Kapitel 37 - Phönix

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Kapitel 37

Phönix


~Mile~
3. Junaid 80'024 ☼IV – Tempus, Wiege der Welt, Twos

Alles ging so schnell, dass er erst begriff, als er sich bereits im freien Fall befand.
Mile schrie, ruderte mit den Armen. Die schimmernde Fassade des Sommerturms stürzte gefährlich nah an ihnen vorbei.
Der Nebel hatte sich verzogen, doch die Sicht war noch immer stark beschränkt. Tempus brannte und Asche und Staub verschmutzten die Luft. Dennoch war sie klar genug, um die Oberfläche des Wassergrabens zu erkennen, der rasend auf die Fallenden zuschnellte. Schwarzes, schmutziges Wasser, das bei einem Sturz aus dieser Höhe zu Beton werden würde ...
Hänsel, der ihn fest umklammert hielt, brüllte irgendetwas, doch der Wind riss ihm die Worte von den Lippen. »... dich halten ... der ... Zauber ... eine Chance... Körper ...«
Mile schüttelte den Kopf, er verstand kein Wort. Der Druck auf seinen Ohren wurde immer schlimmer ... Hänsel grub eine seiner Hände in Miles Haare und drückte seinen Rotschopf auf seine Schulter. Der heisse Atem des Dämonenschlächters blies ihm ins Ohr, als dieser ihm zuraunte: »Kümmere dich um meine und Gretels Leiche!« Eine Bitte, wahnwitzig, stürzten sie denn nicht beide? »Gib nicht auf!«
Hänsel drehte sich auf den Rücken, presste Mile an sich, zischte er irgendwas, fremdartige Worte ...
Dann schlugen sie auf und Hänsel brach. Er knackte, er quetschte und er riss ...

Schwarzes Wasser.
Der Guerraeli zertrümmert und Mile... lebte!
Trotz Hänsels Opfer war der Aufschlag hart gewesen und hatte Mile den Atem aus der Lunge gequetscht. Sein erster Impuls war, nach Luft zu ringen, doch da setzte sein Instinkt ein und Mile besann sich auf die dunkle Brühe um ihn herum.
Es war bei weitem nicht so kalt wie damals, als sie in den zugefrorenen Delánsee gefallen waren, dennoch sah Mile auf einmal wieder den absinkenden Käfig vor sich und hielt die näher kommende Gestalt für seine Schwester, die wie er an die Wasseroberfläche schwimmen wollte ...
Doch Sabrina war nicht hier.
Plötzlich wurde die Erscheinung im trüben Wasser klarer und Mile erkannte Hänsel, der wie ein Stein ins Dunkel abzusinken drohte. ›Konzentrier dich!‹, wies er sich zurecht, während er seinen toten Freund packte und begann, mit der letzten Kraft, die die Verzweiflung aus ihm wringen konnte, nach oben zu schwimmen.
Hänsel war schwer. So schwer, dass er ihn mit sich in die Tiefe zog, doch Mile dachte nicht daran, ihn zurückzulassen, egal wie schlimm es wurde. Seine Lunge schmerzte bereits wie die Hölle, sein Körper schrie nach Sauerstoff. Immer panischer drückte er das Wasser mit Tritten und Schlägen nach unten. Nein, er durfte Hänsel nicht im Stich lassen, er hatte ihn doch darum gebeten!
Seine Finger streiften etwas. Glatt, schmierig, schuppig ... Als es ihn erneut berührte, diesmal am Kinn, war er sich sicher, dass er Gesellschaft hatte. Und dieser war er blind ausgeliefert.
In der Hoffnung, so wenigstens ein bisschen Licht zu erzeugen, liess er Hitze in seine freie Hand fahren, bis diese zu Glühen begann. Und als er sah, vergass er den Schmerz ...
Vor ihm schwebte das ebenmässige Gesicht einer Frau. Sie war sehr jung, doch ihr Haar war so weiss wie das einer alten Frau. Sie war blass, selbst die Lippen waren farblos. Die Nase war klein und spitz, was die runden Fischaugen unproportional gross wirken liess. Als sie den Kopf neugierig schräglegte, sah Mile, dass ihre Ohren kleinen Flossen ähnelten.
Eine Meerjungfrau?
Das Wesen streckte seine blasse Hand nach ihm aus und nun fiel das Licht auch auf die grazilen Schultern, geschwungenen Brüste und die schmale Taille, wo die weisse, makellose Haut in silbernen Schuppen überging. Sie berührte sein Gesicht, kühle, weiche Finger strichen vorsichtig über seine pochenden Wunden, fuhren sanft über Stirn, Nase und Mund. Als sie ihm ein scheues Lächeln schenkte, konnte er nicht anders, als es zu erwidern, was ihres noch breiter werden liess ... und breiter ... bis sie grinste und Reihen um Reihen an Haifischzähnen entblösste.
Mile zuckte zurück, doch es war zu spät. Das Wesen packte ihn am Hals und drückte zu. Das Gesicht, das er zuvor als eben und schön empfunden hatte, war nun eine hässliche Fratze. Ein weit aufgerissener Schlund, stumpfe Fischaugen. - Kein Verstand, nur bestialischen Triebe ...
Mile zappelte, versuchte, sich loszureissen, doch der Griff der Bestie war wie ein Schraubstock.
Seine Hand, die zuvor ein sanftes Glühen verströmt hatte, wurde heller und heller und Mile sah, dass dieses Wesen nicht allein gekommen war. Mindestens zehn weitere zogen ihre Kreise um ihn und lachten ihre Fratzen. Und plötzlich war da auch die schreckliche Atemnot zurück, die er beim Anblick der schönen, nackten Frau ganz und gar vergessen hatte.
»Du dämlicher Bock!«, konnte er Red und Sabrina sagen hören und er musste ihnen zustimmen.
Eine der anderen Bestien löste sich aus der strudelartigen Formation und machte sich an Hänsel zu schaffen, den Mile noch immer mit der Linken umklammerte. Er sah, wie das Biest die Zähne in das Bein seines Freundes schlug. Spitz wie Nadeln bohrten sie sich durch die Lederrüstung und ein schwarzer Schweif schwebte aus der Wunde.
Das Tintenblut schien die Mordlust der Wesen ausser Kontrolle geraten zu lassen. Sie stiessen schrille, gurgelnde Schreie aus und warfen sich auf ihre Beute. Sie kratzten, rissen und bissen, was sie zu fassen bekamen und Mile wehrte sich, trat und schlug, doch im Wasser hatte er keine Chance.
Das zweite Mal in seinem Leben ertrank er. Und wie so oft rettete ihn das Feuer.
Gleissendes Licht schoss aus ihm hervor, er spürte, wie das Wasser um ihn herum zu brodeln begann und er hörte die panischen Schreie der Ungeheuer, als sie von seiner Hitze verbrüht wurden ...

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now