde!«, fauchte Gretel und drohte ihr mit der Faust.
»Das reicht jetzt!« Hänsel liess den fiebrig schlafenden Wolf ächzend vor sich auf dem Boden liegen und baute sich zu seiner vollen Grösse auf. Eine Hand in die Hüfte gestemmt, mit der anderen auf den Drachen deutend, donnerte er: »Ja, Gretel hat deinen Befehl missachtet und vermutlich hat Sabrina ihr dabei geholfen. Aber hätten sie es nicht getan, würden wir noch immer gegen den Akhlut kämpfen. Und vermutlich wären wir alle dabei draufgegangen.«
Bevor einer der Streithähne ihm widersprechen oder den anderen weiter provozieren konnte, meldete sich auf einmal Sabrina zu Wort: »Da ist einer...«
Überrascht drehten sie sich zu ihr um und folgten ihrem Blick auf das Eis.
Während der Drache damit beschäftigt war, den Akhlut häppchenweise runterzuschlingen, war hundert Meter vor ihm eine menschliche Gestalt zu erkennen, kaum mehr als ein schwarzer Punkt in all dem Weiss.
»Das ist der Draconaut«, erklärte Red und ihre Stimme war noch immer rau vor Ärger.
Mile brauchte einen Moment, dann fragte er: »Der ... Pilot?« Ungläubig beäugte er den Fremden, der sich schnellen Schrittes näherte. »Des ... Drachen?«
Die Rote nickte. »Wird ein Lamier sein, der von den Rastaban verstossen oder freiwillig gegangen ist.« Als sie sein verständnisloses Gesicht sah, erklärte sie: » Lamier sind Verstossene ihres Volkes, den Rastaban. Viele von denen haben sich der Schwarzen Armee angeschlossen.«
»Herrje, du bist nicht auf dem neusten Stand, Kommandantin«, unterbrach Gretel sie. »Nun gut, hast dich ja auch im Wald versteckt. Wobei die Neuigkeit sogar bis zu uns in die Kerker gedrungen ist! Erst hielten es alle für ein Gerücht, doch es ist wahr! Rastaban hat sich vor eineinhalb Jahren den Rebellen angeschlossen!«
Nun wurden Reds Silberaugen gross. »Die gesamte Flotte der Kiter?«
Die Guerraeli zuckte mit den Schultern. »Angeblich.«
»Wie kann das sein? General Siegfried hatte doch so auf die Neutralität seiner Insel bestanden! Was hat seine Einstellung geändert?«, wollte sie wissen, während sie sich zu Oskar hinabbeugte, um seine Verfassung zu prüfen.
»Der Tod«, antwortete Hänsel nüchtern. »Angeblich ein Herzinfarkt. Der neue Heerführer auf der Insel der Drachen wird ›der Geschuppte Graf‹ genannt. Scheinbar kam er nur einen Tag nach dem Tod General Siegfrieds an die Macht. Woher dieser Graf kommt und wie er es auf den Goldthron von Etamin geschafft hat, weiss keiner.«
»Die Rastaban waren schon immer eine verschlossene Gesellschaft«, schnaubte Red und liess von ihrem Wolf ab, um sich dem Draconauten zuzuwenden.
Dieser hatte die Hälfte des Weges bereits hinter sich gebracht und war nahe genug, dass Mile ihn einer Musterung unterziehen konnte.
Das erste, was ihm ins Auge fiel, war seine Waffe. Ein langer Speer mit schwarzem Schaft, an dessen beiden Enden je eine goldene, blattförmige Klinge und seitlich davon ein Haken befestigt waren. Mit jedem Schritt stach er die Waffe in den Schnee, um seinen Gang zu festigen. Auch wenn der Draconaut gross und atlethisch war, wirkte er zierlich für einen Soldaten - jedenfalls soweit Mile das beurteilen konnte. Vielleicht war es auch nur die Art, wie er sich bewegte: Sein Schritt war trotz des hohen Schnees leichtfüssig, sein Gang beinahe tänzerisch und trotz der vielen metallenen Schnallen und Kappen an seiner schwarzen Lederrüstung, bewegte er sich beinahe lautlos.
Als ihn keine fünf Meter mehr von ihrer Gruppe trennte, blieb er stehen. Seine Nasenspitze dippte fast in den Schnee, so tief verbeugte er sich. »Kru i'zric, wra faturai aturi remas voy«, sagte er feierlich in einer fremden Sprache, während er sich wieder aufrichte und beide Hände über Kreuz an die Brust hob.
»Beschissene Fatuiten und ihre ewigen Förmlichkei-«, zischte Gretel, bis sie ein Knuff Hänsels verstummen liess.
»Die Freude ist ganz unsererseits«, übertönte der Hüne seine Schwester schnell und verbeugte sich, was bei seiner Grösse und Masse beinahe lächerlich wirkte.
Red trat vor, doch sie verzichtete auf eine Begrüssung und kam lieber gleich zur Sache: »Die Feder mag gebrochen sein ...«
Der Mann, der höchstens fünf Jahre Älter als er sein konnte, nickte und machte ein ernstes Gesicht. »... doch an den Raben wird erinnert.« Trotz seines nicht einzuordnenden Akzents war jedes Wort klar verständlich. Der Draconaut musterte sie alle, sein Blick blieb etwas länger an den Geschwister Beltran hängen, doch schliesslich blieb er auf dem verletzten Oskar ruhen. »Ist das ein Animanor? Ich wusste nur von fünf Passagieren. Wenn wir ihn mitnehmen, müssen mindestens zwei zu mir auf den Sattel steigen.«
»Er ist kein Animanor, doch wir werden ihn trotzdem mitnehmen«, bestimmte Red und ihr Ton stellte klar, dass sie keine Widerrede duldete. Sie zeigte auf Pinocchios eingewickelten Körper. »Und den Toten auch.«
Der junge Mann neigte den Kopf zum Zeichen, dagegen nichts einzuwenden zu haben.
Die Rote wandte sich an die Björkson-Zwillinge: »Ihr beiden sammelt die übrigen Flaschen Tintenblut ein. Wir haben sie bis hierher geschleppt, jetzt können wir sie auch noch nach Turdus bringen.«
Gretel seufzte theatralisch, doch Hänsel machte sich ohne zu murren ans Werk und zog seine giftige Schwester mit sich.
»Und wenn ihr dabei meinen Umhang findet, bringt ihn mir bitte mit!«, rief die Rote ihnen nach und als sie an den Beltrans und dem Fremden vorbeistapfte, hörte Mile sie murren: »Das ist verdammter apiumischer Samt.«

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now